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Als mein Vater schön wurde

Bas

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16.09.2018
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Als mein Vater schön wurde

Ich erinnere mich an unsere zwei letzten Begegnungen. Nummer eins, ich sitze in der Bahn und spüre seinen Blick in meinem Nacken, ich starre aus dem Fenster und draußen zieht die Nacht vorbei, ich spiegele mich in der Scheibe und sehe: Ihn. Ich steige aus, gehe den Weg entlang, vorbei an den Lagerhallen der Fabrik, im orangeroten Licht der Laternen, und er holt mich ein: Bleib doch stehen, er legt mir die Hand auf die Schulter: Was habe ich dir getan, warum hasst du mich, und in seinen versoffenen Augen stehen Tränen.

Nummer zwei, wie erhängt man sich hier, frage ich mich, ich kenne die Wohnungen in der Siedlung, ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, dass hier keiner in die Decken bohrt und ich weiß noch, wie mein Vater es doch getan und dann geflucht hat: Wie aus Pappe, was ein Scheiß, und ich kann mir deshalb auch nicht vorstellen, dass er da hängt, mein Bruder, aber wie soll er sich sonst umgebracht haben, ich kenne niemanden, der eine Knarre hat und er sicher auch nicht und während ich dort in der Nacht stehe und ich auf meinen Vater mit dem Schlüssel warte, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: Erhängen oder erschießen, keine Tabletten, zum Beispiel, auf Tabletten komme ich nicht, obwohl ich's ja selbst schon versucht habe, mir war's zu viel, ich wollte sterben, ich hatte gegooglet und dachte Atemlähmung, okay, aber ich bin nur eingeschlafen und lange nicht aufgewacht und jetzt stehe ich hier und warte auf meinen Vater und vor allem auf den Schlüssel, um in die Wohnung von meinem Bruder zu kommen, der nur geschrieben hat: Es tut mir leid, und dazu eine schwarze Taube, die in den Himmel fliegt, auf Instagram, und das hat mir gereicht und ich bin in dieselbe Bahn gestiegen wie beim letzten Mal und habe gedacht: Auf Instagram, was ein Scheiß, wie dumm kann man sein, und ich glaub's nicht, und trotzdem, und bei den Lagerhallen habe ich dann meinem Vater geschrieben: Hast du’s gelesen, ich bin gleich da, und da kommt er schon auf mich zu, hat nicht lange gedauert, die Siedlung ist ja nicht groß, er trägt seinen Jogginganzug und die Mütze und sieht fast aus wie immer, ist nur kleiner, aber vom Krebs schrumpft man ja nicht und vom Saufen auch nicht, also liegt es wohl einfach daran, dass ich selbst mittlerweile größer bin, erwachsen, über zwanzig, und das letzte Mal ist schon was her, bestimmt drei Jahre, und jetzt kommt er auf mich zu in seinem Jogginganzug und seiner Mütze, wie ein Dieb in der Nacht, und grinst ein bisschen, wenn ich mich nicht versehe, und schüttelt den Kopf: Der Kerl macht mich fertig, sagt er bloß und schüttelt weiter seinen Kopf und kramt in der Tasche und er sieht müde aus, merke ich jetzt, kein Wunder: Es ist spät, drei Uhr nachts, wahrscheinlich hat er geschlafen, aber er arbeitet ja immer noch Schicht, vermutlich, und da ticken die Uhren anders, da kommt man schon mal morgens um sechs von der Arbeit und trinkt sich einen an, wenn die Mama die Kinder für die Schule fertig macht, und wird laut, und wird dumm, und vielleicht war er also noch wach, vielleicht ist ist es also doch der Krebs, der ihn so müde wirken lässt, als er den Schlüssel aus der Jogginghose kramt und den Kopf schüttelt, den kleinen Kopf, der von der Mütze fast verschluckt wird, obwohl er sie zwei mal umgekrempelt hat und trägt wie ein Seefahrer, und ich sage nichts, in meiner Erinnerung, stehe nur da mit den Händen in der Tasche und warte, dass er die Haustür aufschließt und wir hoch können und ich gehe hinter ihm die Treppen hinauf und frage mich, warum er nicht den Aufzug geholt hat, denn jetzt muss ich hinter ihm hergehen, die Hand am Geländer und die Augen auf seinen Rücken gerichtet, der immer noch so breit ist unter der Adidasjacke, darauf war er ja immer so stolz, auf seine Muskeln, auf seinen Bizeps, meiner war ja nur Pudding und seiner steinhart und das habe ich immer dann zu spüren bekommen, wenn wir miteinander gekämpft haben, zum Spaß, dann hat er es genossen, der Stärkere zu sein und für mich war es okay, ich war ja schon froh, dass es diesmal nur Spaß war und ich war ja auch stolz, so einen Vater zu haben, die anderen Väter saßen im Büro und trugen Brillen und hatten Muskeln wie aus Pudding, aber meiner, meiner trug Holzlatten und Stahlplatten und zog Schrauben fest, aber jetzt schnauft mein Vater im dunklen Treppenhaus und ich frage mich, warum er nicht das Licht einschaltet und warum er nicht einfach den Aufzug nimmt, ob er vielleicht keine Schwäche zeigen will oder nicht mit mir in dem kleinen, hell erleuchteten Raum stehen mag, mitten in der Nacht, ob er Sorge hat, dass ich dann seine Falten sehe und wie alt er geworden ist, vielleicht will er nicht, dass ich ihm in die Augen sehe, vielleicht hat er nämlich gar nicht geschlafen, als ich angerufen habe, sondern war noch wach und am Saufen, wer weiß, und ich bin froh, als wir endlich oben sind und ich nicht mehr seinen Rücken vor mir habe, aber gleichzeitig habe ich Angst, als er gegen die Tür hämmert und niemand aufmacht, und er sagt: Hallo, Paul, bist du da, Paul, wir sind’s, und ich höre, wie seine Stimme zittert, als er das sagt: Paul, hallo, hallo, Paul, wie ein Echo, das immer leiser wird, und fast tut er mir leid, wie er da im Dunkeln steht und jetzt sicher Angst hat, dass er Paul überlebt hat, seinen Jüngsten, trotz Krebs, auch weil Paul ihn ja immer noch geliebt hat, trotz allem, und er dann nur noch mich hat, der ihn hasst, und er steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn und er zittert und fast finde ich ihn schön in seinem Jogginganzug und mit seiner Mütze, merke ich da, fast will ich ihn umarmen und seine Muskeln spüren und ihm sagen, egal, was mal war, jetzt sind wir hier, aber es ist wohl vor allem die Angst, die da spricht, die Angst vor dem, was gleich kommt, wenn mein Vater das Licht anmacht, und wohl auch, dass ich jetzt keine mehr haben muss, vor ihm, und dass er säuft und aggressiv wird und laut und mich jagt, und später Paul, durch die Wohnung, mit seinem Blick, wie ein Tier, und dann zupackt, und was soll’s, soll er doch schön sein, wo er jetzt ist, soll er doch schön sein, wo er liegt, tut mir nicht weh, niemals mehr.

 

Was habe ich dir getan, warum hasst du mich, und in seinen versoffenen Augen stehen Tränen.
Moin,

ab hier weiß ich, was im Text geschieht.

Ich tue mich schwer mit solchen Texten an sich, weil ich ein schwieriges Verhältnis (oder eher: Nicht-Verhältnis) zu meinem Vater habe. Deswegen sehe ich da wahrscheinlich anders hin, als andere Leser. Take it with a grain of salt!

Nummer zwei, wie erhängt man sich hier, frage ich mich, ich kenne die Wohnungen in der Siedlung, ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, dass hier keiner in die Decken bohrt und ich weiß noch, wie mein Vater es doch getan und dann geflucht hat: Wie aus Pappe, was ein Scheiß, und ich kann mir deshalb auch nicht vorstellen, dass er da hängt, mein Bruder, aber wie soll er sich sonst umgebracht haben, ich kenne niemanden, der eine Knarre hat und er sicher auch nicht und während ich dort in der Nacht stehe und ich auf meinen Vater mit dem Schlüssel warte, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: Erhängen oder erschießen, keine Tabletten, zum Beispiel, auf Tabletten komme ich nicht, obwohl ich's ja selbst schon versucht habe, mir war's zu viel, ich wollte sterben, ich hatte gegooglet und dachte Atemlähmung, okay, aber ich bin nur eingeschlafen und lange nicht aufgewacht
Der suizidäre Bruder. Gordon Lish sagt ja, man soll sich das aussuchen, was man in seinem eigenen Leben am meisten vermisst, die eigene Leerstelle, in dieser Echokammer entstehen die besten, schmerzhaftesten Texte. Fragt er sich wirklich, wie der Bruder da hängt? Wie das vonstatten geht? Das ist so ein Detail, ich weiß nicht. Einer meiner ältesten Freunde hat seinen älteren Bruder tatsächlich erhangen im Dachgeschoss gefunden, und ihm ist in Erinnerung geblieben, dass es ein Schalke-Fanschal gewesen ist. Er war selbst noch ein Kind, und da prägen sich einem sicher andere Details ein. Hier erscheint es mir aber eher so, dass sich der Erzähler weniger um seinen toten Bruder, als um sich selbst kümmert: am Ende geht es um seinen eigenen Suizidversuch. Das wirkt so untergeschoben, so lapidar, auch dass der Erzähler mit so einer Art Witz beginnt, diese Decken?, haha, wie soll das denn gehen?
Auf Instagram, was ein Scheiß, wie dumm kann man sein, und ich glaub's nicht, und trotzdem, und bei den Lagerhallen habe ich dann meinem Vater geschrieben: Hast du’s gelesen, ich bin gleich da, und da kommt er schon auf mich zu, hat nicht lange gedauert, die Siedlung ist ja nicht groß, er trägt seinen Jogginganzug und die Mütze und sieht fast aus wie immer, ist nur kleiner, aber vom Krebs schrumpft man ja nicht und vom Saufen auch nicht, also liegt es wohl einfach daran, dass ich selbst mittlerweile größer bin, erwachsen, über zwanzig, und das letzte Mal ist schon was her, bestimmt drei Jahre, und jetzt kommt er auf mich zu in seinem Jogginganzug und seiner Mütze, wie ein Dieb in der Nacht, und grinst ein bisschen, wenn ich mich nicht versehe, und schüttelt den Kopf: Der Kerl macht mich fertig,
Lagerhallen, Schichtarbeit, Suizid, Krebs, Saufen, schwieriges Verhältnis. So ein wenig das 1 x 1 der großen Dramatik, und das auf dem kleinen Raum ... warum? Ist das wirklich so passiert? Wenn da Autobiografisches drin ist, könnte ich das nachvollziehen irgendwie, aber so nimmt es doch nichts von der Wucht, wenn es ausschließlich um den Bruder geht, oder? Das Verhältnis zum Vater ist doch ein wichtiger Parameter in der ganzen Konstellation, und auch hier ist der Text auf der Kürze unentschlossen, was will er, um wen geht es, Vater, Bruder, den Erzähler, das Verhältnis der Dreien?
Es ist spät, drei Uhr nachts, wahrscheinlich hat er geschlafen, aber er arbeitet ja immer noch Schicht, vermutlich, und da ticken die Uhren anders, da kommt man schon mal morgens um sechs von der Arbeit und trinkt sich einen an, wenn die Mama die Kinder für die Schule fertig macht,
Auch so ein Topos: der saufende Schichtarbeiter. Ich denke, heutzutage dauert es nicht mehr lang, bis das bemerkt wird, und wenn du schwere und teure Maschinen besoffen bedienst, dann machst du das in der Regel nur einmal. Wir arbeiten viel für große Industriebtriebe, Mannstädt, Reifenhäuser, Walterscheid, die arbeiten im Drei-Schicht-System, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand so eine Arbeit angetrunken durchzieht, ohne dass das bemerkt wird. Auch hier: welche Kinder? Oder ist das ein Rückgriff? Liest sich wie Präsens, als habe der Vater mittlerweile eine andere Frau mit schulpflichten Kindern, kommt so nicht eindeutig heraus, wenn es so gedacht ist.
in meiner Erinnerung,
Welche Erinnerung? Oder ist das Ganze unzuverlässig erzählt?

wenn mein Vater das Licht anmacht, und wohl auch, dass ich jetzt keine mehr haben muss, vor ihm, und dass er säuft und aggressiv wird und laut und mich jagt, und später Paul, durch die Wohnung, mit seinem Blick, wie ein Tier, und dann zupackt, und was soll’s, soll er doch schön sein, wo er jetzt ist, soll er doch schön sein, wo er liegt, tut mir nicht weh, niemals mehr.
Geht es denn um Angst? Nein, es geht doch eher darum, was ihm, dem Erzähler, und wohl auch Paul, angetan wurde, oder nicht? Jetzt ist der Vater schwach, der Erzähler hat keine Angst, aber sein Bruder hat sich umgebracht, oder wahrscheinlich umgebracht - denkt er da wirklich die ganze Zeit an seinen Vater? Wie war eigentlich das Verhältnis zu seinem Bruder, da wird kaum ein Wort drüber verloren. Nur kurz: Paul liebt den Vater noch, der Erzähler hasst ihn. Aber warum genau? Ist Paul nicht verdroschen worden, und wenn nicht, warum nicht? Oder warum liebt Paul den Vater trotz der Gewalt? Warum ist der Erzähler überhaupt da? Kann der Vater das nicht alleine regeln? Oder hat er das zuerst auf Instagram erfahren und warum ruft er dann den verhassten Vater zuerst an? Hat Paul keine Freundin, Freunde, sind da keine anderen Bezugspersonen?


Die Idee, die beiden bei diesem speziellen Ereignis aufeinandertreffen, kollidieren zu lassen, finde ich gut, aber in der jetztigen Form liest sich das für mich unausgewogen, unausgegoren, sehr schnell drübergehuscht, ich bekomme das komplexe Verhältnis, das es ja geben muss, das Schweigen über die Vergangenheit, das Verschwiegene, wie der Vater darauf reagiert, das fein Verästelte, der Schmerz, das wird verschluckt. Nicht zuletzt auch von diesem Kulissenhaften.

fast finde ich ihn schön in seinem Jogginganzug und mit seiner Mütze, merke ich da, fast will ich ihn umarmen und seine Muskeln spüren und ihm sagen, egal, was mal war, jetzt sind wir hier,
Das ist der Punkt, das Vergeben, ohne zu vergessen. Aber bis das möglich ist, muss doch etwas in einem vorgehen, warum denkt er das jetzt, im Angesicht des Suizids seines Bruders? Würde sich da nicht eher die Tendenz der Schuld verstärken, ist der Vater nicht auch mitschuldig, mitverantwortlich? Hat der Erzähler ein so großes Sühnerherz, dass er überhaupt diesen Gedanken in sich aufkeimen lässt? Hat etwas Christliches, so die Randfiguren müssen ja doch auch irgendwie erlöst werden, auch wenn sie Schuld auf sich geladen haben. Und findet er ihn wirklich schön? Ist schön hier der korrekte Begriff? Ich weiß nicht.

Mir kommt die Gewichtung nicht richtig vor. Der Suizid wirkt wie ein Aufhänger für den Rest, und das macht ihn zum Gimmick, obwohl sich daran alles an Narrative entzünden könnte. Ich denke, du willst das mit deiner dir eigenen Stilistik lösen, das Fließende, aber hier würde ich für schlichte, reduzierte Prosa werben, die auch mit mehr Dialog arbeitet, die auch Zeit mit Schweigen verstreichen lassen kann, die dieses Kollidieren wirken lässt im Angesicht der nahenden oder schon geschehenen Tragödie.


Gruss, Jimmy

 

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