- Beitritt
- 15.03.2008
- Beiträge
- 858
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
als wäre er was wichtig / Orwells Alltage
So standen und saßen sie zusammengedrängt in diesem Bus, der nicht mal zur größten Fahrzeugkategorie des Fuhrparks gehörte. Der zu dieser Zeit auf dieser Linie regelmäßig Fahrgäste stehen lassen musste, weil beim besten Willen kein Platz mehr war. Orwell fuhr seit einigen Monaten mit diesem Bus der Linie 21, zuerst drei Mal, mittlerweile vier Mal die Woche. Gerade hielt der bei der Haltestelle Katzenbachstraße.
Ein dicker Junge rannte mit verkniffenem Gesicht und durch die Luft schneidenden Handkanten auf die 21 zu, sein locker eingestellter Ranzen pendelte von Seite zu Seite. Die Fahrerin sah ihn im Rückspiegel, verzog den Mund und - wartete. Der ankommende Dicke erkannte sofort, dass es keinen Platz mehr gab. Orwell sah das Pfannekuchengesicht vor Enttäuschung noch runder werden, als das dazugehörige Hirn realisierte, dass seine Playsie weitere kostbare zehn Minuten wird warten müssen. Die Großen sahen von oben herab, wie es nun mal ist, wenn sie nach unten blicken müssen, und die Fahrzeugführerin krächzte "watt denn nu?!", bevor sich die Türen schlossen. Es ging weiter.
Als er diese Strecke das erste Mal gefahren war, streng nach den Anweisungen des Verkehrsleitprogramms des öffentlichen Nahverkehrs, war er ungefähr an dieser Stelle von der zunehmend lückenhaften Bebauung alarmiert worden und hatte den Busfahrer erschrocken gefragt, ob die Reise der '21' tatsächlich zu einem Ort namens 'Stadtzentrum' führte.
Es hatte alles seine Richtigkeit: Der vorgestellte heimelige Ortskern hatte sich als ein Neubau herausgestellt, in dem eine Shopping Mall untergebracht war, die den Namen 'Stadtzentrum' trug. Dieses Stadtzentrum war umgeben von Baracken und Betonklötzen, die im Regen dunkelgraue Flecken bekamen – und hier regnete es oft; derweil war nichts in Sicht gewesen, was Orwell unter lebendiger Stadt verstehen konnte. Und das passte dann, irgendwie, zum Stadtzentrum, das keins war.
"Sie müssen hinter die Absperrung", zickte ihn die Fahrerin an.
"Da ist kein Platz", sagte Orwell.
"Das wird schon gehen", beharrte sie. Und, nach etwa zwanzig gefahrenen Metern: "Sonst gibt es Ärger mit der Polizei, wenn die sie hier vorne stehen sieht."
"Ich werde dahin gehen, aber erst beim nächsten Halt, nicht jetzt."
'Ärger mit der Polizei!', dachte Orwell. 'Fahr danieder in die Hölle schlechter Ausreden!" Als sie hielten, stieg er aus und eine Tür weiter hinten wieder ein, schaffte sich Platz in der teilnahmslos wirkenden Fahrgastschaft, die ihn vieläugig und ausdruckslos beglotzte. Als wären die Menschen Automaten, die in Bussen inaktiv sind.
"Dass die Verantwortlichen auf dieser Strecke keinen größeren Bus einsetzen! Der ist doch jedes Mal überfüllt!", rief er von hinten. Und hätte sich am liebsten im selben Moment auf die Zunge gebissen, welches aufrührerische Gen brachte ihn nur immer wieder dazu, in solchen und vergleichbaren Situationen Ärger zu machen, der verlässlich auf ihn zurückfallen und sein Leben unbequemer machen würde.
"Der ist nie so voll wie jetzt. Das ist das erste Mal", entgegnete sie, begleitet von einem Bulldoggen-Blick in den Rückspiegel. Mitte fünfzig, schätzte er. Kurzhaarschnitt mit Pony, einer der drei Frisurtypen, die zugeknöpfte Alte kriegen, wenn sie beim Friseur 'was Flottes' bestellen. Eine nichtssagende runde Brille, ein vielsagender Mund, der gerade jetzt ausdrucksvoll schwieg; sie schien einen unerfreulichen Gedanken zu haben, die Busfahrerin kniff die ohnehin schmalen Lippen noch enger zusammen, was das Netz aus Falten vertiefte, die wie stilisierte Sonnenstrahlen von ihrem Mund abgingen.
Diese Dame ist vor Zeiten auf dem Jahrmarkt der Preußischen Tugenden mit kostenloser Schlechter Laune ausgestattet worden und blieb seitdem ihrem Stil treu. So leben die meisten Leute: ein, zwei gute Jahre und dazwischen nichts als kleinkarierte Schlechtgelauntheit. 'Bürgerliche', dachte Orwell, mit der gleichen verächtlichen Arroganz, wie sie eine höherentwickelte, auf Silizium beruhende Lebensform, die Mario Barths nicht mehr witzig findet, für terranische Stoffwechsler empfinden könnte.
Bei der Haltestelle 'Stadtzentrum' stieg er aus, und machte sich schlechtgelaunt auf dem Weg zu seinem neuen Job. Er verdiente zu wenig, hatte einen zu weiten Arbeitsweg, mochte die meisten Kollegen nicht und sein Betätigungsfeld beschränkte sich aufs Abkassieren.
Er hatte den Fehler gemacht, den Jungspund Mario darauf aufmerksam zu machen, dass neun von zehn Sprüchen, mit denen er die jungen Aushilfen /-innen und Orwell zu beeindrucken versuchte, aus einer Fernsehserie namens 'Breaking Bad' stammten. Anstatt dass er beschämt die Klappe hielt, freute sich der geistlose Kopist, mit jemandem diese Medienerfahrungen teilen zu können. Das war nicht ganz, worauf Orwell spekuliert hatte.
"Das wär doch total geil, eine Unze von diesem Zeug und du kannst von morgens bis abends eine nach der anderen ziehen!" Ein Hippie-Mädchen, das als Einpackhilfe in der Weihnachtszeit angestellt worden war und aufgrund ihrer 'Umgänglichkeit' hatte bleiben können, kicherte. "Kannst du dir das eigentlich vorstellen?", fragte der Jungspund.
"Ja", sagte Orwell. "Klingt furchtbar langweilig." Zwei irritierte Gesichter vermittelten ihm das Gefühl, er hätte eben etwas Verstörendes gesagt. "Und wie Jesse das Lösungsmittel in die Badewanne gekippt hat und die ganze Suppe eine Etage tiefer klatschte!" Mario sah ihn erwartungsvoll an. "Weißt du noch, was Walter dann gesagt hat? Na?"
'ADHS', dachte Orwell. Das war kein gutes Zeichen, wenn er anfing, die Verhaltensmuster seines Umfeldes in Krankheitsbilder zu übersetzen. "Ich werde mit dir nicht die Szenen einer Serie nachsprechen, das habe ich dir bereits gesagt. Vergiss es."
Oberflächenwesen waren das, beide, schillernd und schmierig zugleich, wie Ölpfützen. Solche Gutfinder und Mitmacher werden ihn ersetzen, da ist er sicher. Wie die Filialunternehmen nach und nach Inhabergeführte Buchhandlungen ersetzen; wie Amazon und ein paar große konzerngelenkte Verlage dabei sind, die Vielfalt deutschsprachiger Verlagslandschaft zu verdrängen; wie der allzu glatte und nach Plastik riechende Reader die haptisch und olfaktorisch anschiegsamen Printerzeugnisse überflüssig machen soll. Orwell war einer von vielen, der das sah, und er gehörte ebenfalls zu der Gruppe der Mahner und Warner. Wider die Vernichtung organisch gewachsener Kulturlandschaft! Und wer da alles mitheulte.
Natürlich interessierte Orwells Beitrag keinen. Was ihn allerdings nur motivierte, sich stärker zu engagieren. Schwarzseherei und Untergangsprophetie waren genau seine Sache, was Orwell dafür prädestinierte, tatsächlich und als erster unterzugehen, zumindest im Kaufmannsladen, wo es eher nicht um die ganz großen Themen ging, vor allem nicht für ihn.
Seine Chefin hatte auf seine Bitte nach etwas Abwechslung reagiert. Heute durfte Orwell, dessen Kürzel - mit dem er sich in den Kassencomputer einwählen musste, damit man die einzelnen Vorgänge den verschiedenen Kassenknechten zuordnen konnte - OTZ lautete, dabei helfen, die Inventur vorzubereiten. Die hat mich also auf dem Kieker, dachte er. Und verschwieg, wie gerne er Sachen zählte.
Nach zweieinhalb Stunden Zählen fühlte er sich recht erschöpft. Orwell hielt trotzdem noch eine Stunde durch, ohne Klage!, bevor er die magnetische Plakette mit dem Namensschild an seinen Spind heftete, Mantel und Mütze nahm, und gehen wollte.
Doch ein Gespräch aufgeregter Buchhändlerinnen ließ ihn innehalten. Sie beschnatterten die morgige Inventur und berieten sich, wie den platten Scherzen, dumpfen Anmachen und vor allem dem fachlichen Dreinreden des berüchtigten Assistenten der Geschäftsführung, His Nerdness Lord Faak, am besten zu begegnen wäre.
Orwell registrierte das Maß der Aufregung und spürte erwachende Neugier auf den Prokuristen des mittelständischen Unternehmens, in dessen Filiale er seit kurzem sein Arbeits-Dasein fristete. Der Faak war nach den Eigentümern die höchste Nummer im Laden.
'Kleinheit', beschwor er sich. 'Ausnahmsweise Schnauze halten, den Kelch weiterziehen lassen.' Orwell grüßte die Buchhändlerinnen zum Abschied - die erschrocken zu reden aufhörten, liebenswert unverstellte Geschöpfe, die sie waren – und verließ den Laden, das Stadtzentrum und die Arbeitswelt. Dabei erwog Orwell ernsthaft, ein paar beschwingte Schritte zu machen. Am nächsten Tag war er freigestellt, damit er für die anschließende Inventurnacht fit wäre.
Für den Rückweg wählte er eine andere Buslinie, die eine Haltestelle in der Nähe von Angelas Wohnung anfuhr; dort stieg er aus. Auf dem Weg zu ihr kaufte er ein. Sie hatte sich etwas Frisches gewünscht, damit meinte sie Obst oder Gemüse - er tat ihr den Gefallen.
Nach Hause kommen. Orwell hatte sich seit langem nach Normalität gesehnt: ein Zuhause, eine Frau, die den Haushalt machte und abends mit dem Essen wartete, das sie gegebenenfalls ohne zu Murren aufwärmte, wenn es 'mal später' wurde. Selbstredend durfte sie eine moderne Frau sein, die ihr eigenes Geld nach Hause brachte, sich flott anzog und der man beim Blasen ruhig anmerken sollte, dass sie ein bisschen was von der Welt gesehen hatte. Ja, Orwell seufzte leise, etwas aufgeklärte Normalität, endlich.
Sie begrüßte ihn mit einem Kuss und hängte eine Blumengirlande um seinen Hals, aus dem Wohnzimmer hörte er 'Sex Machine'. "Hallo Ang..." Da küsste sie ihn schon wieder, lang und zärtlich, umspielte mit ihrer Zunge seine Lippen, bis er sich, etwas unwillig, löste und anmerkte, dass seine Füße weiterhin beschuht seien.
Sie bückte sich, ja!, öffnete die Schuhe, schubste ihn spielerisch auf den Flurstuhl, dann zog sie die Lederlatschen energisch über seinen hohen Spann. Als Angela seine Nikes (Airmax) beiseite gestellt hatte, luscherte sie in seinen Einkaufsbeutel – zwei TK-Pizzen. "Ich wollte doch was Frisches!", schmollte sie.
Orwell suchte in seiner Jacke und holte eine Tomate aus der Innentasche, sie war prall und glänzte. "Bio." Sie verzog das Gesicht, auf eine ganz eigentümliche Weise, die Orwell an eine glückliche Mutter erinnerte, die versuchte, streng zu ihrem heißgeliebten Kind zu sein. Er zwickte sie in die Wange und nickte lächelnd in Großvatermanier. "Macht ja nichts", sagte sie, nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Wohnzimmer.
Vor dem Massagesessel dampfte ein Fußbad. Orwell erlaubte, dass sie seine restliche Kleidung auszog, setzte sich nackt in den Sessel, fuhr den Sitz nach hinten und stellte 'Wellenmassage / Rücken, Gesäß' ein. Als er die Augen schloss und endlich, endlich seinen wohlverdienten Feierabend zu genießen begann, spürte er wie von Ferne Angelas so sanfte und doch starke Hände, die seine müden Glieder mit ätherischen Ölen einrieben und seine Füße, nachdem sie sie aus dem Wasser gehoben hatte, voller Liebe mit ihrem Haar abtrocknete, das sie ausschließlich mit Kiefern-Spülung wusch, weil Orwell Kiefer so gern roch.
"Warum können wir nicht einfach wie ein ganz normales Pärchen sein ... ein bisschen streiten, wenn ich nach Hause komme, uns wieder vertragen, Pizza essen und ein Bier trinken und danach irgend eine Sendung sehen ... so machen das doch die anderen Bürgerlichen auch, warum vergötterst du mich so?"
"Willst du denn, dass wir so ein Leben führen?", fragte sie.
"Natürlich", sagte er. "Wieso sollte ich sonst eine Frau abgeschleppt haben, die Angela heißt?"
"Wir können das auch anders machen, wenn du willst."
"Nein, nein. Ich bin da modern eingestellt, es muss nicht alles nach dem Mann gehen, sollst du deinen Willen haben ..."
"Gefällt es dir denn, Orwell?"
"Ich lasse es dich schon merken, wenn etwas nicht in Ordnung ist."
Figgn und Aasch
Schreibtisch und Rückenlehne des Sessels hatten sie schon durch, jetzt war die Waschmaschine dran. Orwell trug Angela, die sich in seinen Nacken verbissen hatte, in Richtung Badezimmer. 'Zwei Jahre noch', dachte er, 'dann bin ich dreißig und dann ist Schluss mit dieser Turnerei!'
"Wir haben ein Sexleben, was?", fragte Orwell, während er sie auf die Waschmaschine hievte. Sie nickte. "Wie oft bist du schon gekommen?"
"Weiß ich gar nicht mehr", behauptete sie. "Es ist so schön!"
"Du musst schon mitzählen. Was soll ich sonst notieren?"
'Dann gibts Missionarsstellung und fertig', dachte er sehnsüchtig.
"Notieren?"
"Klar", sagte er.
Sie sah ihn entgeistert an.
"Passt dir das nicht oder was ist jetzt los?"
"Doch, doch", sagte sie und stöhnte, als er sich, stirnrunzelnd aber schwungvoll, wieder der Kopulation widmete.
Drei, vier Stöße später umfasste er ihren Arsch und hob sie mit einem Ruck von der Maschine - beide hörten es knacken, "Nichts passiert!", presste Orwell hervor, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. "Lass mich runter!", rief Angela.
"Nichts da! Alles in Ordnung, wir machen im Schlafzimmer weiter! Alles in bester Ordnung! Wir haben ein Sexleben, was?"
Schritt um Schritt kämpfte sich Orwell zum Schlafzimmer, mittendrin spürte sie 'IHN' aus sich herausflutschen. Orwell schwankte wie ein trunkener Belagerungsturm und Angela befürchtete, dass beide umkippen werden, aber es passierte nichts, außer dass er sie und sich irgendwann ins Schlafzimmer schleppte, wo beide aufs Bett fielen, er obenauf liegend; lange Sekunden gelang ihm nichts, außer Atmen.
"Das tut weh", sagte sie.
"Nein, alles in Ordnung. Es ist nichts."
"Nein, mir tut es weh, wenn du so auf mir liegst."
"Halt das bitte aus jetzt, ich brauch mal nen Moment."
ernste Worte
"Du arbeitest zu viel", sagte sie. "Ist ja klar, dass das irgendwann auf die Knochen geht."
"Meinst du?"
"Frag die Chefin doch, ob du zweistündige Schichten machen kannst. Das mit dreieinhalb geht einfach nicht."
"Ich weiß nicht, meinst du wirklich, das liegt an der Arbeit?"
"Sonst frage ich sie. Ich lass mir doch meinen Mann nicht kaputtmachen!"
"Nein, nein ...", Orwell produzierte ein verkrampftes Lächeln, "... dreieinhalb Stunden, das ist fast nichts!"
"Spiel das jetzt nicht runter!"
"Weißt du, Angela, wie gerne würde ich alles hinschmeißen und einfach tun, wonach mir der Sinn steht. Aber ich kann nicht einfach tun, als wäre ich nicht vertraglich gebunden. Obwohl der Vertrag in diese tragische siebzehneinhalb-Stunden-Woche führte – wo kämen wir denn hin, wenn der kleine Mann nicht mehr die Verträge buchstabengetreu einhielte, in die man ihn mittelbar zwingt? Da habe ich meinen Mann zu stehen, wie der Held, als der ich geboren wurde."
"Wieso siebzehneinhalb?! Arbeitest du denn jetzt vier Tage?!!!!???"
"Ach, Schatz – ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber vielleicht ist es besser, wenn du es weißt. Wir führen ja eine moderne Beziehung - ich will dir nichts verheimlichen, auch wenn es mein Herz beschwert, zu sehen, wie du dein Herz beschwerst. Mach dir bitte keine Sorgen, es wird schon gehen, irgendwie ..."
"Und was wird mit mir, wenn du nicht mehr bist?" Angela presste das Gesicht ins Kissen, um ihr Schluchzen zu ersticken. "Denk doch auch mal an mich! Du weißt genau, ich verdiene genug für uns beide. Du könntest den Haushalt füh..."
"Auf keinen Fall! Ich putz doch nicht die Wäsche, das ist Weiberarbeit!"
"Vielleicht ... vielleicht könntest du die Haushaltshilfe beaufsichtigen?"
Orwell überlegte. "Ja, das ginge eventuell. Das Personal macht sonst, was es will."
"Na also, siehst du. Genug Geld ist ja da und für dich finden wir eine würdige Beschäftigung."
Damit hatte das Gespräch einen toten Punkt erreicht. Sie schwiegen eine Weile und hingen den Gedanken an möglichen Zukünften nach. Angela wollte ihrem Herrn Trotzli, wie sie ihn bisweilen neckisch nannte, die Vorstellung einer Heimchen-Existenz ein bisschen erleichtern, aber gerade als sie ihre Zunge in sein Ohr stecken wollte, stellte Angela fest, dass Orwells Kopf zur Seite gerutscht war, weil er schlief.
'Dann sorgen wir mal für süße Träume', dachte sie, erfreut, dass sie Herrn Trotzli etwas Gutes tun konnte, und forschte mit ihrer Hand unter der Bettdecke nach seinem Geschlecht, massierte es so eifrig wie zärtlich und saß schon auf seinem Schwengel, als Orwell, dem zeitgleich zu träumen begann, er schwimme durch ein organisches Meer auf einem fremden Planeten, durch eine geheimnisvoll intelligente und zärtliche Materie, die sein Ding liebkoste, wach wurde. Und ein etwas verlegen wirkendes Augenpaar erblickte, ein von Schalk und körperlicher Betätigung ganz rotwangiges Gesicht, gerahmt von wilden Strähnen. "Nimmersattes Weib!", rief er.
Angela lachte mit einem hexenhaften Lachen ihre kleinmädchenhafte Scham hinfort und griff sich mit beiden Händen zugleich wild in das Haar, während sie ihre Kiste auf seinem Penis bewegte wie ein, also in rhythmischem Kreisen. Ihre großen und doch prallen Brüste, die mit eins-A-Silikon gefüllt waren, reckten sich keck nach oben.
Nach dem Sex: Beide liegen heftig keuchend auf dem Rücken. "Ein Pferd – ein Königreich für ein Pferd!", rief Orwell.
Angela: "ha
haha
ha! hahaha!
versteh ich nicht."
"War ein Zitat."
"Ach so."
"Sag mal, das ist doch ein völlig hirnloses Klischee, oder, dass es beim Sex nur auf die Länge des männlichen Geschlechtsteils ankommt?", fragte er.
"mmhmmm, ja, stimmt, das ist ein Klischee."
Orwell streichelte sanft ihre Wange, "ich hab dich lieb, du!"
"Aber wichtig ist das natürlich trotzdem."
"Ja, aha." Orwell hörte mit dem Streicheln auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, kaute auf einem imaginären Grashalm und besah einen imaginären Sternenhimmel. Hätte er einen zweiten Mund, pfiffe er unverfänglich. "Ihr Frauen seid echt so drauf, oder? Das ganze Gelaber ist nur Tarnung. Wenn man euch entspannt nach dem Vögeln erwischt und die richtige Frage stellt, wenn ihr mal nicht in Harnisch seid, kommt die nackte Wahrheit zum Ausdruck."
"Na, na", sagte sie. "Ruhig, Kleiner - es zählen auch noch andere Werte."
Orwell richtete sich wieder auf und sah sie mit dem erwartungsvollen, zutraulichen Blick eines Welpen an. "Die da sind?"
Angela tat, als überlegte sie. "Na ... Umfang und Technik."
"Ach", sagte er. "Soso, und ...?"
"Und was?"
"Na, bin ich ... äh ... ausreichend?"
Angela seufzte, zeigte auf einen blinkenden Satelliten am imaginären Himmel und fragte, ob der eine Sternschnuppe sei.
"Ja, du kannst dir was wünschen!"
"Brauch ich nicht", sagte sie. "Hab doch alles." Sie streichelte seine Wange, bis sie eingeschlafen war, was nicht sehr lang dauerte.
Orwell hingegen lag noch lange wach, versuchte Angela zu ergründen, ihre unergründliche Antwort auf seine dumme und plumpe Frage – warum hat sie nicht einfach etwas elegantes und harmloses, beruhigendes antworten können? Er zählte die Sterne, bezeichnete eine bestimmte Menge Sterne jeweils als Haufen, addierte dann die Haufen, bis er einen Klops hatte, ja, einen Sternenhaufenklops! aber all das Gezähle konnte ihn nur bedingt ablenken, denn er befingerte permanent seinen Penis (Schicksal) und haderte mit dem Gegebenen und versuchte angestrengt, von dieser etwas albern anmutenden Maßnahme abzusehen und seine Überlegungen zu transzendieren. Nach zwei Stunden Wachliegen die Quintessenz seiner Wandergedanken: Frauen sind Verführung und Geheimnis, mein Penis ist schön, stark und tapfer, morgen werden Bücher gezählt.
Nächste Haltestelle: "Stadtzentrum". Die Busfahrerin mit der flotten Frisur fuhr den Bus so schwungvoll in die Kurve, dass Orwell umgefallen wäre, wenn ihn die hinter ihm stehende Alte nicht gestützt hätte. "Sie müssen die Füße so stellen und den Schwerpunkt weiter nach unten verlagern, wenn sie sich nicht festhalten können", sagte die höchstens fünfundneunzigjährige Hochbetagte und lächelte aufmunternd.
Orwell fühlte sich an eine Situation im echten Winter letztes Jahr erinnert, als er vor der Kunsthalle stürzte und eine noch ältere Frau ihm geraten hatte, Spikes zu tragen. Er hatte gehofft, dass ihm eine ähnliche Erfahrung in diesem Pussy-Winter erspart bliebe. Es war demütigend.
"Müssen se hier nicht raus?", krächzte die Busfahrerin, "hier iss Stadtzentrum!" Orwell griff sich dankend und grüßend zugleich an die Mütze, nickte knapp und drängte sich durch die passive Fahrgastgesellschaft, von denen man kaum glauben konnte, dass sie Teil einer Schwarmintelligenz sein sollte.
Er war anders, Orwell war so voller Gedanken, dass er auch in Bussen intelligent aussah, da war er sicher, er wäre sicher auch nicht hingefallen, wenn die Alte nicht eingegriffen hätte; im letzten Augenblick gefangen hätte er sich, ganz sicher, wenn er den aktuellen Gedanken zuende gedacht hatte, wie ein echter Krieger-Philosoph eben.