Mitglied
- Beitritt
- 01.08.2015
- Beiträge
- 1
Als nichts mehr da war
Alles grau. Alles kahl. Alles leer. Alles kalt. Alles weg. So stehe ich hier. Verloren. Keiner da. „Nein, nein gehe weg!“, schreie ich. Gehe! Nein, nicht daran denken, nicht daran denken. Wasserstoff, Lithium, Natrium,… Kalium, Rubidium, Cäsium, Franzium. Alles ist ok. Einfach weiter. Immer weiter. Beryllium, Magnesium, Kalzium. Ein Fuß vor den anderen. Strontium, Barium, Radium. Alles ok, alles gut. Lächeln.
Benommen setze ich einen Fuß, vor den anderen, ohne wirklich auf den Weg zu achten. Meine Füße tragen sich fast von selbst zu meinem Ziel. Die Schule. Welch eine Freude. Ich ziehe mir meine Kapuze über den Kopf und stampfe mit gesenktem Kopf durch den Regen, in der Hoffnung es möge mich keiner ansprechen. Diese Leere. Alles zerstört. Alles weg. Alles. Alles. Einfach alles. Ich hasse es hier. Weg. Einfach weg. Weg von dieser Welt. Weg von allem. Einfach alles vergessen. Nein, nicht daran denken, nicht daran denken. Alles ist ok. Scandium, Yttrium... „Lili! Lili! Hallo!“ Ich zucke zusammen. Und da rasen sie, die Messerspitzen, mit unglaublicher Geschwindigkeit, auf mein Herz zu. Der Schmerz. Zu groß. Zu viel. Nein! Nein! Nein! Der Schrei lässt die Messer immer weiter in mich eindringen. Samantha. Ich muss mich der Welt stellen. Lächeln. Alles ist gut. Mir geht es gut. Ich bin fröhlich. Mir geht es gut, mir geht es gut. Es ist nur Sam. Mir geht es gut. Meine beste Freundin. Alles gut. Mit einem halbherzigen Lächeln nicke ich ihr zu. Voller Motivation und Elan berichtet sie mir von ihrem Leben. Lara und sie berieseln mich den ganzen Tag mit irgendwelchen Dingen, die ihnen gerade einfallen und dadurch werde ich abgelenkt. Doch am schlimmsten ist es im Unterricht. Die Professorin murmelt den Stoff vor sich hin als wäre sie kurz vor dem Einschlafen. Die Stunde scheint ja mal wieder gar nicht zu vergehen. Verloren schaue ich aus dem Fenster. Ich betrachte den tollen Pausenhof unserer Schule, welcher im Großen und Ganzen aus einem kahlen Baum, umgeben von Asphalt, besteht. Kahl und einsam, ja so steht er da, der Baum. Deja vu. Mit weit ausgerissenen Augen starre ich in die seinen. Nein! Nein geh weg! Nein!! Nein, nicht hier. Nicht jetzt. Nicht vor allen. Nein. Ich muss weg. Ruhig. Tief ein- und ausatmen. Er ist nicht da, er ist nicht da. Nur eine Halluzination. Fluor, Chlor, Brom, Iod, Astat. Ruhig. Doch der Schmerz schnürt mir die Luft ab. Ich spüre, wie sie mir aus der Hand gleitet. Ich verliere sie. Die Kontrolle. Ich muss raus. Jetzt. Ich springe auf und verlassene den Raum. Halt es zusammen. Die Blicke meiner Mitschüler bohren sich in meinen Rücken. Weiter immer weiter. Du musst weiter. Nicht stehenbleiben. Weiter. Reiß dich zusammen! Gleich hast du es geschafft. Ich sehe nur noch eines, die Tür. Hinaus. Hinaus aus der Schule. Die Erlösung. Ganz nahe. Zum Greifen nahe. Dann nehme ich ihn heraus. Alles wird gleich gut. Nur drei Minuten. Dann ist alles gut.
Dann zünde ich ihn an. Den Joint. Nehme einen Zug, noch einen und noch einen. Herrlich. Frei. Glücklich, flüstere ich mit einer zerbrochenen Stimme. Eine Träne bannt sich den Weg über meine Wange herab. Geborgen. Ich lasse mich fallen. Ich lasse die Gefühle meinen Körper durchströmen. Entspannt schließe ich die Augen. Schwerelos. Das THC umschlingt meine Lunge und lässt mich alles vergessen. Komplett schwerelos. Ich könnte stundenlang einfach nur mit dem Kopf zum Himmel gewandt hierstehen und mich treiben lassen. Der Rauch umhüllt mich wie eine Decke. Dringt in mich ein. Voller Wärme. Voller Glück. Ich bin Lili. Lili Peacton. 17 Jahre alt. Und jetzt ist alles gut. Und so lebe ich Tag für Tag immer wieder aufs Neue durch den Horror.