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- 15.07.2004
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Als Matti wiederkam
„Und trotz allem sage ich hier und heute, laut und deutlich, und mit felsenfester Überzeugung: Deutschland geht es gut!“
(Auszug aus der Neujahrsansprache der Gesamtaufsichtsratsvorsitzenden der Wirtschaftsrepublik Deutschland im Jahr 2019)
Wenn Frau Kaltenberg nach ihrem Dackel Gustl ruft, erstarre ich zu Stein. Lasse mich zu Boden fallen, bleibe liegen wie tot, versuche nicht einmal mehr zu atmen. So hat Matti es mir beigebracht und inzwischen habe ich Übung darin. Von einer Sekunde auf die andere verwandele ich mich in eine Statue, verharre reglos, das Gesicht in den Staub gedrückt, mit zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten.
Nur mein Herz will keine Ruhe geben, schlägt wie verrückt; ein unaufhörlicher Trommelwirbel in meiner Brust, Tamtam, Tamtam, Tamtam, Tamtam, so schrecklich laut, dass es einfach auffallen muss. Ich versuche es zu bremsen, mich zu beruhigen. Sie dürfen mich nicht erwischen, das habe ich versprochen. Aber je mehr ich mich anstrenge, desto schneller wird der Rhythmus, immer lauter und lauter, bis ein ganzes Orchester aus verräterischen Pauken in mir dröhnt.
In solchen Momenten wünschte ich, ich hätte kein Herz.
Dann müsste ich keine Trauer mehr fühlen, keinen Selbsthass. Und vor allem keine Schuld. Denn Schuld bin ich. Da kann Yannik noch so oft das Gegenteil behaupten.
Es ist alles meine Schuld.
Gustl ist schon seit über drei Monaten tot, überfahren von einem der zahllosen Militärwagen, die hier unentwegt vorbeirattern.
Frau Kaltenberg ruft ihn nur noch uns zuliebe. Es ist ein Zeichen, ihre Warnung an uns, dass sie kommen, um wieder einen von uns zu holen. Mehr könne sie nicht machen, sagt Maxim, das sei alles, was wir von ihr erwarten könnten. Wenn Maxim so redet, klingt seine Stimme merkwürdig kalt, und ich glaube, er würde jedem, der ihm widerspricht, ohne zu zögern seine Faust ins Gesicht rammen.
Ich finde schon, dass Frau Kaltenberg mehr machen könnte, ja, mehr machen müsste. Sich den uniformierten Männern entgegenstellen, sie anschreien, treten, beißen, schlagen, was weiß ich. Meinetwegen ihnen mit bloßen Fingern die Augen aus den Höhlen stechen.
Frau Kaltenberg ist Maxims Mutter, und deshalb müsste sie alles, wirklich alles, versuchen, um ihn zu retten.
Aber sie warnt uns nur. Maxim behauptet, dass seine Mutter eine Heldin sei, eine Widerstandskämpferin gegen das Regime, die für uns ihren Hals riskiere. Dankbar müssten wir sein, sagt er.
Dankbar, dass ich nicht lache.
Für mich ist Frau Kaltenberg einfach nur erbärmlich. Kaum eine Erwähnung wert. Natürlich sage ich das nicht zu Maxim, ich habe schlichtweg keinen Bock von ihm vermöbelt zu werden; aber manchmal, wenn ich ihn angucke, wie er einfach nur da hockt, mit offenem Mund, und blöde vor sich hinbrütet, dann weiß ich, dass er insgeheim dasselbe denkt. Dass seine Mutter einfach nur ein feiger Haufen Scheiße ist. Und dass es ihre verdammte Mutterpflicht wäre, ihn zu retten. Egal, welche Konsequenzen das für sie hätte.
Ich weiß nicht, wie meine Eltern reagiert haben, als die Soldaten mich aufgegriffen und in diesen beschissenen Keller gesperrt haben. Irgendwer muss es ihnen ja schließlich gesagt haben, dass ihr kleines Mädchen jetzt ein subversives Element, eine Aufwieglerin ist. Was für ein Bullshit!
Wie auch immer. Meine Mutter hat wahrscheinlich Rotz und Wasser geheult. Für die ist mit Sicherheit eine Welt untergegangen. Mein Vater hat nicht geweint. Der nicht. Der schreit nur. Geflucht wird er haben, getobt und gewütet, und bestimmt hat er irgendetwas kaputt geschmissen. Aber irgendwie könnte ich das sogar verstehen. Wieder und wieder hatte er mich gewarnt, dass ich mich fernhalten solle von dem Mob, der auf die Straßen geht und seine Wut hinausbrüllt. Weil das der falsche Weg sei. Ein Weg, der einen geradewegs dorthin führt, wo ich jetzt bin. Er hat Recht gehabt.
Aber gerettet hat er mich auch nicht.
Vielleicht ist es unfair, so verächtlich über Frau Kaltenberg zu denken. Denn genaugenommen ist mein Vater wahrscheinlich ein noch größerer Haufen Scheiße als sie. Denn mein Vater riskiert gar nichts für mich.
Ich vermisse ihn nicht einmal. Es gibt nur einen, der mir fehlt.
„Selbstverständlich weiß ich, dass viele natürlich auch mit Sorgen in das neue Jahr gehen. Und tatsächlich wird das wirtschaftliche Umfeld nächstes Jahr nicht einfacher, sondern schwieriger. Ich will und ich werde Ihnen nichts vormachen in Zeiten einer Weltwirtschafts- und Bankenkrise von ungeahnten Ausmaßen. Nach dem Zusammenbruch der Eurozone. Schwieriges liegt vor uns. Das sollte uns jedoch nicht mutlos werden lassen, sondern – im Gegenteil – Ansporn sein. Gemeinsam sind wir stark genug, die deutsche Wirtschaft und den deutschen Wohlstand wieder wachsen zu lassen. Aber ich betone auch: Das gelingt nur mit vereinten Kräften, mit einer klaren Linie und einer starken führenden Hand.“
„Alles klar, Jule?“
Ein Arm legt sich um meine Schulter. Yannik natürlich.
Yannik kommt immer, wenn ich weine. Um mich zu trösten, sagt er, rein freundschaftlich, weil er mich mag. Aber ich bin nicht blöd. Ich weiß genau, was Yannik für mich empfindet. Dass er bis über beide Ohren in mich verknallt ist. Und Larissa weiß es auch. Ich kann das an ihren wütenden Blicken sehen, während sie in ihr verficktes Tagebuch kritzelt.
„Alles super. Mir scheint die Sonne aus dem Arsch!“
Sein Gesicht zeigt keine Regung.
„Du lügst. Niemandem hier geht es gut.“ Womit er natürlich Recht hat.
Ich zucke mit den Schultern. „Dann frag halt nicht so blöd! Zumindest geht es mir nicht schlechter als all den anderen auch.“
Yannik seufzt. „Ich glaube doch. Dir geht es sauschlecht. Matti fehlt dir!“. Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Seine Stimme verrät, wie wenig ihm das passt.
„Natürlich fehlt er mir“, raunze ich Yannik an, heftiger als beabsichtigt. „Matti fehlt allen hier. Er war der einzige, der diesen verschissenen Ort wenigstens ein bisschen erträglich gemacht hat.“
Noch während ich das sage, begreife ich, wie sehr Yannik meine Worte verletzten müssen. Das hat er nicht verdient, meldet sich eine vorwurfsvolle Stimme in meinem Kopf. Er will dir nur helfen. Er ist dein Freund.
Das ist er wohl. Aber jetzt gerade ist mir scheißegal, wer oder was er ist.
Er ist nicht Matti.
Bloß das zählt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt: Matti fehlt allen hier!
Mittlerweile heule ich wie ein Schlosshund. Yannik sagt nichts mehr, hält mich einfach nur fest im Arm. Meinetwegen. Soll er doch. Wahrscheinlich tut ihm das besser als mir.
„Natürlich mussten und müssen wir auch weiterhin Opfer bringen. Da geht es uns nicht anders als unseren ausländischen Freunden und Verbündeten. In Zeiten wie diesen bekommt man nichts geschenkt, und manchmal muss man Härte zeigen. Keiner von uns tut das gern, auch ich nicht. Mit Trauer und Entsetzen erinnern wir uns noch immer an die furchtbaren Ereignisse während der - vom Volksmund pietätloser Weise benannten - Zahnspangen-Revolution im Februar des ausklingenden Jahres, als Tausende Jugendliche, zum Teil noch Kinder, auf die Straßen gegangen sind, um lauthals ihre Sorgen, ihre Ängste vor der Zukunft auszudrücken. Glauben Sie mir, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Niemand versteht diese Sorgen und Ängste besser als ich.“
Ohne Matti wäre ich hier verrückt geworden, soviel ist sicher. Er war der Erste, der für mich da war, als sie mich in dieses Kellerloch sperrten. Vor Angst zitternd, einer Panik nahe, stand ich da, als er meine Hand ergriff. Er tat das so selbstverständlich, als würden wir uns seit Jahren kennen, als wären wir uns seit Ewigkeiten vertraut.
„Hey!“, flüsterte er mir zu. „Es ist schon okay. Beruhige dich!“
Seltsamerweise tat ich das. Es war sein Blick. Mattis braune Augen waren wie... wie... ach drauf geschissen, jeder Vergleich würde ja doch nur bescheuert und oberkitschig klingen. Leckt mich doch!
Die Wahrheit ist: An Mattis Blick konnte ich mich festhalten. Bei ihm fühlte ich mich sicher.
„Biste alleine hierhin verfrachtet worden? Oder war noch jemand bei dir?“ Matti hielt noch immer meine Hand.
Ich schüttelte den Kopf und deutete dann mit einem schwachen Nicken auf Yannik, Larissa und Katharina, die dicht gedrängt zusammenstanden und zu uns rüberglotzten.
„Kennste den etwa?“, rief Larissa mir zu. Es klang anklagend. Irgendwie nach: Ist das etwa der Grund, warum wir in dieser verfotzten Scheiße hier stecken?
Ich ignorierte sie.
„Mit denen da“, sagte ich zu Matti gewandt.
„Wart ihr demonstrieren?“
Ich nickte kaum merklich.
Matti zog eine Augenbraue in die Höhe. „Schön blöd!“ Er grinste. „Und so was von verboten. Und gefährlich. Deine Idee, nehme ich an?“
Jetzt nickte ich nicht einmal mehr.
„Jede und jeder der 256 Toten, die diese Aufstände gefordert haben, waren zu viel. Das sage ich mit aufrichtigem Kummer im Herzen. Mein Beileid gilt den Familien der Verstorbenen. Aber Sorge und Angst – so nachvollziehbar sie auch sein mag – darf nicht in Wut und Gewalt umschlagen. Unsere Jugend hat einen Weg gewählt, der nicht tolerierbar war und bis heute nicht tolerierbar ist. Die Geschehnisse in Südeuropa, bei denen durch ähnliche Unruhen nicht bloß Hunderte, sondern Zehntausende ums Leben gekommen sind, sollten uns alle Warnung genug sein. Die Regierungen dort haben die Kontrolle längst verloren, es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. In Deutschland wird so etwas nicht passieren. Das, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ist mein Versprechen an Sie für das Jahr 2020."
Ich weiß selber nicht, was mich geritten hat, die anderen davon zu überzeugen, sich den Demonstrationen anzuschließen. Damals fand ich die Idee einfach nur sexy. Dass Larissa mitkommen würde, war klar. Larissa hätte mich niemals im Stich gelassen. Zumindest damals nicht. Yannik zu überzeugen, war leicht gewesen. Ein koketter Blick, ein vielsagendes Lächeln zur rechten Zeit – und Yannik folgte uns überall hin. Und Katharina hatte wahrscheinlich einfach nur Langeweile.
Wir langweilten uns schnell und oft. Von der ganzen Scheiße im Land bekamen wir natürlich alles mit, aber wirklich betroffen waren wir nicht. Wir waren auf der sicheren Seite, weil wir alle aus privilegierten Elternhäusern kommen, also zu den zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung gehören, denen es auch nach dem Zusammenbruch des Bankensystems und der großen Krise relativ gut geht. Leute wie uns nennen sie auf der Straße abfällig Geldadel, der politisch zwar keinen Einfluss, materiell aber nach wie vor genügend Mittel zur Verfügung hat, um sich im allgegenwärtigen Chaos ein weiches Nest zu bauen.
Die Oberschicht der Selbstgerechten. Selbst Matti dachte so.
Genau dafür schämte ich mich.
Wir waren der rosa Zuckerguss auf einer Torte aus Fäkalien. Uns passierte nichts – bis zu dem Tag, als ich auf die Idee kam, dass es endlich an der Zeit wäre, auch auf die Straße zu gehen. Solidarität und so!
Viva la Revolution!
Was für ein Scheißdreck! Und trotzdem machten wir uns auf.
Weit kamen wir nicht.
„Es ist nicht deine Schuld“, durchbricht auf einmal Yannik flüsternd die Stille. „Es ist nicht deine Schuld.“ Er hält mich noch immer im Arm, schmiegt seine Wange an meine, während er leise auf mich einredet.
„Es ist nicht deine Schuld!“ Offenbar hält er seine Worte für überzeugender, wenn er sie nur oft genug wiederholt. „Nicht deine Schuld.“
Ich fühle, wie sich mein Körper versteift. Mit einem Mal ist mir Yanniks Umklammerung unangenehm, sie erdrückt mich. Ich spüre seinen Körper eng an meinen gedrückt, viel zu fest, viel zu fordernd, um noch als freundschaftliche, tröstende Umarmung durchzugehen, und plötzlich bemerke ich, dass er eine Erektion hat.
Der Gedanke an seine Latte lässt Übelkeit in mir aufsteigen.
„Es ist nicht deine Schuld.“
Ich weiß nicht, wie oft er das jetzt schon zu mir gesagt hat. Nicht nur heute. Sondern seitdem wir hier gefangen sind.
Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn. Nur mit Mühe kann ich verhindern, dass ich ihm auf den Schoß kotze.
„Lass mich los!“ Meine Stimme ist übertrieben schrill und feindselig. „Sofort!“
Yannik löst mit erschrockener Miene seine Umarmung und reißt mit einer schnellen, unbeholfenen Geste seine Arme in die Höhe. Er sieht aus wie ein Handballtorwart, der einen Siebenmeter erwartet.
Gegen meinen Willen muss ich grinsen.
„Ich wollte nicht...“, stammelt er. „Ich habe doch nur...“
Das ist mehr als ich ertragen kann. Ich wende meinen Blick ab und komme vom Regen in die Traufe, denn jetzt sehe ich in das vorwurfsvolle Gesicht von Larissa.
Schon klar, dass ich hier keine Hilfe zu erwarten habe.
„Es tut mir leid“, sage ich zu Yannik. Und irgendwie auch zu Larissa.
Yannik macht einen Schritt auf mich zu, besinnt sich dann aber und bleibt zum Glück stehen, bevor er nah genug ist, um mich wieder in seine Arme schließen zu können.
Seine Lippen bewegen sich. Ich weiß, was jetzt kommt.
Bitte, sag es nicht!
Aber natürlich tut er es trotzdem.
„Es ist nicht deine Schuld, Jule. Es ist nicht deine Schuld.“
„Und deshalb müssen und werden wir durchgreifen. Dem Mob auf der Straße sage ich: Es gibt eine Null-Toleranz-Grenze. Wer sich in diesen Zeiten gegen das Wohl der Gemeinschaft stellt, hat mit drakonischen Strafen zu rechnen. Diejenigen, die sich den Ausschreitungen auf den Straßen anschließen und für Zerstörung und Chaos sorgen, werden von uns auf das Schärfste bekämpft. Selbst dann, wenn sie noch Kinder oder Jugendliche sind. Wir müssen und werden den Anfängen wehren. Wir müssen und werden die Kontrolle behalten, um Sicherheit und Frieden in unserem Land zu gewährleisten. Das schulden wir all denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die geduldsam und friedlich die schwierigen Zeiten zum Wohle aller ertragen.“
Meine Gedanken reisen wieder zurück zum Ankunftstag.
Einen Monat? Zwei? Keine Ahnung. Die Tage zähle ich schon lange nicht mehr. Zeit spielt hier keine Rolle. Aber ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.
„Es ist meine Schuld.“
„Was ist deine Schuld?“ Matti sah mich mit seinen braunen Augen durchdringend an.
„Dass wir hier sind“, schniefte ich. „Wenn ich nicht unbedingt zu dieser beschissenen Demo hätte gehen wollen, wären wir nicht hier.“
Matti drückte meine Hand.
„Klar. Es ist deine Schuld.“ Er lachte kurz auf. „So wie es auch deine Schuld ist, dass es diese Demos überhaupt gibt. Weil wir keine Zukunft haben, was übrigens auch deine Schuld ist. Es ist deine Schuld, dass Jugendliche sich nicht in größeren Gruppen versammeln dürfen. Es ist deine Schuld, dass die Banken uns alle nach Strich und Faden verarscht haben. Es ist deine Schuld, dass die Weltwirtschaftskrise so gut wie alles und jeden ruiniert hat. Und es ist deine Schuld, dass unsere Regierung zu einer korrupten Verbrecherbande mutiert ist, die alles daran setzt, das saumäßig viele Geld von einigen ganz wenigen Arschlöchern auf Kosten aller anderen zu sichern.“ Ein kurzes Augenzwinkern. „Alle Achtung, ich finde da hast du verdammt viel Schuld auf dich geladen. Und das mit...“, er mustert mich kurz, „... mit siebzehn?“
„Sechzehn!“
„Oha. Sechzehn. So jung und schon so schuldbeladen. Wenn du nicht aufpasst, wird es ein ganz böses Ende mit dir nehmen.“ Wieder dieses Augenzwinkern.
Mit einem Mal begriff ich, dass er mit mir flirtete. Nicht zu fassen, irgendwie absurd. Und trotzdem total schön.
„Und was schlägst du vor, damit es nicht so kommt? Damit es ein Happy End gibt?“
Ich zog ich einen Schmollmund, den ich für unwiderstehlich hielt.
Plötzlich wurde Matti ernst. „Hör jetzt gut zu!“ Seine Stimme war leise und eindringlich. „Das ist jetzt wirklich wichtig! Wenn von draußen so eine Alte nach ihrem Gustl brüllt, dann lässt du dich auf der Stelle fallen und spielst tot. Verstanden? Keinen Mucks. Einfach liegen bleiben, Fresse halten und abwarten!“
„Und warum?“
„Weil sie immer diejenigen holen, die irgendwie auffallen. Manchmal reicht es schon, wenn du im falschen Moment hustest. Versuch, dich unsichtbar zu machen. Dann haste gute Chancen, eine Weile unbeschadet hierzubleiben.“
„Wer sagt denn, dass ich hierbleiben will?“ Meine Worte barsten vor Trotz.
Matti lachte bitter. „Glaubst du, draußen wird es besser? Nein, wird es nicht! Falls du hoffst, dass die dich irgendwann einfach wieder nach Hause lassen, vergiss es einfach. Spart viele Tränen der Enttäuschung.“
„Ja und?“, antwortete ich noch immer bockig. „Ist mir auch egal.“
„Aber mir nicht!“
Ich schwöre auf alles, was mir heilig ist: Noch nie zuvor hatte mich jemand so eindringlich angesehen, wie Matti es in diesem einen Augenblick tat. Und wahrscheinlich kann es kein Außenstehender begreifen, aber in jenem Moment verstand ich, dass Matti mich liebte. Ich weiß bis heute nicht, warum, weiß nicht, wie das geschehen konnte und wieso es so verteufelt schnell ging. Aber dass er mich liebte, war unübersehbar.
Und ich, ich liebte ihn auch. Nein! Liebe ihn auch.
„Versprich mir, dass du dich nicht von ihnen erwischen lässt. Versprich es mir einfach, okay?“
„Okay“, antwortete ich mit trockenem Hals. „Ich verspreche es dir.“
Er atmete einmal tief durch, bevor er weitersprach. „Danke. Halt dich einfach an das, was ich dir gesagt habe. Und erzähle es am Besten auch deinen Freunden. Es ist sicherer, wenn sie für den Ernstfall gewappnet sind.“
Der Ernstfall folgte auf dem Fuß. Wie in einem schlechten Drehbuch. Als wäre es abgesprochen, ertönte just in diesem Moment Frau Kaltenbergs Schrei.
„Gustl! Gustlchen, wo bist du? Komm zu Frauchen, Gustl! Guuuuuuuuuuuuuuustl?“
Mir bot sich ein surreales Bild. Die Mehrzahl der Gefangenen warf sich zu Boden, während ein Dutzend, ausschließlich Neuankömmlinge, irritiert stehen blieb.
Plötzlich änderte sich meine Perspektive und ich fiel. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass Matti mich zu sich hinunter zog.
„Liegen bleiben!“ Keine Bitte, sondern ein Befehl.
„Meine Freunde... ich muss ihnen noch...“
„Zu spät!“, unterbrach mich Matti schroff. „Du kannst es ihnen vielleicht später sagen. Sie werden gleich kommen und jemanden holen.“
„Wer kommt? Und warum nur vielleicht?“
Aber da hatte mich Matti bereits unter seinem Gewicht begraben. So geborgen konnte mir nichts passieren. Matti, mein menschlicher Schutzpanzer.
„Keiner will ein weiteres Blutvergießen. Niemand möchte, dass sich die schrecklichen Ereignisse vom Februar wiederholen und wir wieder um unsere Kinder trauern müssen. Deshalb haben wir Maßnahmen ergriffen, drastische, aber unvermeidliche, die eine derartige Eskalation zukünftig verhindern. Es ist mir schmerzlich bewusst, dass unser Handeln noch vor zwei oder drei Jahren völlig undenkbar gewesen wäre. Aber die Zeiten haben sich geändert. Ich habe mir das nicht gewünscht. Und doch gibt es keine Alternative: Wir tun das, was wir als Regierung tun müssen. Weil es unsere Pflicht, unser Auftrag ist.“
Katharina hatte nicht soviel Glück.
Es lag an ihrer Stimme, dass ausgerechnet sie geholt wurde. Viele andere, die mit uns an diesem Tag neu in den Keller gesperrt worden waren und die Regeln noch nicht kannten, hatten ebenfalls geschrien. Aber Katharina hatte sie alle übertönt. Ihre Stimme war trainiert. Irgendwann hatte sie mir mal erzählt, dass sie gern Opernsängerin geworden wäre.
Verdammte Scheiße.
Die Bilder laufen bis heute in meinem Kopf ab wie in einem Film. Vier uniformierte Männer, die Katharina abführen. Katharinas panische Schreie, als ihr klar wird, dass ihr nichts Gutes blüht. Die Gesichter derjenigen, die schon länger hier unten sind, sprechen Bände. Da braucht es keine Worte. Katharinas vor Angst geweitete Augen, die ein letztes Mal auf mir weilen. Anklagend, weil ich die Schuld dafür trage. Dann schließt sich krachend die schwere Eisentür, die unser Loch von der Außenwelt trennt, und Katharina ist verschwunden.
Ich habe sie nicht wiedergesehen.
Kacke! Ich hätte sie warnen sollen. Ihr erzählen, was Matti mir geraten hat. Sie mit nach unten auf den Boden reißen müssen. Dann hätten sie jemanden anderen... Dann wäre Katharina noch...
Aber ich habe sie nicht gewarnt. Nur dagelegen und gehofft, dass die Soldaten mich übersehen.
Später habe ich Matti gefragt, ob Katharina tot sei. Er zuckte mit den Schultern.
„Nein“, sagte er nur. „Wahrscheinlich nicht.“
Einen kurzen Moment lang schoss so etwas wie Erleichterung in mir hoch. Für einen Sekundenbruchteil fühlte ich mich nicht mehr ganz so schuldig.
Bis Matti seinen Satz zu Ende sprach: „Aber es wäre besser für sie.“
„Es wäre besser tot zu sein? Wie meinst du das? Warum sagst du so etwas Schreckliches?“
Matti seufzte, setzte zu einer Antwort an und schüttelte dann den Kopf. „Nicht heute! Nicht am ersten Tag. Am besten überhaupt nicht.“
Ich fing an zu heulen. Er zog mich zu sich heran. Bedachte mich mit seinem Zauberblick. Plötzlich löste sich alles in mir.
„Katharina!“ Dann versiegten mir meine Worte im Mund.
Statt meiner höre ich Mattis Stimme.
„Es ist nicht deine Schuld, Jule!“
Die gleichen Worte, die Yannik immer verwendet.
Aber wenn Matti sie aussprach, glaubte ich ihm.
Inzwischen glaube ich an gar nichts mehr. Das meiste ist in der Realität eh anders, als man es sich vorgestellt hat.
Larissa zum Beispiel. Ich habe mal gedacht, dass wir richtig gut befreundet sind. BFFs. Best friends forever. Boah Mädchen, wie dämlich warst du eigentlich? Nur weil man an sonnigen Tagen auf einer Wellenlänge funkt, heißt das nicht, dass das auch dann noch der Fall ist, wenn man plötzlich im Regen steht. Wenn unterm Schirm nur Platz für eine Person ist, dann wird ohne Rücksicht auf Verluste geschubst und geschoben. Das habe ich auf die harte Tour gelernt. Ist ja nicht so, dass man sich in der Hölle nicht weiterbilden kann.
Früher waren Larissa und ich ein Herz und eine Seele. Haben alles geteilt, viel gelacht, uns von unseren Träumen erzählt. Einmal haben wir uns sogar geküsst, weil ich wissen wollte, wie es sich mit einer Frau anfühlt. Ich muss gestehen, Larissa kann geil küssen. So richtig mit Gefühl. Sie war mir näher als sonst irgendwer. Ja, ehrlich, ich habe die echt mal geliebt.
In der Clique waren immer wir es, die den Ton angaben. Kaum eine Sache, bei der wir nicht der gleichen Meinung waren. Aber an dem Tag, als sie uns geschnappt haben, wäre Larissa viel lieber daheim geblieben. Sie ist mir zuliebe mitgegangen.
Klar, dass sie mich das jetzt spüren lässt.
Seit wir hier gefangen sind, sprechen wir kaum noch miteinander. Zuerst habe ich mich einfach zu sehr geschämt, weil ich uns alle so sehr in die Scheiße geritten habe. Weil ich die Verantwortung an Katharinas Schicksal trage. Und natürlich wegen Matti. Matti und ich waren eins. Zwischen Matti und mir passte kein Blatt Papier. Die Zeit mit ihm war mir heilig.
Ich bin mir sicher, dass Larissa das verstanden hat.
Jetzt ist es anders. Seit sich Yannik zu meinem Beschützer aufgeschwungen hat, herrscht zwischen Larissa und mir Eiszeit. Ich weiß, dass sie ihn immer schon ganz niedlich fand, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie in ihn so sehr verschossen ist. Natürlich hat sie mir das nicht gesagt. Wir reden ja nicht mehr miteinander.
Aber ihr Verhalten, ihre Blicke, ihre Körpersprache, wenn Yannik bei mir ist, sprechen Bände.
Ich kann sie irgendwie verstehen. Sie fährt voll auf ihn ab und der Trottel hängt sich an mich wie eine Klette. Da würde ich an ihrer Stelle auch zu viel bekommen. Allein die Vorstellung, dass Matti eine andere... schrecklich. Aber hey, dann soll sie doch auf Yannik sauer sein. Der verhält sich doch wie ein Idiot.
Ich jedenfalls will nichts von Yannik, wirklich gar nichts.
Anfangs habe ich noch gedacht, die Sache zwischen Larissa und mir würde sich schon irgendwie wieder gerade biegen lassen. Ein Irrtum.
Mittlerweile würde ich ihr am liebsten eine reinzimmern, wenn sie, wie jetzt an Maxims Rücken gelehnt, hockt und in ihr beschissenes Tagebuch schreibt. Das hat Larissa schon immer getan. Weil es sie beruhigt, ihr angeblich hilft, ihre Gedanken zu sortieren.
Früher habe ich ihr das abgekauft. Mittlerweile glaube ich, dass sie hier bloß so eine dämliche Anne-Frank-Nummer durchzieht und darauf hofft, dass sie irgendwann ne tragische Berühmtheit wird. Post mortem, oder so.
Ich hasse dieses Tagebuch, weil sie darin über Matti und mich geschrieben hat. Alles über den verfluchten Tag, als es passiert ist, steht da drin. Festgehalten in Larissas Prinzessinnenschrift.
Aber dazu hatte sie kein Recht. Und die Vorstellung, dass ihr Traum wahr werden könnte und dieser Part wirklich einmal Anne-Frank-like in der ganzen Welt verbreitet werden könnte, macht mich wahnsinnig.
Da wäre es mir fast lieber, sie würden Larissa mitsamt ihrem verfickten Tagebuch auch abholen.
Wenn schon irgendwer erfahren muss, was mit Matti passiert ist, dann wenigstens mit meinen Worten. Keine verschwurbelte Kleinmädchenprosa aus irgendeinem verschissenen Poesiealbum. Keine verkitschte Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Einfach nur die Wahrheit.
„Wir haben aus der Katastrophe gelernt. Es wird nicht mehr auf Demonstranten geschossen, so fern von diesen keine körperliche Bedrohung für die Soldaten und Sicherheitskräfte ausgeht. Aufwiegler werden separiert und in Haft genommen. Anschließend beginnt ein von Experten ausgearbeitetes Umerziehungsprogramm, so dass wir die Jugendlichen bei Zeiten wieder in die Gesellschaft eingliedern können. Es ist unser Wunsch und unsere Hoffnung, sie so zu verantwortungsvollen Mitgliedern unserer Gesellschaft zu formen.“
Ich kann Mattis Küsse immer noch schmecken. Wenn ich meine Augen schließe, spüre ich seine Lippen auf meinen. Ich fühle seinen Atem, seine Hände, seinen Schwanz.
Wir haben noch in der ersten Nacht miteinander geschlafen. Und seitdem wieder und wieder. Anfangs erschien es mir komisch, Sex zu haben, wenn um einen herum Dutzende von Menschen sind und alles mitbekommen. Aber ich habe schnell geschnallt, dass Privatsphäre überhaupt keine Rolle spielt, wenn du sowieso keine hast. Hier gucken dir die Leute sogar beim Scheißen zu. Da ist Sex nun wirklich kein Aufreger.
Matti war in mir, als Frau Kaltenberg nach dem verfluchten Dackel brüllte. Sein Atem ging stoßweise, als er schlagartig auf mir erschlaffte wie ein Sack Kartoffeln und wieder zu meinem Schutzschild wurde. Nur sein Glied in mir blieb hart.
Ich hörte wie sich die Tür öffnete und wusste, dass ich jetzt wieder zur lebenden Toten werden musste, wie schon so viele Male davor.
Aber ich wollte nicht. Verdammt noch mal, ich wollte nicht!
Ich hasse es, mich tot stellen zu müssen. Ich bin nicht tot! Wenn ich mit Matti schlief, fühlte ich mich lebendig. Glücklich. Und frei.
Niemand hatte das Recht, mir dieses Gefühl zu nehmen.
„Ich will nicht tot sein“, raunte ich Matti zu.
„Leise, Jule!“ Seine Antwort war nicht mehr als ein Raunen.
„Ich will dich! Hörst du! Ich liebe dich. Und ich will dich.“ Meine Stimme zitterte vor Erregung.
„Jule!“ Es klang flehentlich. Die Soldaten mussten schon längst im Raum sein.
Aber das war mir egal. In diesem Moment gab es nur Matti, mich und unsere Liebe. Langsam bewegte ich mein Becken, sorgte dafür, dass er noch tiefer in mich eindrang.
„Jule!“
Es ist schön, lebendig zu sein. Es ist schön, jemanden zu haben, den man liebt. Es ist schön geliebt zu werden.
„Jule!“
„Weiter, Matti! Weiter!“
Ich wusste natürlich, wie ich mich bewegen musste, damit es ihm gefiel. Ich kannte seine Vorlieben in- und auswendig. Wir hatten ja viel geübt.
„Jule!“
„Ich bin nicht tot.“
„Jule!“
Seine Stimme gellte in meinem Kopf, als er in mir kam.
Doch erst, als sie ihn grob von mir herunterzogen, begriff ich, dass er meinen Namen wirklich geschrien hatte.
„Allen besorgten Eltern, Angehörigen und Freunden kann ich am heutigen Silvesterabend mit Genugtuung und aufrichtiger Freude versichern: Sie werden Ihre Lieben bald wohlbehalten wiedersehen!“
Seitdem spielt nichts mehr eine Rolle. Ich bin nur noch hier, weil ich es Matti versprochen habe. Wenigstens das möchte ich halten.
Yanniks Versuche mich zu trösten, ermüden mich nur noch. Ich lasse sie über mich ergehen. Selbst Maxims peinliche Rechtfertigungsversuche können mich nicht mehr wirklich aufregen. Soll er seine Mutter eben für eine Ach-so-tolle-Widerstandskämpferin halten. Wahrscheinlich glaubt er sogar, dass seine Helden-Mami uns selbst dann noch mit ihren nutzlosen Rufen penetriert, wenn er schon längst abgeholt worden ist. Die Frau hat schließlich eine Mission. Ja, klar! Träum weiter, Maxim, wenn es dir hilft.
Larissa hat nach der Tragödie noch einmal versucht, mit mir zu reden. Irgendwann stand sie vor mir, unterm Arm ihr dämliches Tagebuch.
„Jule, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“
„Ja, ja.“ Leck mich am Arsch, nur vornehmer formuliert.
Ein kurzes Schweigen, dann ein Räuspern und ein zweiter Versuch.
„Nein, ehrlich. Jederzeit. Wir könnten reden. So wie früher.“
„Hab’s gehört. Bin ja nicht taub!“
Gröber geht es kaum noch. Um noch deutlicher zu werden, hätte ich sie ohrfeigen müssen.
Larissa scharrte mit den Füßen, gab aber immer noch nicht auf.
„Wenn ich irgendwas für dich tun kann...“
„Scheiße, nein! Es sei denn, du kannst dafür sorgen, dass Matti zurückkommt. Kannst du das? Wohl kaum! Wenn nicht, lass mich in Ruhe. Lasst mich alle einfach in Ruhe. Das kannst du meinetwegen auch für die Nachwelt in dein beschissenes Poesiealbum malen.“
„Jule, ich...“
„Scheiß drauf!“
Seitdem ist endgültig Funkstille.
Es ist mir egal.
Hier drin ist ein Tag wie der andere. Ich vegetiere vor mich hin, stopfe den Fraß in mich hinein, den sie uns hierlassen, lasse mich endlos von Yannik belabern. Wenn die Soldaten kommen, schmeiße ich mich in den Dreck. So wie jetzt, während ich darauf warte, dass sie einen von uns auswählen. Dieses Mal ist alles still. Alle wissen, wie sie sich verhalten müssen. Es sind schon seit längerer Zeit keine Neuankömmlinge mehr hierhin gebracht worden.
Ich kann nicht sagen, warum ich plötzlich die Augen öffne. Vielleicht ist es Instinkt, vielleicht göttliche Fügung. Keine Ahnung, ist mir auch egal.
Aber was ich sehe, verschlägt mir die Sprache. In einer der Uniformen steckt ein vertrauter Mensch. Zunächst glaube ich zu träumen. Glaube, dass mir meine Sinne einen Streich spielen. Dann beginne ich zu begreifen. Einer der Soldaten hat Mattis Statur. Mattis Hände. Mattis Gesicht.
Mein Herz setzt für einen Schlag aus, als sich aus vielen Teilen ein großes Bild ergibt.
Matti ist zurück.
„Ich glaube, dass es an der Zeit ist, versöhnlich aufeinander zuzugehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir neben der notwendigen und zu Recht von einer überwältigenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgern geforderten Härte auch vertretbare Milde walten lassen müssen. Wir können keine Toten zum Leben erwecken, das Blutvergießen aus der Vergangenheit nicht rückgängig machen, aber wir können dafür sorgen, dass verwirrte Geister, junge Menschen, die sich von ihrer Wut verleitet auf einen fatalen Irrweg begeben haben, wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Als bessere, geläuterte Menschen.“
Gegen jede Vernunft verstoßend springe ich auf. Ein ungläubiges Stöhnen erfüllt den Raum. Wahrscheinlich Yanniks. Was ich mache, kommt einem Selbstmord gleich. Aber was kann jetzt noch Schlimmes passieren? Matti ist zurück.
Ich stürze auf ihn zu, umarme ihn, bedecke sein Gesicht mit Küssen. Freudentränen kullern meine Wangen hinunter. Ich klammere mich selbst dann noch an Matti, als er mich schon längst von sich wegdrückt.
Und dann sehe ich seinen Blick, kalt und abweisend. Ganz anders als damals an dem Tag, als wir unsere Liebe entdeckten. Mir stockt der Atem.
„Matti?“ Meine Stimme ist schrill, mehr Quieken als Sprechen. „Matti? Was ist mir dir? Ich bin es doch. Jule!“
Er zeigt keinerlei Regung.
„Die da?“ Aufreizend lässig deutet er mit dem Zeigefinger auf mich. „Nehmen wir die mit?“
Er hat noch nicht einmal meinen Namen gesagt.
Einer der anderen Soldaten, offenbar sein Vorgesetzter, nickt gelangweilt. Das Desinteresse steht ihm ins Gesicht geschrieben.
„Matti!“ Ich trommele mit meinen Fäusten gegen seine Brust. So hart, dass es ihm wehtun muss. Aber er reagiert nicht.
Ich träume. Das muss ein Alptraum sein. Aber wieso spüre ich dann seinen Griff so schmerzhaft an meinem Oberarm?
„Matti! Erkennst du mich nicht?“ Es ist mein letzter Versuch.
Sein Blick bleibt fremd.
Mit einem Mal überkommt mich die Erkenntnis. So plötzlich, dass es schmerzt. Sie haben irgendetwas mit ihm gemacht. Ihn verändert. Sein Gehirn gefickt. Das ist nicht mehr der Matti, den ich liebe und der mich geliebt hat.
Schlagartig gefriere ich innerlich zu Eis. Ich kann nicht einmal mehr heulen, so leer fühle ich mich. Das ist es dann also. Jetzt nehmen sie mich auch mit.
„Nein!“ Yanniks Schrei halt durch den Kellerraum. Halt bloß die Schnauze, durchfährt es mich. Sonst holen sie dich auch noch.
In diesem Moment saust etwas an meinem Kopf vorbei und trifft Matti an die Schläfe. Seine Finger lösen sich von meinem Arm. Überrascht taumelt er zurück und guckt blöde in Richtung des Wurfgeschosses.
Jetzt erst kann ich sehen, was ihn getroffen hat. Es ist ein kleines, in Leder eingeschlagenes Notizheftchen. Larissas Tagebuch.
Mit einem Mal steht Larissa neben uns. Sie ist völlig aufgelöst.
„Du Wichser!“, schreit sie Matti an. „Du verdammter, blöder Wichser.“
Sie versucht, ihn von mir wegzuschubsen.
Matti grinst schief. Dann boxt er ohne Vorwarnung Larissa die Faust ins Gesicht. Es knackt hässlich.
Ich schreie hysterisch, als Larissas Blut auf mein T-Shirt spritzt.
„Jetzt reicht es aber!“, donnert Mattis Vorgesetzter. „Schluss mit dem Kasperletheater!“ Er zeigt mit einer herrischen Handbewegung auf Larissa. „Schnapp dir diese Irre da, und dann raus hier.“
Matti gehorcht. Er packt Larissa am Handgelenk und zieht sie zur Tür. Mich würdigt er keines Blickes.
„Das kannst du nicht tun“, brülle ich. „Matti! Lass sie los!“
Larissa lässt sich widerstandslos mitschleifen. Nur ihr Blick wandert verzweifelt über den Fußboden, bis er endlich an ihrem Tagebuch heften bleibt.
„Larissa!“ Meine Stimme überschlägt sich. „Mein Gott, Larissa!“
Aber für heute ist die Show vorbei. Die Tür knallt krachend ins Schloss und Larissa, Matti und die drei anderen Soldaten sind verschwunden.
Ich sinke in mir zusammen.
„Scheiße“. Das ist alles, was ich noch herausbekomme.
„Unsere Devise muss lauten: Wir wollen die Auswirkungen der vergangenen, krisenhaften Monate nicht einfach nur überstehen. Wir wollen stärker daraus hervorgehen, als wir hineingekommen sind. Das geht, gemeinsam können wir das schaffen. Ich habe in den letzten Wochen mit vielen Bürgerinnen und Bürgern gesprochen und dabei einen neuen Geist gespürt. Verantwortung für das Ganze. Verantwortung für unser Land. Das macht mich zuversichtlich. Unser Land hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt. Und deshalb können auch wir die Herausforderungen unserer Generation meistern.“
Es scheinen Stunden zu vergehen, bis sich Yannik endlich zu mir setzt. Der Pony klebt auf seiner Stirn. Ich kann sehen, dass er geheult hat. An seinen Hemdsärmeln klebt noch der Rotz.
Einen Augenblick lang spiele ich mit dem Gedanken, ihn zu ignorieren. Aber dann platzt es aus mir heraus: „Du hättest dich nicht einmischen dürfen, du blödes Arschloch!“ Ich lasse meiner Wut jetzt freien Lauf. „Aber du musstest ja unbedingt, den Helden spielen und meinen Namen plärren, als sie mich wegbringen wollten. Wenn du einfach deine dumme Fresse gehalten hättest, dann wäre Larissa noch hier. Dann hätte sie sich nicht für dich opfern müssen.“
Yannik schaut mich verständnislos an.
„Für... für mich?“, stammelt er.
„Schnallst du es denn noch immer nicht?“, fahre ich ihn an. „Bist du wirklich so dämlich, Yannik? Larissa war in dich verknallt. Hast du es jetzt kapiert? Verknallt! So sehr, dass sie lieber selbst über die Klinge gesprungen ist, als zuzulassen, dass du es tust. Du hast die ganze Zeit über die Falsche beschützt. Das Mädchen, das dich wollte, haben sie eben gerade weggebracht.“
Ein unkontrolliertes Schluchzen überkommt mich. Verzweifelt lasse ich mein Gesicht auf die Knie senken. Als ich nach einer halben Ewigkeit wieder aufschaue, blicke ich direkt in Yanniks Miene. Jegliche Farbe ist daraus gewichen.
„Du glaubst wirklich an diesen Scheiß, den du gerade verzapft hast, nicht wahr?“ Die Worte rattern nur so aus ihm heraus. „Du denkst echt, dass du das große Ganze durchschaust und als einzige den Durchblick hast, was?“
Ich zucke hilflos mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, was Yannik von mir will.
„Ach, leck mich doch!“
„Das könnte dir so passen!“ Yanniks Gesicht ist nun unmittelbar vor meinem. Für die anderen muss es so aussehen, als wollten wir uns gleich küssen.
„Es tut mir leid, wenn ich dein Weltbild zerstören muss“, presst Yannik hart heraus, „aber Larissa hat sich nicht für mich geopfert. Sie war auch nie in mich verliebt, Jule. Larissa hat sich einen Dreck aus mir gemacht.“ Er springt auf und läuft zu dem Tagebuch, das immer noch an der Stelle liegt, wo es zu Boden gefallen ist. „Ich war ihr scheißegal.“
Ich schüttele den Kopf. „Bullshit. Ich habe doch gesehen, wie sie geguckt hat, wenn du mit mir herumgehangen hast. So guckt man nicht, wenn einem jemand scheißegal ist.“
Für einen Moment glaube ich, dass Yannik mir gleich eine runterhaut. Dann lässt er resigniert die Schultern sinken.
„Gott, du raffst es immer noch nicht, oder? Offenbar hat Matti dir wirklich jede Hirnzelle aus dem Kopf gevögelt.“
Er nimmt Larissas Tagebuch und wirft es mir unvermittelt auf den Schoß.
„Lies das! Irgendeine beschissene Seite! Völlig egal welche“, befiehlt er. „Nun mach schon“, bellt er, als ich zögere.
Ich gehorche, schlage blindlings eine Seite auf.
Dort wo ich schwulstige Texte erwartet habe, steht nur ein einziges Wort: JULE. Wieder und wieder JULE. Seitenweise. Nichts anderes. Immer nur JULE. Das Werk einer Besessenen.
„Ich...“ Mir fehlen die Worte.
Matti hat dafür umso mehr davon übrig. Und obwohl ich keines davon hören will, breitet er jedes einzelne genüsslich vor mir aus. „Larissa war in dich verknallt, Jule. Schon immer. Für dich mag es Freundschaft gewesen sein, aber für sie... Scheiße, es hat ihr fast das Herz zerrissen, als du hier drin mit Matti rumgemacht hast. Gerade hier, in diesem Kackloch, wo sie dich wirklich gebraucht hätte. In das sie dir übrigens blindlings gefolgt ist. Schon vergessen? Aber davon hattest du ja keine Ahnung. Du warst ja ausschließlich mit Matti und später dann mit deinem verfickten Selbstmitleid beschäftigt.“
Meine Zunge ist ein Ambos, es ist unmöglich sie zu bewegen.
„Larissa hat sich für dich geopfert“, fährt Yannik unbarmherzig fort. „Du hast sie auf dem Gewissen. Genauso wie Katharina und Matti. Die sind alle deinetwegen draufgegangen.“
Damit dreht er sich um und lässt mich stehen.
Das Blut rauscht in meinem Kopf. Die Welt scheint sich zu drehen. Ich kann sie alle vor mir sehen. Katharina. Matti. Larissa.
Ich wollte das nicht.
Ich wusste das nicht.
Dann beginne ich zu schreien. Lauter als je ein Mensch geschrien hat. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib, in der Hoffnung, dass sie endlich kommen und mir meine rausreißen.
„Es ist nicht meine Schuld“, schreie ich. „Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. ES IST NICHT MEINE SCHULD!“
Ich schreie so lange, bis Yannik mich erreicht hat und mir mit aller Kraft seine Hand gegen den Mund presst.
„Jule“, zischt er und da ist nichts Tröstendes in seiner Stimme. „Halt jetzt endlich mal die Fresse!“
„Und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien ein erfülltes, ein glückliches und ein gesegnetes Jahr 2020.“