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Als mein Vater schön wurde
Ich erinnere mich an unsere zwei letzten Begegnungen. Nummer eins, ich sitze in der Bahn und spüre seinen Blick in meinem Nacken, ich starre aus dem Fenster und draußen zieht die Nacht vorbei, ich spiegele mich in der Scheibe und sehe: Ihn. Ich steige aus, gehe den Weg entlang, vorbei an den Lagerhallen der Fabrik, im orangeroten Licht der Laternen, und er holt mich ein: Bleib doch stehen, er legt mir die Hand auf die Schulter: Was habe ich dir getan, warum hasst du mich, und in seinen versoffenen Augen stehen Tränen.
Nummer zwei, wie erhängt man sich hier, frage ich mich, ich kenne die Wohnungen in der Siedlung, ich bin hier aufgewachsen, ich weiß, dass hier keiner in die Decken bohrt und ich weiß noch, wie mein Vater es doch getan und dann geflucht hat: Wie aus Pappe, was ein Scheiß, und ich kann mir deshalb auch nicht vorstellen, dass er da hängt, mein Bruder, aber wie soll er sich sonst umgebracht haben, ich kenne niemanden, der eine Knarre hat und er sicher auch nicht und während ich dort in der Nacht stehe und ich auf meinen Vater mit dem Schlüssel warte, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten: Erhängen oder erschießen, keine Tabletten, zum Beispiel, auf Tabletten komme ich nicht, obwohl ich's ja selbst schon versucht habe, mir war's zu viel, ich wollte sterben, ich hatte gegooglet und dachte Atemlähmung, okay, aber ich bin nur eingeschlafen und lange nicht aufgewacht und jetzt stehe ich hier und warte auf meinen Vater und vor allem auf den Schlüssel, um in die Wohnung von meinem Bruder zu kommen, der nur geschrieben hat: Es tut mir leid, und dazu eine schwarze Taube, die in den Himmel fliegt, auf Instagram, und das hat mir gereicht und ich bin in dieselbe Bahn gestiegen wie beim letzten Mal und habe gedacht: Auf Instagram, was ein Scheiß, wie dumm kann man sein, und ich glaub's nicht, und trotzdem, und bei den Lagerhallen habe ich dann meinem Vater geschrieben: Hast du’s gelesen, ich bin gleich da, und da kommt er schon auf mich zu, hat nicht lange gedauert, die Siedlung ist ja nicht groß, er trägt seinen Jogginganzug und die Mütze und sieht fast aus wie immer, ist nur kleiner, aber vom Krebs schrumpft man ja nicht und vom Saufen auch nicht, also liegt es wohl einfach daran, dass ich selbst mittlerweile größer bin, erwachsen, über zwanzig, und das letzte Mal ist schon was her, bestimmt drei Jahre, und jetzt kommt er auf mich zu in seinem Jogginganzug und seiner Mütze, wie ein Dieb in der Nacht, und grinst ein bisschen, wenn ich mich nicht versehe, und schüttelt den Kopf: Der Kerl macht mich fertig, sagt er bloß und schüttelt weiter seinen Kopf und kramt in der Tasche und er sieht müde aus, merke ich jetzt, kein Wunder: Es ist spät, drei Uhr nachts, wahrscheinlich hat er geschlafen, aber er arbeitet ja immer noch Schicht, vermutlich, und da ticken die Uhren anders, da kommt man schon mal morgens um sechs von der Arbeit und trinkt sich einen an, wenn die Mama die Kinder für die Schule fertig macht, und wird laut, und wird dumm, und vielleicht war er also noch wach, vielleicht ist ist es also doch der Krebs, der ihn so müde wirken lässt, als er den Schlüssel aus der Jogginghose kramt und den Kopf schüttelt, den kleinen Kopf, der von der Mütze fast verschluckt wird, obwohl er sie zwei mal umgekrempelt hat und trägt wie ein Seefahrer, und ich sage nichts, in meiner Erinnerung, stehe nur da mit den Händen in der Tasche und warte, dass er die Haustür aufschließt und wir hoch können und ich gehe hinter ihm die Treppen hinauf und frage mich, warum er nicht den Aufzug geholt hat, denn jetzt muss ich hinter ihm hergehen, die Hand am Geländer und die Augen auf seinen Rücken gerichtet, der immer noch so breit ist unter der Adidasjacke, darauf war er ja immer so stolz, auf seine Muskeln, auf seinen Bizeps, meiner war ja nur Pudding und seiner steinhart und das habe ich immer dann zu spüren bekommen, wenn wir miteinander gekämpft haben, zum Spaß, dann hat er es genossen, der Stärkere zu sein und für mich war es okay, ich war ja schon froh, dass es diesmal nur Spaß war und ich war ja auch stolz, so einen Vater zu haben, die anderen Väter saßen im Büro und trugen Brillen und hatten Muskeln wie aus Pudding, aber meiner, meiner trug Holzlatten und Stahlplatten und zog Schrauben fest, aber jetzt schnauft mein Vater im dunklen Treppenhaus und ich frage mich, warum er nicht das Licht einschaltet und warum er nicht einfach den Aufzug nimmt, ob er vielleicht keine Schwäche zeigen will oder nicht mit mir in dem kleinen, hell erleuchteten Raum stehen mag, mitten in der Nacht, ob er Sorge hat, dass ich dann seine Falten sehe und wie alt er geworden ist, vielleicht will er nicht, dass ich ihm in die Augen sehe, vielleicht hat er nämlich gar nicht geschlafen, als ich angerufen habe, sondern war noch wach und am Saufen, wer weiß, und ich bin froh, als wir endlich oben sind und ich nicht mehr seinen Rücken vor mir habe, aber gleichzeitig habe ich Angst, als er gegen die Tür hämmert und niemand aufmacht, und er sagt: Hallo, Paul, bist du da, Paul, wir sind’s, und ich höre, wie seine Stimme zittert, als er das sagt: Paul, hallo, hallo, Paul, wie ein Echo, das immer leiser wird, und fast tut er mir leid, wie er da im Dunkeln steht und jetzt sicher Angst hat, dass er Paul überlebt hat, seinen Jüngsten, trotz Krebs, auch weil Paul ihn ja immer noch geliebt hat, trotz allem, und er dann nur noch mich hat, der ihn hasst, und er steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn und er zittert und fast finde ich ihn schön in seinem Jogginganzug und mit seiner Mütze, merke ich da, fast will ich ihn umarmen und seine Muskeln spüren und ihm sagen, egal, was mal war, jetzt sind wir hier, aber es ist wohl vor allem die Angst, die da spricht, die Angst vor dem, was gleich kommt, wenn mein Vater das Licht anmacht, und wohl auch, dass ich jetzt keine mehr haben muss, vor ihm, und dass er säuft und aggressiv wird und laut und mich jagt, und später Paul, durch die Wohnung, mit seinem Blick, wie ein Tier, und dann zupackt, und was soll’s, soll er doch schön sein, wo er jetzt ist, soll er doch schön sein, wo er liegt, tut mir nicht weh, niemals mehr.