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Thema des Monats Als Matti wiederkam

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Monster-WG
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15.07.2004
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Als Matti wiederkam

„Und trotz allem sage ich hier und heute, laut und deutlich, und mit felsenfester Überzeugung: Deutschland geht es gut!“
(Auszug aus der Neujahrsansprache der Gesamtaufsichtsratsvorsitzenden der Wirtschaftsrepublik Deutschland im Jahr 2019)


Wenn Frau Kaltenberg nach ihrem Dackel Gustl ruft, erstarre ich zu Stein. Lasse mich zu Boden fallen, bleibe liegen wie tot, versuche nicht einmal mehr zu atmen. So hat Matti es mir beigebracht und inzwischen habe ich Übung darin. Von einer Sekunde auf die andere verwandele ich mich in eine Statue, verharre reglos, das Gesicht in den Staub gedrückt, mit zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten.
Nur mein Herz will keine Ruhe geben, schlägt wie verrückt; ein unaufhörlicher Trommelwirbel in meiner Brust, Tamtam, Tamtam, Tamtam, Tamtam, so schrecklich laut, dass es einfach auffallen muss. Ich versuche es zu bremsen, mich zu beruhigen. Sie dürfen mich nicht erwischen, das habe ich versprochen. Aber je mehr ich mich anstrenge, desto schneller wird der Rhythmus, immer lauter und lauter, bis ein ganzes Orchester aus verräterischen Pauken in mir dröhnt.
In solchen Momenten wünschte ich, ich hätte kein Herz.
Dann müsste ich keine Trauer mehr fühlen, keinen Selbsthass. Und vor allem keine Schuld. Denn Schuld bin ich. Da kann Yannik noch so oft das Gegenteil behaupten.
Es ist alles meine Schuld.

Gustl ist schon seit über drei Monaten tot, überfahren von einem der zahllosen Militärwagen, die hier unentwegt vorbeirattern.
Frau Kaltenberg ruft ihn nur noch uns zuliebe. Es ist ein Zeichen, ihre Warnung an uns, dass sie kommen, um wieder einen von uns zu holen. Mehr könne sie nicht machen, sagt Maxim, das sei alles, was wir von ihr erwarten könnten. Wenn Maxim so redet, klingt seine Stimme merkwürdig kalt, und ich glaube, er würde jedem, der ihm widerspricht, ohne zu zögern seine Faust ins Gesicht rammen.
Ich finde schon, dass Frau Kaltenberg mehr machen könnte, ja, mehr machen müsste. Sich den uniformierten Männern entgegenstellen, sie anschreien, treten, beißen, schlagen, was weiß ich. Meinetwegen ihnen mit bloßen Fingern die Augen aus den Höhlen stechen.
Frau Kaltenberg ist Maxims Mutter, und deshalb müsste sie alles, wirklich alles, versuchen, um ihn zu retten.
Aber sie warnt uns nur. Maxim behauptet, dass seine Mutter eine Heldin sei, eine Widerstandskämpferin gegen das Regime, die für uns ihren Hals riskiere. Dankbar müssten wir sein, sagt er.
Dankbar, dass ich nicht lache.
Für mich ist Frau Kaltenberg einfach nur erbärmlich. Kaum eine Erwähnung wert. Natürlich sage ich das nicht zu Maxim, ich habe schlichtweg keinen Bock von ihm vermöbelt zu werden; aber manchmal, wenn ich ihn angucke, wie er einfach nur da hockt, mit offenem Mund, und blöde vor sich hinbrütet, dann weiß ich, dass er insgeheim dasselbe denkt. Dass seine Mutter einfach nur ein feiger Haufen Scheiße ist. Und dass es ihre verdammte Mutterpflicht wäre, ihn zu retten. Egal, welche Konsequenzen das für sie hätte.

Ich weiß nicht, wie meine Eltern reagiert haben, als die Soldaten mich aufgegriffen und in diesen beschissenen Keller gesperrt haben. Irgendwer muss es ihnen ja schließlich gesagt haben, dass ihr kleines Mädchen jetzt ein subversives Element, eine Aufwieglerin ist. Was für ein Bullshit!
Wie auch immer. Meine Mutter hat wahrscheinlich Rotz und Wasser geheult. Für die ist mit Sicherheit eine Welt untergegangen. Mein Vater hat nicht geweint. Der nicht. Der schreit nur. Geflucht wird er haben, getobt und gewütet, und bestimmt hat er irgendetwas kaputt geschmissen. Aber irgendwie könnte ich das sogar verstehen. Wieder und wieder hatte er mich gewarnt, dass ich mich fernhalten solle von dem Mob, der auf die Straßen geht und seine Wut hinausbrüllt. Weil das der falsche Weg sei. Ein Weg, der einen geradewegs dorthin führt, wo ich jetzt bin. Er hat Recht gehabt.
Aber gerettet hat er mich auch nicht.
Vielleicht ist es unfair, so verächtlich über Frau Kaltenberg zu denken. Denn genaugenommen ist mein Vater wahrscheinlich ein noch größerer Haufen Scheiße als sie. Denn mein Vater riskiert gar nichts für mich.
Ich vermisse ihn nicht einmal. Es gibt nur einen, der mir fehlt.


„Selbstverständlich weiß ich, dass viele natürlich auch mit Sorgen in das neue Jahr gehen. Und tatsächlich wird das wirtschaftliche Umfeld nächstes Jahr nicht einfacher, sondern schwieriger. Ich will und ich werde Ihnen nichts vormachen in Zeiten einer Weltwirtschafts- und Bankenkrise von ungeahnten Ausmaßen. Nach dem Zusammenbruch der Eurozone. Schwieriges liegt vor uns. Das sollte uns jedoch nicht mutlos werden lassen, sondern – im Gegenteil – Ansporn sein. Gemeinsam sind wir stark genug, die deutsche Wirtschaft und den deutschen Wohlstand wieder wachsen zu lassen. Aber ich betone auch: Das gelingt nur mit vereinten Kräften, mit einer klaren Linie und einer starken führenden Hand.“


„Alles klar, Jule?“
Ein Arm legt sich um meine Schulter. Yannik natürlich.
Yannik kommt immer, wenn ich weine. Um mich zu trösten, sagt er, rein freundschaftlich, weil er mich mag. Aber ich bin nicht blöd. Ich weiß genau, was Yannik für mich empfindet. Dass er bis über beide Ohren in mich verknallt ist. Und Larissa weiß es auch. Ich kann das an ihren wütenden Blicken sehen, während sie in ihr verficktes Tagebuch kritzelt.
„Alles super. Mir scheint die Sonne aus dem Arsch!“
Sein Gesicht zeigt keine Regung.
„Du lügst. Niemandem hier geht es gut.“ Womit er natürlich Recht hat.
Ich zucke mit den Schultern. „Dann frag halt nicht so blöd! Zumindest geht es mir nicht schlechter als all den anderen auch.“
Yannik seufzt. „Ich glaube doch. Dir geht es sauschlecht. Matti fehlt dir!“. Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Seine Stimme verrät, wie wenig ihm das passt.
„Natürlich fehlt er mir“, raunze ich Yannik an, heftiger als beabsichtigt. „Matti fehlt allen hier. Er war der einzige, der diesen verschissenen Ort wenigstens ein bisschen erträglich gemacht hat.“
Noch während ich das sage, begreife ich, wie sehr Yannik meine Worte verletzten müssen. Das hat er nicht verdient, meldet sich eine vorwurfsvolle Stimme in meinem Kopf. Er will dir nur helfen. Er ist dein Freund.
Das ist er wohl. Aber jetzt gerade ist mir scheißegal, wer oder was er ist.
Er ist nicht Matti.
Bloß das zählt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt: Matti fehlt allen hier!
Mittlerweile heule ich wie ein Schlosshund. Yannik sagt nichts mehr, hält mich einfach nur fest im Arm. Meinetwegen. Soll er doch. Wahrscheinlich tut ihm das besser als mir.


„Natürlich mussten und müssen wir auch weiterhin Opfer bringen. Da geht es uns nicht anders als unseren ausländischen Freunden und Verbündeten. In Zeiten wie diesen bekommt man nichts geschenkt, und manchmal muss man Härte zeigen. Keiner von uns tut das gern, auch ich nicht. Mit Trauer und Entsetzen erinnern wir uns noch immer an die furchtbaren Ereignisse während der - vom Volksmund pietätloser Weise benannten - Zahnspangen-Revolution im Februar des ausklingenden Jahres, als Tausende Jugendliche, zum Teil noch Kinder, auf die Straßen gegangen sind, um lauthals ihre Sorgen, ihre Ängste vor der Zukunft auszudrücken. Glauben Sie mir, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Niemand versteht diese Sorgen und Ängste besser als ich.“


Ohne Matti wäre ich hier verrückt geworden, soviel ist sicher. Er war der Erste, der für mich da war, als sie mich in dieses Kellerloch sperrten. Vor Angst zitternd, einer Panik nahe, stand ich da, als er meine Hand ergriff. Er tat das so selbstverständlich, als würden wir uns seit Jahren kennen, als wären wir uns seit Ewigkeiten vertraut.
„Hey!“, flüsterte er mir zu. „Es ist schon okay. Beruhige dich!“
Seltsamerweise tat ich das. Es war sein Blick. Mattis braune Augen waren wie... wie... ach drauf geschissen, jeder Vergleich würde ja doch nur bescheuert und oberkitschig klingen. Leckt mich doch!
Die Wahrheit ist: An Mattis Blick konnte ich mich festhalten. Bei ihm fühlte ich mich sicher.
„Biste alleine hierhin verfrachtet worden? Oder war noch jemand bei dir?“ Matti hielt noch immer meine Hand.
Ich schüttelte den Kopf und deutete dann mit einem schwachen Nicken auf Yannik, Larissa und Katharina, die dicht gedrängt zusammenstanden und zu uns rüberglotzten.
„Kennste den etwa?“, rief Larissa mir zu. Es klang anklagend. Irgendwie nach: Ist das etwa der Grund, warum wir in dieser verfotzten Scheiße hier stecken?
Ich ignorierte sie.
„Mit denen da“, sagte ich zu Matti gewandt.
„Wart ihr demonstrieren?“
Ich nickte kaum merklich.
Matti zog eine Augenbraue in die Höhe. „Schön blöd!“ Er grinste. „Und so was von verboten. Und gefährlich. Deine Idee, nehme ich an?“
Jetzt nickte ich nicht einmal mehr.


„Jede und jeder der 256 Toten, die diese Aufstände gefordert haben, waren zu viel. Das sage ich mit aufrichtigem Kummer im Herzen. Mein Beileid gilt den Familien der Verstorbenen. Aber Sorge und Angst – so nachvollziehbar sie auch sein mag – darf nicht in Wut und Gewalt umschlagen. Unsere Jugend hat einen Weg gewählt, der nicht tolerierbar war und bis heute nicht tolerierbar ist. Die Geschehnisse in Südeuropa, bei denen durch ähnliche Unruhen nicht bloß Hunderte, sondern Zehntausende ums Leben gekommen sind, sollten uns alle Warnung genug sein. Die Regierungen dort haben die Kontrolle längst verloren, es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. In Deutschland wird so etwas nicht passieren. Das, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ist mein Versprechen an Sie für das Jahr 2020."


Ich weiß selber nicht, was mich geritten hat, die anderen davon zu überzeugen, sich den Demonstrationen anzuschließen. Damals fand ich die Idee einfach nur sexy. Dass Larissa mitkommen würde, war klar. Larissa hätte mich niemals im Stich gelassen. Zumindest damals nicht. Yannik zu überzeugen, war leicht gewesen. Ein koketter Blick, ein vielsagendes Lächeln zur rechten Zeit – und Yannik folgte uns überall hin. Und Katharina hatte wahrscheinlich einfach nur Langeweile.
Wir langweilten uns schnell und oft. Von der ganzen Scheiße im Land bekamen wir natürlich alles mit, aber wirklich betroffen waren wir nicht. Wir waren auf der sicheren Seite, weil wir alle aus privilegierten Elternhäusern kommen, also zu den zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung gehören, denen es auch nach dem Zusammenbruch des Bankensystems und der großen Krise relativ gut geht. Leute wie uns nennen sie auf der Straße abfällig Geldadel, der politisch zwar keinen Einfluss, materiell aber nach wie vor genügend Mittel zur Verfügung hat, um sich im allgegenwärtigen Chaos ein weiches Nest zu bauen.
Die Oberschicht der Selbstgerechten. Selbst Matti dachte so.
Genau dafür schämte ich mich.
Wir waren der rosa Zuckerguss auf einer Torte aus Fäkalien. Uns passierte nichts – bis zu dem Tag, als ich auf die Idee kam, dass es endlich an der Zeit wäre, auch auf die Straße zu gehen. Solidarität und so!
Viva la Revolution!
Was für ein Scheißdreck! Und trotzdem machten wir uns auf.
Weit kamen wir nicht.

„Es ist nicht deine Schuld“, durchbricht auf einmal Yannik flüsternd die Stille. „Es ist nicht deine Schuld.“ Er hält mich noch immer im Arm, schmiegt seine Wange an meine, während er leise auf mich einredet.
„Es ist nicht deine Schuld!“ Offenbar hält er seine Worte für überzeugender, wenn er sie nur oft genug wiederholt. „Nicht deine Schuld.“
Ich fühle, wie sich mein Körper versteift. Mit einem Mal ist mir Yanniks Umklammerung unangenehm, sie erdrückt mich. Ich spüre seinen Körper eng an meinen gedrückt, viel zu fest, viel zu fordernd, um noch als freundschaftliche, tröstende Umarmung durchzugehen, und plötzlich bemerke ich, dass er eine Erektion hat.
Der Gedanke an seine Latte lässt Übelkeit in mir aufsteigen.
„Es ist nicht deine Schuld.“
Ich weiß nicht, wie oft er das jetzt schon zu mir gesagt hat. Nicht nur heute. Sondern seitdem wir hier gefangen sind.
Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn. Nur mit Mühe kann ich verhindern, dass ich ihm auf den Schoß kotze.
„Lass mich los!“ Meine Stimme ist übertrieben schrill und feindselig. „Sofort!“
Yannik löst mit erschrockener Miene seine Umarmung und reißt mit einer schnellen, unbeholfenen Geste seine Arme in die Höhe. Er sieht aus wie ein Handballtorwart, der einen Siebenmeter erwartet.
Gegen meinen Willen muss ich grinsen.
„Ich wollte nicht...“, stammelt er. „Ich habe doch nur...“
Das ist mehr als ich ertragen kann. Ich wende meinen Blick ab und komme vom Regen in die Traufe, denn jetzt sehe ich in das vorwurfsvolle Gesicht von Larissa.
Schon klar, dass ich hier keine Hilfe zu erwarten habe.
„Es tut mir leid“, sage ich zu Yannik. Und irgendwie auch zu Larissa.
Yannik macht einen Schritt auf mich zu, besinnt sich dann aber und bleibt zum Glück stehen, bevor er nah genug ist, um mich wieder in seine Arme schließen zu können.
Seine Lippen bewegen sich. Ich weiß, was jetzt kommt.
Bitte, sag es nicht!
Aber natürlich tut er es trotzdem.
„Es ist nicht deine Schuld, Jule. Es ist nicht deine Schuld.“


„Und deshalb müssen und werden wir durchgreifen. Dem Mob auf der Straße sage ich: Es gibt eine Null-Toleranz-Grenze. Wer sich in diesen Zeiten gegen das Wohl der Gemeinschaft stellt, hat mit drakonischen Strafen zu rechnen. Diejenigen, die sich den Ausschreitungen auf den Straßen anschließen und für Zerstörung und Chaos sorgen, werden von uns auf das Schärfste bekämpft. Selbst dann, wenn sie noch Kinder oder Jugendliche sind. Wir müssen und werden den Anfängen wehren. Wir müssen und werden die Kontrolle behalten, um Sicherheit und Frieden in unserem Land zu gewährleisten. Das schulden wir all denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die geduldsam und friedlich die schwierigen Zeiten zum Wohle aller ertragen.“


Meine Gedanken reisen wieder zurück zum Ankunftstag.
Einen Monat? Zwei? Keine Ahnung. Die Tage zähle ich schon lange nicht mehr. Zeit spielt hier keine Rolle. Aber ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.
„Es ist meine Schuld.“
„Was ist deine Schuld?“ Matti sah mich mit seinen braunen Augen durchdringend an.
„Dass wir hier sind“, schniefte ich. „Wenn ich nicht unbedingt zu dieser beschissenen Demo hätte gehen wollen, wären wir nicht hier.“
Matti drückte meine Hand.
„Klar. Es ist deine Schuld.“ Er lachte kurz auf. „So wie es auch deine Schuld ist, dass es diese Demos überhaupt gibt. Weil wir keine Zukunft haben, was übrigens auch deine Schuld ist. Es ist deine Schuld, dass Jugendliche sich nicht in größeren Gruppen versammeln dürfen. Es ist deine Schuld, dass die Banken uns alle nach Strich und Faden verarscht haben. Es ist deine Schuld, dass die Weltwirtschaftskrise so gut wie alles und jeden ruiniert hat. Und es ist deine Schuld, dass unsere Regierung zu einer korrupten Verbrecherbande mutiert ist, die alles daran setzt, das saumäßig viele Geld von einigen ganz wenigen Arschlöchern auf Kosten aller anderen zu sichern.“ Ein kurzes Augenzwinkern. „Alle Achtung, ich finde da hast du verdammt viel Schuld auf dich geladen. Und das mit...“, er mustert mich kurz, „... mit siebzehn?“
„Sechzehn!“
„Oha. Sechzehn. So jung und schon so schuldbeladen. Wenn du nicht aufpasst, wird es ein ganz böses Ende mit dir nehmen.“ Wieder dieses Augenzwinkern.
Mit einem Mal begriff ich, dass er mit mir flirtete. Nicht zu fassen, irgendwie absurd. Und trotzdem total schön.
„Und was schlägst du vor, damit es nicht so kommt? Damit es ein Happy End gibt?“
Ich zog ich einen Schmollmund, den ich für unwiderstehlich hielt.
Plötzlich wurde Matti ernst. „Hör jetzt gut zu!“ Seine Stimme war leise und eindringlich. „Das ist jetzt wirklich wichtig! Wenn von draußen so eine Alte nach ihrem Gustl brüllt, dann lässt du dich auf der Stelle fallen und spielst tot. Verstanden? Keinen Mucks. Einfach liegen bleiben, Fresse halten und abwarten!“
„Und warum?“
„Weil sie immer diejenigen holen, die irgendwie auffallen. Manchmal reicht es schon, wenn du im falschen Moment hustest. Versuch, dich unsichtbar zu machen. Dann haste gute Chancen, eine Weile unbeschadet hierzubleiben.“
„Wer sagt denn, dass ich hierbleiben will?“ Meine Worte barsten vor Trotz.
Matti lachte bitter. „Glaubst du, draußen wird es besser? Nein, wird es nicht! Falls du hoffst, dass die dich irgendwann einfach wieder nach Hause lassen, vergiss es einfach. Spart viele Tränen der Enttäuschung.“
„Ja und?“, antwortete ich noch immer bockig. „Ist mir auch egal.“
„Aber mir nicht!“
Ich schwöre auf alles, was mir heilig ist: Noch nie zuvor hatte mich jemand so eindringlich angesehen, wie Matti es in diesem einen Augenblick tat. Und wahrscheinlich kann es kein Außenstehender begreifen, aber in jenem Moment verstand ich, dass Matti mich liebte. Ich weiß bis heute nicht, warum, weiß nicht, wie das geschehen konnte und wieso es so verteufelt schnell ging. Aber dass er mich liebte, war unübersehbar.
Und ich, ich liebte ihn auch. Nein! Liebe ihn auch.
„Versprich mir, dass du dich nicht von ihnen erwischen lässt. Versprich es mir einfach, okay?“
„Okay“, antwortete ich mit trockenem Hals. „Ich verspreche es dir.“
Er atmete einmal tief durch, bevor er weitersprach. „Danke. Halt dich einfach an das, was ich dir gesagt habe. Und erzähle es am Besten auch deinen Freunden. Es ist sicherer, wenn sie für den Ernstfall gewappnet sind.“

Der Ernstfall folgte auf dem Fuß. Wie in einem schlechten Drehbuch. Als wäre es abgesprochen, ertönte just in diesem Moment Frau Kaltenbergs Schrei.
„Gustl! Gustlchen, wo bist du? Komm zu Frauchen, Gustl! Guuuuuuuuuuuuuuustl?“
Mir bot sich ein surreales Bild. Die Mehrzahl der Gefangenen warf sich zu Boden, während ein Dutzend, ausschließlich Neuankömmlinge, irritiert stehen blieb.
Plötzlich änderte sich meine Perspektive und ich fiel. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass Matti mich zu sich hinunter zog.
„Liegen bleiben!“ Keine Bitte, sondern ein Befehl.
„Meine Freunde... ich muss ihnen noch...“
„Zu spät!“, unterbrach mich Matti schroff. „Du kannst es ihnen vielleicht später sagen. Sie werden gleich kommen und jemanden holen.“
„Wer kommt? Und warum nur vielleicht?“
Aber da hatte mich Matti bereits unter seinem Gewicht begraben. So geborgen konnte mir nichts passieren. Matti, mein menschlicher Schutzpanzer.


„Keiner will ein weiteres Blutvergießen. Niemand möchte, dass sich die schrecklichen Ereignisse vom Februar wiederholen und wir wieder um unsere Kinder trauern müssen. Deshalb haben wir Maßnahmen ergriffen, drastische, aber unvermeidliche, die eine derartige Eskalation zukünftig verhindern. Es ist mir schmerzlich bewusst, dass unser Handeln noch vor zwei oder drei Jahren völlig undenkbar gewesen wäre. Aber die Zeiten haben sich geändert. Ich habe mir das nicht gewünscht. Und doch gibt es keine Alternative: Wir tun das, was wir als Regierung tun müssen. Weil es unsere Pflicht, unser Auftrag ist.“


Katharina hatte nicht soviel Glück.
Es lag an ihrer Stimme, dass ausgerechnet sie geholt wurde. Viele andere, die mit uns an diesem Tag neu in den Keller gesperrt worden waren und die Regeln noch nicht kannten, hatten ebenfalls geschrien. Aber Katharina hatte sie alle übertönt. Ihre Stimme war trainiert. Irgendwann hatte sie mir mal erzählt, dass sie gern Opernsängerin geworden wäre.
Verdammte Scheiße.
Die Bilder laufen bis heute in meinem Kopf ab wie in einem Film. Vier uniformierte Männer, die Katharina abführen. Katharinas panische Schreie, als ihr klar wird, dass ihr nichts Gutes blüht. Die Gesichter derjenigen, die schon länger hier unten sind, sprechen Bände. Da braucht es keine Worte. Katharinas vor Angst geweitete Augen, die ein letztes Mal auf mir weilen. Anklagend, weil ich die Schuld dafür trage. Dann schließt sich krachend die schwere Eisentür, die unser Loch von der Außenwelt trennt, und Katharina ist verschwunden.
Ich habe sie nicht wiedergesehen.
Kacke! Ich hätte sie warnen sollen. Ihr erzählen, was Matti mir geraten hat. Sie mit nach unten auf den Boden reißen müssen. Dann hätten sie jemanden anderen... Dann wäre Katharina noch...
Aber ich habe sie nicht gewarnt. Nur dagelegen und gehofft, dass die Soldaten mich übersehen.

Später habe ich Matti gefragt, ob Katharina tot sei. Er zuckte mit den Schultern.
„Nein“, sagte er nur. „Wahrscheinlich nicht.“
Einen kurzen Moment lang schoss so etwas wie Erleichterung in mir hoch. Für einen Sekundenbruchteil fühlte ich mich nicht mehr ganz so schuldig.
Bis Matti seinen Satz zu Ende sprach: „Aber es wäre besser für sie.“
„Es wäre besser tot zu sein? Wie meinst du das? Warum sagst du so etwas Schreckliches?“
Matti seufzte, setzte zu einer Antwort an und schüttelte dann den Kopf. „Nicht heute! Nicht am ersten Tag. Am besten überhaupt nicht.“
Ich fing an zu heulen. Er zog mich zu sich heran. Bedachte mich mit seinem Zauberblick. Plötzlich löste sich alles in mir.
„Katharina!“ Dann versiegten mir meine Worte im Mund.
Statt meiner höre ich Mattis Stimme.
„Es ist nicht deine Schuld, Jule!“
Die gleichen Worte, die Yannik immer verwendet.
Aber wenn Matti sie aussprach, glaubte ich ihm.

Inzwischen glaube ich an gar nichts mehr. Das meiste ist in der Realität eh anders, als man es sich vorgestellt hat.
Larissa zum Beispiel. Ich habe mal gedacht, dass wir richtig gut befreundet sind. BFFs. Best friends forever. Boah Mädchen, wie dämlich warst du eigentlich? Nur weil man an sonnigen Tagen auf einer Wellenlänge funkt, heißt das nicht, dass das auch dann noch der Fall ist, wenn man plötzlich im Regen steht. Wenn unterm Schirm nur Platz für eine Person ist, dann wird ohne Rücksicht auf Verluste geschubst und geschoben. Das habe ich auf die harte Tour gelernt. Ist ja nicht so, dass man sich in der Hölle nicht weiterbilden kann.
Früher waren Larissa und ich ein Herz und eine Seele. Haben alles geteilt, viel gelacht, uns von unseren Träumen erzählt. Einmal haben wir uns sogar geküsst, weil ich wissen wollte, wie es sich mit einer Frau anfühlt. Ich muss gestehen, Larissa kann geil küssen. So richtig mit Gefühl. Sie war mir näher als sonst irgendwer. Ja, ehrlich, ich habe die echt mal geliebt.
In der Clique waren immer wir es, die den Ton angaben. Kaum eine Sache, bei der wir nicht der gleichen Meinung waren. Aber an dem Tag, als sie uns geschnappt haben, wäre Larissa viel lieber daheim geblieben. Sie ist mir zuliebe mitgegangen.
Klar, dass sie mich das jetzt spüren lässt.
Seit wir hier gefangen sind, sprechen wir kaum noch miteinander. Zuerst habe ich mich einfach zu sehr geschämt, weil ich uns alle so sehr in die Scheiße geritten habe. Weil ich die Verantwortung an Katharinas Schicksal trage. Und natürlich wegen Matti. Matti und ich waren eins. Zwischen Matti und mir passte kein Blatt Papier. Die Zeit mit ihm war mir heilig.
Ich bin mir sicher, dass Larissa das verstanden hat.
Jetzt ist es anders. Seit sich Yannik zu meinem Beschützer aufgeschwungen hat, herrscht zwischen Larissa und mir Eiszeit. Ich weiß, dass sie ihn immer schon ganz niedlich fand, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie in ihn so sehr verschossen ist. Natürlich hat sie mir das nicht gesagt. Wir reden ja nicht mehr miteinander.
Aber ihr Verhalten, ihre Blicke, ihre Körpersprache, wenn Yannik bei mir ist, sprechen Bände.
Ich kann sie irgendwie verstehen. Sie fährt voll auf ihn ab und der Trottel hängt sich an mich wie eine Klette. Da würde ich an ihrer Stelle auch zu viel bekommen. Allein die Vorstellung, dass Matti eine andere... schrecklich. Aber hey, dann soll sie doch auf Yannik sauer sein. Der verhält sich doch wie ein Idiot.
Ich jedenfalls will nichts von Yannik, wirklich gar nichts.

Anfangs habe ich noch gedacht, die Sache zwischen Larissa und mir würde sich schon irgendwie wieder gerade biegen lassen. Ein Irrtum.
Mittlerweile würde ich ihr am liebsten eine reinzimmern, wenn sie, wie jetzt an Maxims Rücken gelehnt, hockt und in ihr beschissenes Tagebuch schreibt. Das hat Larissa schon immer getan. Weil es sie beruhigt, ihr angeblich hilft, ihre Gedanken zu sortieren.
Früher habe ich ihr das abgekauft. Mittlerweile glaube ich, dass sie hier bloß so eine dämliche Anne-Frank-Nummer durchzieht und darauf hofft, dass sie irgendwann ne tragische Berühmtheit wird. Post mortem, oder so.
Ich hasse dieses Tagebuch, weil sie darin über Matti und mich geschrieben hat. Alles über den verfluchten Tag, als es passiert ist, steht da drin. Festgehalten in Larissas Prinzessinnenschrift.
Aber dazu hatte sie kein Recht. Und die Vorstellung, dass ihr Traum wahr werden könnte und dieser Part wirklich einmal Anne-Frank-like in der ganzen Welt verbreitet werden könnte, macht mich wahnsinnig.
Da wäre es mir fast lieber, sie würden Larissa mitsamt ihrem verfickten Tagebuch auch abholen.
Wenn schon irgendwer erfahren muss, was mit Matti passiert ist, dann wenigstens mit meinen Worten. Keine verschwurbelte Kleinmädchenprosa aus irgendeinem verschissenen Poesiealbum. Keine verkitschte Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Einfach nur die Wahrheit.


„Wir haben aus der Katastrophe gelernt. Es wird nicht mehr auf Demonstranten geschossen, so fern von diesen keine körperliche Bedrohung für die Soldaten und Sicherheitskräfte ausgeht. Aufwiegler werden separiert und in Haft genommen. Anschließend beginnt ein von Experten ausgearbeitetes Umerziehungsprogramm, so dass wir die Jugendlichen bei Zeiten wieder in die Gesellschaft eingliedern können. Es ist unser Wunsch und unsere Hoffnung, sie so zu verantwortungsvollen Mitgliedern unserer Gesellschaft zu formen.“


Ich kann Mattis Küsse immer noch schmecken. Wenn ich meine Augen schließe, spüre ich seine Lippen auf meinen. Ich fühle seinen Atem, seine Hände, seinen Schwanz.
Wir haben noch in der ersten Nacht miteinander geschlafen. Und seitdem wieder und wieder. Anfangs erschien es mir komisch, Sex zu haben, wenn um einen herum Dutzende von Menschen sind und alles mitbekommen. Aber ich habe schnell geschnallt, dass Privatsphäre überhaupt keine Rolle spielt, wenn du sowieso keine hast. Hier gucken dir die Leute sogar beim Scheißen zu. Da ist Sex nun wirklich kein Aufreger.

Matti war in mir, als Frau Kaltenberg nach dem verfluchten Dackel brüllte. Sein Atem ging stoßweise, als er schlagartig auf mir erschlaffte wie ein Sack Kartoffeln und wieder zu meinem Schutzschild wurde. Nur sein Glied in mir blieb hart.
Ich hörte wie sich die Tür öffnete und wusste, dass ich jetzt wieder zur lebenden Toten werden musste, wie schon so viele Male davor.
Aber ich wollte nicht. Verdammt noch mal, ich wollte nicht!
Ich hasse es, mich tot stellen zu müssen. Ich bin nicht tot! Wenn ich mit Matti schlief, fühlte ich mich lebendig. Glücklich. Und frei.
Niemand hatte das Recht, mir dieses Gefühl zu nehmen.
„Ich will nicht tot sein“, raunte ich Matti zu.
„Leise, Jule!“ Seine Antwort war nicht mehr als ein Raunen.
„Ich will dich! Hörst du! Ich liebe dich. Und ich will dich.“ Meine Stimme zitterte vor Erregung.
„Jule!“ Es klang flehentlich. Die Soldaten mussten schon längst im Raum sein.
Aber das war mir egal. In diesem Moment gab es nur Matti, mich und unsere Liebe. Langsam bewegte ich mein Becken, sorgte dafür, dass er noch tiefer in mich eindrang.
„Jule!“
Es ist schön, lebendig zu sein. Es ist schön, jemanden zu haben, den man liebt. Es ist schön geliebt zu werden.
„Jule!“
„Weiter, Matti! Weiter!“
Ich wusste natürlich, wie ich mich bewegen musste, damit es ihm gefiel. Ich kannte seine Vorlieben in- und auswendig. Wir hatten ja viel geübt.
„Jule!“
„Ich bin nicht tot.“
„Jule!“
Seine Stimme gellte in meinem Kopf, als er in mir kam.
Doch erst, als sie ihn grob von mir herunterzogen, begriff ich, dass er meinen Namen wirklich geschrien hatte.


„Allen besorgten Eltern, Angehörigen und Freunden kann ich am heutigen Silvesterabend mit Genugtuung und aufrichtiger Freude versichern: Sie werden Ihre Lieben bald wohlbehalten wiedersehen!“


Seitdem spielt nichts mehr eine Rolle. Ich bin nur noch hier, weil ich es Matti versprochen habe. Wenigstens das möchte ich halten.
Yanniks Versuche mich zu trösten, ermüden mich nur noch. Ich lasse sie über mich ergehen. Selbst Maxims peinliche Rechtfertigungsversuche können mich nicht mehr wirklich aufregen. Soll er seine Mutter eben für eine Ach-so-tolle-Widerstandskämpferin halten. Wahrscheinlich glaubt er sogar, dass seine Helden-Mami uns selbst dann noch mit ihren nutzlosen Rufen penetriert, wenn er schon längst abgeholt worden ist. Die Frau hat schließlich eine Mission. Ja, klar! Träum weiter, Maxim, wenn es dir hilft.

Larissa hat nach der Tragödie noch einmal versucht, mit mir zu reden. Irgendwann stand sie vor mir, unterm Arm ihr dämliches Tagebuch.
„Jule, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“
„Ja, ja.“ Leck mich am Arsch, nur vornehmer formuliert.
Ein kurzes Schweigen, dann ein Räuspern und ein zweiter Versuch.
„Nein, ehrlich. Jederzeit. Wir könnten reden. So wie früher.“
„Hab’s gehört. Bin ja nicht taub!“
Gröber geht es kaum noch. Um noch deutlicher zu werden, hätte ich sie ohrfeigen müssen.
Larissa scharrte mit den Füßen, gab aber immer noch nicht auf.
„Wenn ich irgendwas für dich tun kann...“
„Scheiße, nein! Es sei denn, du kannst dafür sorgen, dass Matti zurückkommt. Kannst du das? Wohl kaum! Wenn nicht, lass mich in Ruhe. Lasst mich alle einfach in Ruhe. Das kannst du meinetwegen auch für die Nachwelt in dein beschissenes Poesiealbum malen.“
„Jule, ich...“
„Scheiß drauf!“
Seitdem ist endgültig Funkstille.

Es ist mir egal.
Hier drin ist ein Tag wie der andere. Ich vegetiere vor mich hin, stopfe den Fraß in mich hinein, den sie uns hierlassen, lasse mich endlos von Yannik belabern. Wenn die Soldaten kommen, schmeiße ich mich in den Dreck. So wie jetzt, während ich darauf warte, dass sie einen von uns auswählen. Dieses Mal ist alles still. Alle wissen, wie sie sich verhalten müssen. Es sind schon seit längerer Zeit keine Neuankömmlinge mehr hierhin gebracht worden.
Ich kann nicht sagen, warum ich plötzlich die Augen öffne. Vielleicht ist es Instinkt, vielleicht göttliche Fügung. Keine Ahnung, ist mir auch egal.
Aber was ich sehe, verschlägt mir die Sprache. In einer der Uniformen steckt ein vertrauter Mensch. Zunächst glaube ich zu träumen. Glaube, dass mir meine Sinne einen Streich spielen. Dann beginne ich zu begreifen. Einer der Soldaten hat Mattis Statur. Mattis Hände. Mattis Gesicht.
Mein Herz setzt für einen Schlag aus, als sich aus vielen Teilen ein großes Bild ergibt.
Matti ist zurück.


„Ich glaube, dass es an der Zeit ist, versöhnlich aufeinander zuzugehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir neben der notwendigen und zu Recht von einer überwältigenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgern geforderten Härte auch vertretbare Milde walten lassen müssen. Wir können keine Toten zum Leben erwecken, das Blutvergießen aus der Vergangenheit nicht rückgängig machen, aber wir können dafür sorgen, dass verwirrte Geister, junge Menschen, die sich von ihrer Wut verleitet auf einen fatalen Irrweg begeben haben, wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Als bessere, geläuterte Menschen.“


Gegen jede Vernunft verstoßend springe ich auf. Ein ungläubiges Stöhnen erfüllt den Raum. Wahrscheinlich Yanniks. Was ich mache, kommt einem Selbstmord gleich. Aber was kann jetzt noch Schlimmes passieren? Matti ist zurück.
Ich stürze auf ihn zu, umarme ihn, bedecke sein Gesicht mit Küssen. Freudentränen kullern meine Wangen hinunter. Ich klammere mich selbst dann noch an Matti, als er mich schon längst von sich wegdrückt.
Und dann sehe ich seinen Blick, kalt und abweisend. Ganz anders als damals an dem Tag, als wir unsere Liebe entdeckten. Mir stockt der Atem.
„Matti?“ Meine Stimme ist schrill, mehr Quieken als Sprechen. „Matti? Was ist mir dir? Ich bin es doch. Jule!“
Er zeigt keinerlei Regung.
„Die da?“ Aufreizend lässig deutet er mit dem Zeigefinger auf mich. „Nehmen wir die mit?“
Er hat noch nicht einmal meinen Namen gesagt.
Einer der anderen Soldaten, offenbar sein Vorgesetzter, nickt gelangweilt. Das Desinteresse steht ihm ins Gesicht geschrieben.
„Matti!“ Ich trommele mit meinen Fäusten gegen seine Brust. So hart, dass es ihm wehtun muss. Aber er reagiert nicht.
Ich träume. Das muss ein Alptraum sein. Aber wieso spüre ich dann seinen Griff so schmerzhaft an meinem Oberarm?
„Matti! Erkennst du mich nicht?“ Es ist mein letzter Versuch.
Sein Blick bleibt fremd.
Mit einem Mal überkommt mich die Erkenntnis. So plötzlich, dass es schmerzt. Sie haben irgendetwas mit ihm gemacht. Ihn verändert. Sein Gehirn gefickt. Das ist nicht mehr der Matti, den ich liebe und der mich geliebt hat.
Schlagartig gefriere ich innerlich zu Eis. Ich kann nicht einmal mehr heulen, so leer fühle ich mich. Das ist es dann also. Jetzt nehmen sie mich auch mit.
„Nein!“ Yanniks Schrei halt durch den Kellerraum. Halt bloß die Schnauze, durchfährt es mich. Sonst holen sie dich auch noch.
In diesem Moment saust etwas an meinem Kopf vorbei und trifft Matti an die Schläfe. Seine Finger lösen sich von meinem Arm. Überrascht taumelt er zurück und guckt blöde in Richtung des Wurfgeschosses.
Jetzt erst kann ich sehen, was ihn getroffen hat. Es ist ein kleines, in Leder eingeschlagenes Notizheftchen. Larissas Tagebuch.
Mit einem Mal steht Larissa neben uns. Sie ist völlig aufgelöst.
„Du Wichser!“, schreit sie Matti an. „Du verdammter, blöder Wichser.“
Sie versucht, ihn von mir wegzuschubsen.
Matti grinst schief. Dann boxt er ohne Vorwarnung Larissa die Faust ins Gesicht. Es knackt hässlich.
Ich schreie hysterisch, als Larissas Blut auf mein T-Shirt spritzt.
„Jetzt reicht es aber!“, donnert Mattis Vorgesetzter. „Schluss mit dem Kasperletheater!“ Er zeigt mit einer herrischen Handbewegung auf Larissa. „Schnapp dir diese Irre da, und dann raus hier.“
Matti gehorcht. Er packt Larissa am Handgelenk und zieht sie zur Tür. Mich würdigt er keines Blickes.
„Das kannst du nicht tun“, brülle ich. „Matti! Lass sie los!“
Larissa lässt sich widerstandslos mitschleifen. Nur ihr Blick wandert verzweifelt über den Fußboden, bis er endlich an ihrem Tagebuch heften bleibt.
„Larissa!“ Meine Stimme überschlägt sich. „Mein Gott, Larissa!“
Aber für heute ist die Show vorbei. Die Tür knallt krachend ins Schloss und Larissa, Matti und die drei anderen Soldaten sind verschwunden.
Ich sinke in mir zusammen.
„Scheiße“. Das ist alles, was ich noch herausbekomme.


„Unsere Devise muss lauten: Wir wollen die Auswirkungen der vergangenen, krisenhaften Monate nicht einfach nur überstehen. Wir wollen stärker daraus hervorgehen, als wir hineingekommen sind. Das geht, gemeinsam können wir das schaffen. Ich habe in den letzten Wochen mit vielen Bürgerinnen und Bürgern gesprochen und dabei einen neuen Geist gespürt. Verantwortung für das Ganze. Verantwortung für unser Land. Das macht mich zuversichtlich. Unser Land hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt. Und deshalb können auch wir die Herausforderungen unserer Generation meistern.“


Es scheinen Stunden zu vergehen, bis sich Yannik endlich zu mir setzt. Der Pony klebt auf seiner Stirn. Ich kann sehen, dass er geheult hat. An seinen Hemdsärmeln klebt noch der Rotz.
Einen Augenblick lang spiele ich mit dem Gedanken, ihn zu ignorieren. Aber dann platzt es aus mir heraus: „Du hättest dich nicht einmischen dürfen, du blödes Arschloch!“ Ich lasse meiner Wut jetzt freien Lauf. „Aber du musstest ja unbedingt, den Helden spielen und meinen Namen plärren, als sie mich wegbringen wollten. Wenn du einfach deine dumme Fresse gehalten hättest, dann wäre Larissa noch hier. Dann hätte sie sich nicht für dich opfern müssen.“
Yannik schaut mich verständnislos an.
„Für... für mich?“, stammelt er.
„Schnallst du es denn noch immer nicht?“, fahre ich ihn an. „Bist du wirklich so dämlich, Yannik? Larissa war in dich verknallt. Hast du es jetzt kapiert? Verknallt! So sehr, dass sie lieber selbst über die Klinge gesprungen ist, als zuzulassen, dass du es tust. Du hast die ganze Zeit über die Falsche beschützt. Das Mädchen, das dich wollte, haben sie eben gerade weggebracht.“
Ein unkontrolliertes Schluchzen überkommt mich. Verzweifelt lasse ich mein Gesicht auf die Knie senken. Als ich nach einer halben Ewigkeit wieder aufschaue, blicke ich direkt in Yanniks Miene. Jegliche Farbe ist daraus gewichen.
„Du glaubst wirklich an diesen Scheiß, den du gerade verzapft hast, nicht wahr?“ Die Worte rattern nur so aus ihm heraus. „Du denkst echt, dass du das große Ganze durchschaust und als einzige den Durchblick hast, was?“
Ich zucke hilflos mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, was Yannik von mir will.
„Ach, leck mich doch!“
„Das könnte dir so passen!“ Yanniks Gesicht ist nun unmittelbar vor meinem. Für die anderen muss es so aussehen, als wollten wir uns gleich küssen.
„Es tut mir leid, wenn ich dein Weltbild zerstören muss“, presst Yannik hart heraus, „aber Larissa hat sich nicht für mich geopfert. Sie war auch nie in mich verliebt, Jule. Larissa hat sich einen Dreck aus mir gemacht.“ Er springt auf und läuft zu dem Tagebuch, das immer noch an der Stelle liegt, wo es zu Boden gefallen ist. „Ich war ihr scheißegal.“
Ich schüttele den Kopf. „Bullshit. Ich habe doch gesehen, wie sie geguckt hat, wenn du mit mir herumgehangen hast. So guckt man nicht, wenn einem jemand scheißegal ist.“
Für einen Moment glaube ich, dass Yannik mir gleich eine runterhaut. Dann lässt er resigniert die Schultern sinken.
„Gott, du raffst es immer noch nicht, oder? Offenbar hat Matti dir wirklich jede Hirnzelle aus dem Kopf gevögelt.“
Er nimmt Larissas Tagebuch und wirft es mir unvermittelt auf den Schoß.
„Lies das! Irgendeine beschissene Seite! Völlig egal welche“, befiehlt er. „Nun mach schon“, bellt er, als ich zögere.
Ich gehorche, schlage blindlings eine Seite auf.
Dort wo ich schwulstige Texte erwartet habe, steht nur ein einziges Wort: JULE. Wieder und wieder JULE. Seitenweise. Nichts anderes. Immer nur JULE. Das Werk einer Besessenen.
„Ich...“ Mir fehlen die Worte.
Matti hat dafür umso mehr davon übrig. Und obwohl ich keines davon hören will, breitet er jedes einzelne genüsslich vor mir aus. „Larissa war in dich verknallt, Jule. Schon immer. Für dich mag es Freundschaft gewesen sein, aber für sie... Scheiße, es hat ihr fast das Herz zerrissen, als du hier drin mit Matti rumgemacht hast. Gerade hier, in diesem Kackloch, wo sie dich wirklich gebraucht hätte. In das sie dir übrigens blindlings gefolgt ist. Schon vergessen? Aber davon hattest du ja keine Ahnung. Du warst ja ausschließlich mit Matti und später dann mit deinem verfickten Selbstmitleid beschäftigt.“
Meine Zunge ist ein Ambos, es ist unmöglich sie zu bewegen.
„Larissa hat sich für dich geopfert“, fährt Yannik unbarmherzig fort. „Du hast sie auf dem Gewissen. Genauso wie Katharina und Matti. Die sind alle deinetwegen draufgegangen.“
Damit dreht er sich um und lässt mich stehen.
Das Blut rauscht in meinem Kopf. Die Welt scheint sich zu drehen. Ich kann sie alle vor mir sehen. Katharina. Matti. Larissa.
Ich wollte das nicht.
Ich wusste das nicht.
Dann beginne ich zu schreien. Lauter als je ein Mensch geschrien hat. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib, in der Hoffnung, dass sie endlich kommen und mir meine rausreißen.
„Es ist nicht meine Schuld“, schreie ich. „Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. ES IST NICHT MEINE SCHULD!“
Ich schreie so lange, bis Yannik mich erreicht hat und mir mit aller Kraft seine Hand gegen den Mund presst.
„Jule“, zischt er und da ist nichts Tröstendes in seiner Stimme. „Halt jetzt endlich mal die Fresse!“


„Und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien ein erfülltes, ein glückliches und ein gesegnetes Jahr 2020.“

 
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So ganz kurz noch zwei, drei Dinge zum Text...

Das war echt ein Kampf, weil ich aus Zeitgründen so gut wie gar nicht mal länger als eine halbe Stunde am Text arbeiten konnte, Ausnahme der heutige Abend, wo ich dann innerhalb zweieinhalb Stunden noch mal alles gegeben habe.

Ich hoffe, die Sprachrichtigkeit ist nicht völlig am Boden... habe beim Korrekturüberfliegen nicht mehr viel gefunden, Matschbirne...

Ich hätte gern noch einen oder zwei Tage länger gehabt, für das Feintuning, aber Challenge ist Challenge und da ich eh das... nee der Letzte bin und der Abgabetermin netterweise nach hinten verschoben wurde, muss es jetzt auch so gehen.

Überarbeiten kann man ja immer noch.

Zum Schluss: Einige, wenige Sätze aus der Neujahrsansprache sind ziemlich wortgenau aus realen Neujahrsansprachen unserer Kanzlerin in die Geschichte eingeflossen. Nicht viele, aber immerhin. Ich zähle das in diesem Fall unter unter künstlerische Freiheit, wenn jemand diesbezüglich Bedenken hat, bitte melden...

In diesem Sinne gute Nacht...

 

Hallo svg,
puh, da gehts ja ganz schön hart zu, in deiner Geschichte. Und damit meine ich jetzt nicht nur die Rahmenbedingungen, sondern das Zwischenmenschliche. Das fand ich wunderbar, wie Jule meint, alles zu verstehen, auf Larissa sauer ist, sich eigentlich nur um sich selbst kümmert und dann am Ende mit der Wahrheit geschlagen wird.
Anfangs habe ich noch das Gefühl gehabt, dass Jule die "Gute" in dieser Geschichte wäre - das tapfere Mädchen, das zuden Demos geht undihre Freunde mitbringt, obwohl sie zur Oberschichte gehören, das Mädchen, das alle Schuld auf sich nehmen will.
Und dann nach und nach kam ich zu der Erkenntnis, dass die Gute ganz schön egoistisch ist. Diese freundschaftliche Annäherung von Larissa, obwohl es der selber dreckig geht und Jule siedie restliche Zeit nicht beachtet hatte, aber Jule reagiert nur schroff. Na ja, und dann natürlich die Auflösung zum Schluss. Das knallt schon richtig rein.

So nach dem Einstieg, der mir sehr gut gefallen hat, hatte ich ein wenig das Gefühl, die Geschichte würde sich ziehen. Im hinteren Teil nimmt sie dann wieder deutlich an Energie auf, aber zwischendurch plätschert es für meinen Geschmack im Vergleich zum Anfang und Ende der Geschichte doch zu entspannt vor sich hin.

Auch sehr gut gefallen hat mir, wie du im Wechsel die Geschichte der Jugendlichen und den politisch-gesellschaftlichen Rahmen erzählt hast. Allerdings habe ich mich hier gefragt: warum gehen nur die Jugendlichen auf die Straße, wenn 94 Prozent der Menschen in Deutschland massiv von der Krise betrofen sind? Und wieso machen die Eltern nix, wenn da plötzlich Soldaten kommen und ihre Kinder erschießen?
Die Extremsituation im diesem Keller hat mir prinzipiell sehr gut gefallen, auch das Gustl-Motiv. Abgesehen davon, dass ich einige Zeit gebraucht habe, um zu verstehen, wie der Keller mit dem Rest zusammenhängt, kommt mir das ein wenig konstruiert vor. Ich meine, da werden (hunderte?) von Jugendlichen in einen Keller eingesperrt, ständig kommen neue dazu und immer wieder werden einzelne herausgeholt. Und das einzige, was die Eltern tun? Eine Mama warnt, bevor die Soldaten kommen.
Ich musste kurz an 1984 denken - dort ist das Szenario zwar umgedreht (schon die Kinder werden angestiftet, ihre Eltern zu verraten), aber die Idee, dass die engsten Familienmitglieder nicht zusammenhalten, ist auch dort vorhanden. In deiner Geschichte kommt das für mich allerdings nicht so glaubhaft rüber, wie im Buch. Ich glaube, für mich kommt der scheinbar schon äußerst krasse Gesellschaftswandel innerhalb von 5 Jahren nicht glaubhaft genug rüber. Das spielt für mich im Gesamtzusammenhang der Geschichte aber auch eine eher untergeordnete Rolle (wobei du damitdeiner Geschichte das Sahnehäubchen aufsetzen würdest)

Also, Fazit: Rein von der Anzahl der Zeichen her habe ich mehr kritisiert als gelobt. In Wirklichkeit finde ich deine Geschichte aber wirklich wunderbar und die von mir geäußerte Kritik tut dem Lesegenuss so gut wie keinen Abbruch. :)

Ach so, Kleinigkeiten:

Ich will und ich werde Ihnen nichts vormachen in Zeiten einer Weltwirtschafts- und Bankenkrise von ungeahnten Ausmaßen.

Aber du musstest ja unbedingt, den Helden spielen und meinen Namen plärren, als sie mich wegbringen wollten. Wenn du einfach deine dumme Fresse gehalten hättest, dann wäre Jule noch hier. Dann hätte sie sich nicht für dich opfern müssen.“
Larissa. Jule ist ja noch da, mit der redet er gerade.

„Larissa hat sich für dich geopfert“, fährt Matti unbarmherzig fort. „Du hast sie auf dem Gewissen. Genauso wie Katharina und Matti. Die sind alle deinetwegen draufgegangen.“
Na, du wirfst deine Charaktere aber gut durcheinadner. Das hier ist wohl eher Yannik. :)

Liebe Grüße

 
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Liebe Lycai,

herzlichen Dank für deinen Kommentar. Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Anfangs habe ich noch das Gefühl gehabt, dass Jule die "Gute" in dieser Geschichte wäre - das tapfere Mädchen, das zu den Demos geht und ihre Freunde mitbringt, obwohl sie zur Oberschichte gehören, das Mädchen, das alle Schuld auf sich nehmen will.
In der ersten Fassung war sie das auch, aber das hat mich irgendwie nicht weitergebracht. Deswegen habe ich sie charakterlich anders angelegt. Prima, dass das bei dir angekommen ist.

So nach dem Einstieg, der mir sehr gut gefallen hat, hatte ich ein wenig das Gefühl, die Geschichte würde sich ziehen. Im hinteren Teil nimmt sie dann wieder deutlich an Energie auf, aber zwischendurch plätschert es für meinen Geschmack im Vergleich zum Anfang und Ende der Geschichte doch zu entspannt vor sich hin.
Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir ein Beispiel geben könntest, wo es für deinen Geschmack zu sehr plätschert. Habe hier das typische Autorenproblem, und finde, dass die Infos alle megamegawichtig und für den Verlauf und das Verständnis der Geschichte elementar sind. ;) Bin aber gern bereit, das noch einmal ernsthaft zu überprüfen...

Auch sehr gut gefallen hat mir, wie du im Wechsel die Geschichte der Jugendlichen und den politisch-gesellschaftlichen Rahmen erzählt hast. Allerdings habe ich mich hier gefragt: warum gehen nur die Jugendlichen auf die Straße, wenn 94 Prozent der Menschen in Deutschland massiv von der Krise betrofen sind?
Drüber nachgedacht und dir Recht gegeben... jetzt sind es nur noch 80 Prozent ;)... oder immer noch zu viel???
Generell hatte ich beim Schreiben das Problem, dass ich zunächst viel zu viel erklären musste, um die Zustände in diesem zukünftigen Deutschland einigermaßen plausibel darzustellen. Das hat mich sehr gestört, weil es die Erzählstimme komplett verändert hat und sich irgendwie ständig Jules Perspektive verändern musste.
Ein bisschen übrig geblieben ist von dem Dilemma in dieser Passage hier:
Ich weiß selber nicht, was mich geritten hat, die anderen davon zu überzeugen, sich den Demonstrationen anzuschließen. Damals fand ich die Idee einfach nur sexy. Dass Larissa mitkommen würde, war klar. Larissa hätte mich niemals im Stich gelassen. Zumindest damals nicht. Yannik zu überzeugen, war leicht gewesen. Ein koketter Blick, ein vielsagendes Lächeln zur rechten Zeit – und Yannik folgte uns überall hin. Und Katharina hatte wahrscheinlich einfach nur Langeweile.
Wir langweilten uns schnell und oft. Von der ganzen Scheiße im Land bekamen wir natürlich alles mit, aber wirklich betroffen waren wir nicht. Wir waren auf der sicheren Seite, weil wir alle aus privilegierten Elternhäusern kommen, also zu den zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung gehören, denen es auch nach dem Zusammenbruch des Bankensystems und der großen Krise relativ gut geht. Leute wie uns nennen sie auf der Straße abfällig Geldadel, der politisch zwar keinen Einfluss, materiell aber nach wie vor genügend Mittel zur Verfügung hat, um sich im allgegenwärtigen Chaos ein weiches Nest zu bauen.
Die Oberschicht der Selbstgerechten. Selbst Matti dachte so.
Genau dafür schämte ich mich.
Wir waren der rosa Zuckerguss auf einer Torte aus Fäkalien. Uns passierte nichts – bis zu dem Tag, als ich auf die Idee kam, dass es endlich an der Zeit wäre, auch auf die Straße zu gehen. Solidarität und so!
Viva la Revolution!
Was für ein Scheißdreck! Und trotzdem machten wir uns auf.
Weit kamen wir nicht.
Hier bin ich mir noch nicht abschließend sicher, ob mir das so gefällt.

Ich habe mich dann letztlich eine Stunde vor der Abgabefrist entschieden, die Neujahrsrede einzubauen, um das Erklärende von der Person Jule zu trennen.

Auch deinen Einwand mit den Eltern verstehe ich gut und der hat mich ebenfalls lange beschäftigt. Ich habe letztlich drauf verzichtet zu sehr in diese Richtung zu schreiben, weil ich auch hier das Gefühl hatte, damit die eigentlich Geschichte stark zu bremsen.
Ich habe mich jetzt entschieden, möglichst wenig darüber zu Schreiben, wie es zu den Verhältnissen konkret gekommen ist und was das im Einzelnen bedeutet, weil ich hoffe, dass die Informationen aus der Neujahrsansprache ein Bild im Kopf des Leser malen. Allerdings bin ich hier sehr offen für Lösungsvorschläge, falls das nicht wie beabsichtig funktioniert.

Na, du wirfst deine Charaktere aber gut durcheinadner.
Am Ende des abschließenden Schreibtages wusste ich ehrlich gesagt nicht einmal mehr wie ich heiße ;)...

Also, Fazit: Rein von der Anzahl der Zeichen her habe ich mehr kritisiert als gelobt. In Wirklichkeit finde ich deine Geschichte aber wirklich wunderbar und die von mir geäußerte Kritik tut dem Lesegenuss so gut wie keinen Abbruch.
Darüber freue ich mich natürlich sehr und danke dir nochmals herzlich für deinen Kommentar. Gerade auch deshalb, weil ich irgendwie noch viel zu sehr in dem Text drin bin, um schon einigermaßen objektiv sagen zu könne, ob er mir selbst auch zusagt.


LG svg

P.S.: Ganz herzlichen Dank an Meraviglia, die mir PN ein persönliches Korrekturcenter geschickt hat. Super nett!!! 99 Prozent von den wirklich zahlreichen Anregungen und Korrekturen habe ich davon übernommen. Hast was gut bei mir. Danke!

 
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Lieber svg,
ich habe mich durch deine Geschichte an die Jugendproteste in diversen Ländern erinnert gefühlt, ob Südeuropa oder Chile oder arabischer Frühling. Es ist ja wirklich sehr oft das Aufbegehren der Jungen, ausgelöst durch soziale und öknomische Verarmung und dann das Schicksal einer einzelnen Person, was dann Unruhen auslöst und sogar zu Umwälzungen der verschiedensten Art geführt hat, wenn man an Tunesien denkt. Gerade Jugendliche sind oft die ersten, die rebellieren.
Das Schicksal einer Clique gerade vor so einem Hintergrund, das finde ich eine spannende Sache, eigentlich. Von daher ich find das super und mutig, dass du das machst und es ist sehr sehr spannend.

Als ich den ersten Satz las, als ich die Geschichte zum zweiten Mal las, hats mich ein bisschen gegruselt. Immer wenn jemand so sehr betont, dass es Deutschland gut geht, weiß man, dass jetzt Opfer fällig werden. Und wie sich das auf Jugendliche auswirkt, das wär tatsächlich mal eine echt harte Aufgabe, das in das Einzelschicksal in einem Roman oder einer Geschichte zu fassen. Es kommt mir fast luxuriös vor, angesichts solcher Probleme, die in anderen Ländern noch viel krasser zuschlagen, an Literatur zu denken.
Wie auch immer, ich würde mir das jedenfalls nicht zutrauen, aber eine spannende, lohnende Aufgabe wäre das irgendwie schon. Aber eine wie gesagt echt schwierige.

Du bist denn auch, und das verstehe ich gut, von diesem wirtschaftlichen Hintergrund schnell weggegangen und hast dich auf das Gefüge einer Gruppe vor einem existenziell bedrohlichen Rahmen konzentriert. Weltwirschaftskrise, Banken- und Eurozusammenbruch sind nur Rahmen und Hintergrund für das Geschehen um Jule und ihre "Einsicht" in ihre Egozentrik.
Von daher gibts da natürlich schon ein paar Probleme, Lycai hat das auch schon gesagt, dass man sich schwer vorstellen kann, dass die Erwachsenen da so still halten und die Dackelrufe einer Oma Ausweis höchsten existierenden Widerstands sind. Aber wenn man sich darauf mal einlässt, ist das sehr spannend abgewickelt. Davon ab, wieso weiß denn die Gustlbesitzerin denn immer so genau, wann die Schergen auftauschen? Ist das in ihrem Keller? Das ist nur eine Kleinigkeit, aber gewurmt hats mich nichtsdestotrotz.

Mir gefällt deine Lösung, die poltischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in diese fiktive Rede reinzupacken, es ist vielleicht eine herkömmliche Lösung, aber für mich klappt es sehr gut, weil du den Jargon halt auch richtig gut triffst. Ich wär aber trotzdem nicht traurig, wenn dir noch eine gute Lösung dafür einfiele, warum die Erwachsenen so still halten trotz massenhafter Verarmung (80% sind ja auch nicht grad wenig) und der Zwangskasernierung und Umerziehung ihrer Kinder. Aber das ist Kleinkram.

Also ich finde die Idee, dem Thema Clique einen poltisch heftigen Hintergrund zu geben sehr gut, es ist wieder ein neuer Aspekt, eine neue Herangehensweise, die du da reinbringst. Also von daher, Hut ab, und zwar einen großen, ich freu mich einfach über die Unterschiedlichkeit dieser Geschichten und Ideen zu diesem Thema. Und von meinem Gefühl her hast du dir das schwierigste rausgesucht.
Jedenfalls kann man, auch wenn man Probleme mit der Logik hat, sich ja auf den Standpunkt stellen, das ist hier eine Dystopie, auf deren Hintergrund eine Menge an jugendlichen Konflikten ablaufen kann. Und ebenso sehe ich den Keller als Raum, vor dem die Handlung sich dann entwickelt.
Das sind dann ja nicht nur Probleme wie Liebe, Freundschaft und ihr Zerbrechen, Selbstwahrnehmung, sondern da entstehen ja ganz schnell ethische Probleme, die weit über den Rahmen Jugendproblematik hinausgehen.
Aber für mich passt das gut, auch in den Rahmen Jugendgeschichte, wenn ich nur daran denke, wie ernsthaft manche Jugendliche, die ich kenne, über ethische Probleme sprechen.

So - das, was sich dann abspielt zwischen den Jugendlichen, das ist schon hart, einerseits dieser Heroismus, sich für andere zu opfern oder sie zu schützen, dabei aber den eigenen Schutz zu vernachlässigen. Andererseits aber auch der Selbstschutz. Also ich kann mir gut vorstellen, dass man sich als Jugendlicher ganz schnell fragt, warum warnt denn der Matti nicht alle von vornherein, dass sie ganz still sind, wenn der Dackelruf kommt. Die Neulinge werden da ja mal locker geopfert für den Schutz der Alteingesessenen oder der Freunde. Für mich als Erwachsenen ist das eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, dass man da zum zynischen Umgang mit anderen Menschen gezwungen wird, hier könnt ich mir vorstellen, dass Jugendliche das automatisch als Sauerei empfinden, auf jeden Fall aber, dass denen das auffällt.
Von mir aus könntest du die Problematik ruhig noch mehr betonen, ich weiß, ich weiß, das Thema ist Clique, hast ja Recht. Ich merk halt nur, dass deine Geschichte einiges an Komfliktmaterial bietet.

Außerdem noch positiv aufgefallen ist mir, dass die Jule für den Leser nicht sofort greifbar ist als das verwöhnte Früchtchen, als das sie gegen Ende auftaucht, die alle Aktionen der anderen mit Bravour falsch interpretiert und die, weil es ihr um eine Idee von Freiheit und Ich will leben geht, mal locker die anderen in die Scheiße reitet. Selbst am Ende, als ihr klar wird, was sie alles so falsch gesehen hat, da hat sie nichts anderes im Kopf als sich. Denn ihr "Ichbinschuld-Geschrei" ist nichts anderes, als dass sie mal wieder nur sich selbst zum Thema hat,
Sie wirkt am Anfang eher wie eine Gute, die ihre Freunde zur Demo überredet, etwas argumentlos zwar, aber man unterstellt ihr erst mal nichts Böses. Erst nach und nach relativiert man sie, weil sie sich schon sehr um sich selbst dreht und die anderen ziemlich schroff abfahren lässt. Da hat sie die Empathie einer Dampframme.
Ich hab mich aber auch gefragt, was dieses Mädchen an sich hat, dass alle auf sie stehen. Matti verliebt sich im Bruchteil einer Sekunde in sie, Larissa hält ihr unverbrüchlich die Treue, obwohl Jule die Freundinnenqualität einer Viper hat und selbst Yannick, der am Ende dann doch die Schnauze voll hat, hat vorher nichts Besseres zu tun, als sie pausenlos zu trösten und sich um sie zu kümmern. Also mir fehlt da charakterlich, persönlich noch was.
Und so supersympatisch wirkt sie ja weder am Anfang noch am Ende auf mich. Ich weiß nicht, ob das in deiner Absicht lag. Und ich weiß natürlich auch nicht, ob mein Eindruck nicht sehr gefärbt ist durch meine persönliche Sichtweise. Ich habe es jedenfalls nicht vermocht, mich mit ihr zu identifizieren. Vielleicht liegt das ja auch an dem Schauplatz, den ethischen Problemen, die du mit deiner Geschichte aufwirfst, die einen von dem Charakter ablenken, ich bin mir da wie gesagt, unsicher.
Mir persönlich gefiele es gut, wenn du sie am Anfang noch ein bisschen greifbarer machst, so, dass ich als Leserin sie mehr spüren kann, näher an sie rankomme, verstehe, warum alle so auf sie einflippen. Vielleicht will ich selbst ein bisschen auf sie einflippen. Ich denke mir, der Effekt, dass man sie dann anders sieht, schonungsloser, wäre dann noch größer. Und vielleicht auch das Gefühl für die Tragik dieses jungen Mädchens.
Ich hab deine Geschichte sehr gerne gelesen, sie geht mir nicht aus dem Schädel aus verschiedensten Gründen.
Also trotz oder wegen aller Nachdenklichkeit und Grübelei zur Geschichte, mir gefällt sie sehr sehr gut. Ist ein Hammer.
Viele Grüße von Novak

PS:
Gerade hab ich Flieges Kommentar (Himmel noch mal, jetzt ist mir der Compl dreimal weggeknackt) gelesen und will noch ergänzen, dass ich das auch am Anfang so fand, dass der Yannickwechsel sehr schnell ist, aber dann dachte ich mir, dass sich seine schriffe Reaktion am Ende ja auch dadurch erklärt, dass jetzt auch noch die Larissa weg ist.
Achja, und das darf ich keinesfalls vergessen: Wie sind ja alle kleine Autörhen und da will man ja immer wissen, wie hat man denn eigentlich geschrieben.
Hervorragend sag ich dir dazu, sehr zurückgenommen, aber wahnsinnig klar, ich kanns nicht anders ausdrücken. Ich hab dazu nur vorher nichts geschreiben, weil ich halt grad mit ganz andren Sachen aus deiner Geschichte schwanger gehe.
So und grad macht das scheißdingens wieder sperenzchen. Mann!

 

Herzlich Willkommen auf der Zielgeraden :)

Ich finds Klasse! Richtig gut. Ich habe keine Längen empfunden, ich könnte eher "mehr, mehr!", rufen. Was für eine Dystopie! Meine Fresse. Solche Entwürfe verleiten den Leser natürlich auch dazu, ja wie, warum, was dann zu hinterfragen. Die Idee mit der Neujahrsansprache fand ich gut. Zum einen erlöst es Dich aus dem Dilemma, der Jule ständig Erklärungen unterjubeln zu müssen, zum anderen übt sie einen wunderbaren Kontrast aus.
Ja, also ich fand die Grundidee toll. Habe auch schon fast ein Genrewechsel vermisst, und siehe da, die letzte Geschichte - macht es gleich noch ein bisschen bunter, das Geschichtenfeld.
Ich muss sagen, dass ich wirklich gern gewusst hätte, was die da mit den Leuten machen, wie diese Gehirnwäsche aussieht, warum Larissa ein Tagebuch im Kellerloch haben darf, warum die Eltern so ruhig sind, warum die Erwachsenen überhaupt so ruhig sind. Wenn es nur so ein paar Leute gibt, denen es gut geht, dann bleiben ja genügend übrig, die wenigstens um ihre Kinder kämpfen könnten. Angst okay, aber woher rekrutiert sich die "Staatsmacht". Das können ja noch nicht alle "Zombies" sein. Wie ist der Alltag im Kellerloch, also noch mehr, ab und an haste ja was drin, warum nehmen die immer nur einen mit ... all das sind so Fragen die auftauchen und die den Rahmen hier sprengen würden, würde man sie ausführen. Und unterm Strich funktioniert die Geschichte ja auch, für mich jedenfalls.
Das Jule am Ende kippt, dass sie Larissa so verkannt hat, sie als egozentrisch entlarvt wird, passt zwar gut ins Bild, aber ich fand den Schluss dann im Gegensatz zum Rest etwas lau. Also, dass es auf so eine "unverstandene Liebe" hinauslief. Irgendwie, ich weiß auch nicht, und es passt ja auch, keine Ahnung worauf ich gehofft hab, oder was da hätte kommen können, also, Kritik ist das jetzt nicht, eher so ein Bauchgefühl ohne Inhalt :). Wahrscheinlich weil das gesellschaftliche Drama größer ist und mehr Thema für sich beansprucht, dass Ende dann aber ausschließlich auf die zwischenmenschliche Ebene hinausläuft. Was wiederum den Umständen geschuldet ist ... Dilemma :).
Ach ja, und Yanniks 180 Graddrehung kam mir echt zu schnell. Obwohl ich es mochte, dass er vom verschmähten Tröster zum Anklagenden erhebt.
Auf jeden Fall habe ich es mit Spannung und Begeisterung gelesen! Sprachlich top! Schöne Vergleiche oft. Ich bin ein bisschen neidisch, jawohl!

Meine Fehlerliste hat sich bis auf einen Punkt aufgelöst:

Matti hat dafür umso mehr davon übrig. Und obwohl ich keines davon hören will, breitet er jedes einzelne genüsslich vor mir aus.

Yannik. Matti redet nicht mehr ;).

Respekt vor dem Thema, der Umsetzung, der Form. Ich hätte es auch mit doppelt so vielen Seiten geschluckt, ganz ehrlich. Der Stoff brüllt gerade danach. Aber ich sehe ein, dass Du wahrscheinlich froh bist, es bis hierhin geschafft zu haben.

Der letzte Satz ist so grausam! Sehr schön.

Hab ich sehr gern gelesen,
Beste Grüße, Fliege

 
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Hallo svg,

Boah! Wie du die durch und durch verlogene Neujahrsansprache 2019/2020 mit der Realität der Arrestierten verknüpfst und kontrastierst – ganz großes Kino. Ich bin nicht der Meinung, dass der Geschichte Alltagsbeschreibungen fehlen, es ist schließlich kein Roman. Längen sind mir keine aufgefallen. Sehr spannend und vor allem so, dass ich es verstehe, denn Beziehungskisten sind eigentlich nicht so mein Fall, hast du die Viereckskonstellation Jule, Matti, Larissa, Yannik umgesetzt. Letzterer hat mir echt leidgetan, dass ich mich mit einer Nebenfigur besser identifizieren konnte als mit der Prota, geschieht selten.
Nicht zuletzt stimmt die Story gut mit meiner dystopischen Zukunftserwartung überein, was mir zwar selbst nichts bringt (in negativen Haltungen bestätigt zu werden ist eben negativ, wie auch Minus plus Minus noch mehr Minus ergibt), aber es ist mithin ein weiterer Grund, warum mir die Story so gefiel.

EDIT: Mir ist gerade noch ein Vorschlag zur Verbesserung eingefallen. Die Neujahrsansprache verdient es eigentlich, nicht ob ihres Inhalts, sondern weil sie noch ein bisschen unbeholfen neben der Handlung steht, nahtlos in die Situation eingebunden zu werden. Eine von sicherlich vielen Möglichkeiten wäre, dass ein Projektor Tag und Nacht spätkapitalistische Medienkacke an die Mauer wirft ...

Ich weiß gar nicht, wie viele Fehler ich sonst überlesen habe, aber einer ist mir noch aufgefallen:

Larissa hat nach der Tragödie noch einmal versucht, mit mir zu reden. Irgendwann stand sie vor mir, unterm Arm ihr dämliches Tagebuch.
  • Dass du die Geschichte zweizeitig erzählst, ist schwierig, ich glaube, hier hast du dich vertan ;). Vergangenheit >> Larissa versuchte nach der Tragödie, ...

Soweit: Gern gelesen, ein prosaisches Glanzlicht!

-- floritiv.

 

Hallo svg,

die größte Inspiration ist die Deadline.
Schön, dass du diesen Text noch rausgehauen hast, denn er ist ein echt starkes Stück. In vielen Ansichten der Vorredner spiegelt sich auch meine Meinung wider. Ich will gar nicht allzu viel sagen, nur, dass mich die offenen Fragen zwar etwas beschäftigen, aber das ist ja kein schlechtes Zeichen und tut der Geschichte keinen Abbruch. Was passiert mit den Jugendlichen, wenn sie abgeführt werden? Brainwash ist scheinbar die Antwort, klar, aber weshalb? Da darfst du aber gut und gerne an die Phantasie des Lesers appellieren.
An sich war alles sehr spannend, und während des Lesens habe ich dir diese Zukunftsvision auch voll abgekauft! Erst im Nachhinein habe ich mir dann auch gefragt: Wie kann das so verheimlicht werden? Die Kinder werden von der Regierung festgehalten. Schon allein bei der Vorstellung müsste es doch einige Eltern geben, die Amok laufen. Wenn dann noch irgendwie ans Licht kommt, was da mit ihnen gemacht wird, oje, da wäre doch die Hölle los. Ich weiß nicht, wie oft es diese KZartigen Keller gibt, aber in großer Zahl könnte der Staat diese doch nicht verheimlichen. Ich meine klar, kann diese Macht abschrecken. Judikative, exekutive ... boah, ist schon zu lange her. Aber ich denke da an die vierte Macht im Staat. Die Presse; sie würde in Zeiten wie diesen doch alles daran setzen, diese Missstände aufzudecken, sie publik zu machen. Das geht jetzt alles aber viel zu weit, reine Spekulation. Ich denke, dass es immer eine sehr große Herausforderung ist, solche Die-Welt-liegt-in-Trümmern-Szenarien zu schaffen, denn trotz der Euro-Krise sitzen wir doch noch in unseren Glashäusern und schauen zu. Solche beängstigenden Zukunftsvisionen sprengen immer schnell die Vorstellungskraft.
Aber das ist ja auch nur der Rahmen deiner Geschichte, und der schaffte es dieses Drama zu tragen. Mit den Charakteren hatte ich eigentlich keine Probleme. Auch das Ende hat mir super gefallen. Wie Yannik ihr dann mal die Meinung geigt. Natürlich, Sympathie empfinde ich für die Ich-Erzählerin zum Schluss nicht mehr, aber etwas Mitleid, ja, das schon.

Wir waren der rosa Zuckerguss auf einer Torte aus Fäkalien.
I like:)

„Es ist nicht deine Schuld“, durchbricht auf einmal Yannik flüsternd die Stille.
dieses "auf einmal" braucht es nicht wirklich.

Der Ernstfall folgte auf dem Fuß. Wie in einem schlechten Drehbuch. Als wäre es abgesprochen, ertönte just in diesem Moment Frau Kaltenbergs Schrei.

Matti hat dafür umso mehr davon übrig. Und obwohl ich keines davon hören will, breitet er jedes einzelne genüsslich vor mir aus. „Larissa war in dich verknallt, Jule.
Hat Fliege ja schon aufgedeckt.

Mit ihrer Sprache hatte mich die Erzählerin von Anfang bis Ende in ihren Klauen. Das war gut gemacht. Es war auch meist authentisch. Ich hatte schon das Gefühl, dass hier eine Jugendliche zu mir spricht. Allerdings hast du hier eine, wie ich finde, sehr interessante Chance ausgelassen. Die Jugendsprache befindet sich ja ständig im Wechsel. Immer tauchen so neue Trendwörter auf: Swag, Bro - oder Abkürzungen wie Yolo oder BFF (im Text). Allerdings - ich bin da ja auch nicht 100%ig up to date, aber ich glaube, BFF ist schon wieder etwas aus dem Trend. Viele in dem Alter habe ich in letzter Zeit eher Bro oder - in diesem Fall im Text - Sis sagen hören. So zurück zur Chance: du hättest, im Gegensatz zu allen anderen Storys dieses Wettbewerbs, die versuchen mit ihrer Sprache einen vergangen Zeitgeist oder den aktuellen Slang der Jugend einzufangen, eine völlig neue kreieren können. Unter Zeitdruck ist das natürlich schwer. Da muss einem erstmal etwas einfallen, was dem Leser dann auch nicht zu bizarr vorkommt und keiner Erklärung bedarf. Also ist das jetzt auch keine strenge Kritik.
Der erste und letzte Satz waren echt böse:) diese Rede verstärkt den satirischen Charakter deiner Geschichte und ist ein sehr geschicktes Mittel, dem Leser die Umstände begreifbar zu machen.
Auf den Punkt gebracht: coole Story, die ich gern gelesen hab.
Du bist auf jeden Fall zusammen mit Jimmys Randgeschehen in der engeren Auswahl;) Fairnesshalber muss ich mir aber noch zwei Storys zu Gemüte führen.
Da ich es kaum erwarten kann ...
schöne Grüße

Hacke

 

Hi svg!

Fühle mich dir ja irgendwie verbunden, so als Deadline-Überschreiter, :D
Nein Spaß. Zu deiner Story: Ich habe sie echt gern gelesen. Da passiert ja nicht wirklich nach vorne viel, das ist eher so eine auflösende Geschichte, du baust am Anfang und immer wieder im Text geschickt kleine Anmerkungen rein, und lüftest dann so peu a peu die Geschichte, was es mit den Jugendlichen und ihren Aufstand auf sich hat. Also von der Grundidee fand ich deine Story interessant und gut und spannend geschrieben.
Was mich allerdings immer bisschen irritiert hat, war, dass sich die Kids auf den Boden werfen und tot stellen, wenn diese Schergenbande kommt - ich weiß nicht, das war irgendwie komisch, das sind doch keine Zombies oder so, die nur die sehen, die sich bewegen ... keine Ahnung, das kam mir bisschen komisch vor. Und - hätte ich den Text geschrieben - hätte wohl ein bisschen dieses Verknallen zwischen der Prot. und dem Matti ausgebaut, gerade für eine Jugendgeschichte finde ich ist das immer gut und wichtig. Aber gut, du hast dich hier auch mehr in Richtung Sozialkritik gelehnt - was ich nicht schlecht finde, das hätte auch gut in Gesellschaft oder so stehen können. Was mir noch nicht gefiel, und einfach nicht aus dem Kopf gehen mag, ist dieser eine Begriff, den du verwendet hast: Zahnspangen-Revolution oder Zahnspangen-Aufstand. Da musste ich kurz schmunzeln - ich meine, das ist schon bisschen ein Begriff, den man verwendet, wenn man sich über die Aufrührer lustigmachen will, fand ich. Also mhm, den fand ich jetzt nicht so gut gewählt, gerade in einer Ansprache von einem Kanzler/drakonischen Diktator. Aber gut, das ist Kleinkrämerei, aber vllt lässt du es dir ja nochmal durch den Kopf gehen.
Wie gesagt, dieses Szenario, das du dir ausgedacht hast, fand ich sehr interessant und das hat mich auch an der Stange gehalten beim Lesen - was mir noch sehr gut gefallen hätte, ist, dass du vielleicht diese Gehirnwäsche, die diese Schergen dort veranstalten, kurz anreißen könntest oder so - denn gerade im Zeitalter der Digitalen Revolution (und dein Szenario ist ja tatsächlich noch ein paar Jahre weit weg) fände ich es gut, wenn da auch was mit Gehirnchips oder so abgehen würde, kein Plan, da hast du bestimmt noch gute Ideen auf Lager, nur so als Gedankenanstoß.

Jo, Fazit: Spannend geschrieben, interessante Grundidee für das Szenario, gerne mehr von der Beziehung zwischen der Prot. und Matti, und gerne auch noch mehr von diesem Schergenregime und seine Folter-/Umerziehungsmethoden.

Grüße!

 

Hallo.

Manno man, ich musste mir teilweise echt auf die Lippe beißen, um nicht los zu heulen. Die Emotionen in dieser Geschichte sind schon recht krass, hat mich echt berührt. Es ist schwierig dir jetzt objektiven Rat zu geben, aber ich versuch es mal.

Wie gesagt gefällt sie mir, obwohl ich das Ende schon hart finde. Ich mag deinen Schreibstil und die Geschichte lässt echt zum mitfieberm und auch mitfühlen verleiten. Du weißt nicht was für einen verdammten Hass ich auf die (ja wer sind die eigentlich?), die Matti zu dem gemacht haben was er am Ende war, hatte. Ich bin ehrlich gesagt immer noch überwältigt.
Die Idee ist gut, die Umsetzung auch. Mit den Charakteren hast du dich am Ende etwas verhaspelt, würde ich noch verbessern, wurde hier ja schon mehrfach zitiert ;) Ich finde es etwas traurig und mich drängt auch am Ende zu erfahren was mit Jule geschieht, ich bin kein Fan von allzu offenen Enden.

Im Großen und Ganzen halte ich es für eine gelungene Geschichte :)

LG
Marley

 

Zunächst einmal an alle: Sorry, wenn es mit dem Beantworten etwas dauert, aber wir ziehen Ende November um und ich muss derzeit neben der alltäglichen Arbeit zwei Wohnungen renovieren. Ich bitte also um Verständnis (schließlich will ich eure mit viel Mühe und Hirnschmalz verfassten Reaktionen auch angemessen beantworten) und eine kleine Runde Mitleid. Danke… ;)
P.S.: Ich verspreche, dass ich beizeiten auch die anderen Geschichten kommentieren werden…
So, jetzt zum Text:
@ Novak
Zunächst einmal ganz herzlichen Dank für das intensive Beschäftigen mit dem Text, die vielen lobenden Worte (haben mir sehr gut getan) und die berechtigte Kritik, bei der du eigentlich fast alle Punkte ansprichst, bei denen ich mit mir zu kämpfen hatte oder bis jetzt noch dran knabbere.

ich habe mich durch deine Geschichte an die Jugendproteste in diversen Ländern erinnert gefühlt, ob Südeuropa oder Chile oder arabischer Frühling.
Das freut mich, denn es war durchaus eine Inspirationsquelle.

Das Schicksal einer Clique gerade vor so einem Hintergrund, das finde ich eine spannende Sache, eigentlich. Von daher ich find das super und mutig, dass du das machst und es ist sehr sehr spannend.
Auch das stimmt mich froh, weil ich lange unsicher war, ob dieser Hintergrund mit der Challenge-Vorgabe funktioniert. Ursprünglich habe ich an einer ganz anderen Geschichte gewerkelt, die im Band-Milieu spielt, diese dann aber auf Eis gelegt, worüber ich spätestens dann froh war, als eine andere Challenge-Geschichte genau dieses Thema sehr souverän behandelt hat.


Du bist denn auch, und das verstehe ich gut, von diesem wirtschaftlichen Hintergrund schnell weggegangen und hast dich auf das Gefüge einer Gruppe vor einem existenziell bedrohlichen Rahmen konzentriert. Weltwirtschaftskrise, Banken- und Eurozusammenbruch sind nur Rahmen und Hintergrund für das Geschehen um Jule und ihre "Einsicht" in ihre Egozentrik.
Und damit sprichst du, wie zuvor auch schon Lycai, mein Hauptproblem an. Ich war mir bis ans Ende nicht sicher, wie viel ich von dem Setting erklären muss, und hatte bei der Abgabe (übrigens jetzt auch noch) das Gefühl, dass ich noch viel mehr hätte schreiben können bzw. müssen. Die Geschichte war übrigens kurz vor der Deadline noch um einiges Länger, weil ich Jule die Situation als Erzählerin erklären lassen habe. Hat für mich nicht funktioniert, deswegen die eingeschobene Rede, die dann zugegebener Maßen ein ziemlicher Verzweiflungsschnellschuss war, mit der ich mich aber aus dem Dilemma ganz gut herausmogeln konnte.
Insofern freue ich mich natürlich über diesen Kommentar von dir:

Mir gefällt deine Lösung, die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in diese fiktive Rede reinzupacken, es ist vielleicht eine herkömmliche Lösung, aber für mich klappt es sehr gut, weil du den Jargon halt auch richtig gut triffst.

Ich wär aber trotzdem nicht traurig, wenn dir noch eine gute Lösung dafür einfiele, warum die Erwachsenen so still halten trotz massenhafter Verarmung (80% sind ja auch nicht grad wenig) und der Zwangskasernierung und Umerziehung ihrer Kinder. Aber das ist Kleinkram.
Ich trage diesen Gedanken gerade beim Tapezieren mit mir rum und werde da in den nächsten Tagen (Wochen?) noch was dran schrauben. Die Kritik ist auf jeden Fall zutreffend.

Die Neulinge werden da ja mal locker geopfert für den Schutz der Alteingesessenen oder der Freunde. Für mich als Erwachsenen ist das eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, dass man da zum zynischen Umgang mit anderen Menschen gezwungen wird, hier könnt ich mir vorstellen, dass Jugendliche das automatisch als Sauerei empfinden, auf jeden Fall aber, dass denen das auffällt.
Auch hiermit hast du mir viel berechtigten Denkstoff gegeben und sorgst damit dafür, dass die Tapezierarbeiten nie langweilig werden. ;)

Außerdem noch positiv aufgefallen ist mir, dass die Jule für den Leser nicht sofort greifbar ist als das verwöhnte Früchtchen, als das sie gegen Ende auftaucht, die alle Aktionen der anderen mit Bravour falsch interpretiert und die, weil es ihr um eine Idee von Freiheit und Ich will leben geht, mal locker die anderen in die Scheiße reitet. Selbst am Ende, als ihr klar wird, was sie alles so falsch gesehen hat, da hat sie nichts anderes im Kopf als sich. Denn ihr "Ichbinschuld-Geschrei" ist nichts anderes, als dass sie mal wieder nur sich selbst zum Thema hat.
Ich möchte hier betonen, dass Jule für mich nicht die Sympathieträgerin der Geschichte ist und die Ambivalenz bewusst eingebaut ist. Insofern danke für die treffende Einschätzung.

Ich hab mich aber auch gefragt, was dieses Mädchen an sich hat, dass alle auf sie stehen.
Da will ich nochmal ran und es versuchen mit ein oder zwei Sätzen etwas klarer zu machen. Danke hierfür.

Ich hab deine Geschichte sehr gerne gelesen, sie geht mir nicht aus dem Schädel aus verschiedensten Gründen.
Also trotz oder wegen aller Nachdenklichkeit und Grübelei zur Geschichte, mir gefällt sie sehr sehr gut. Ist ein Hammer.
Das ist ein echt dickes Lob, dass mir wirklich viel bedeutet.

Achja, und das darf ich keinesfalls vergessen: Wie sind ja alle kleine Autörhen und da will man ja immer wissen, wie hat man denn eigentlich geschrieben.
Hervorragend sag ich dir dazu, sehr zurückgenommen, aber wahnsinnig klar, ich kanns nicht anders ausdrücken.
Und auch das ist ein Zuckerli für meine geschundene Schreiberseele, da ich derzeit echt in einem kreativen Loch stecke und so ein bisschen an mir als Möchtegernautor zweifele. Vor allem dann, wenn hier so viele wirkliche gute Geschichten aus der Feder geriffelt werden.

Vielen Dank, Novak.
@ Fliege
Auch dir ein wirklich von Herzen kommendes Dankeschön, dein Kommentar hat mich am Freitag bei der Lektüre wirklich bewegt und ebenfalls zum Nachdenken gebracht.

Ich finds Klasse! Richtig gut. Ich habe keine Längen empfunden, ich könnte eher "mehr, mehr!", rufen. Was für eine Dystopie! Meine Fresse. Solche Entwürfe verleiten den Leser natürlich auch dazu, ja wie, warum, was dann zu hinterfragen. Die Idee mit der Neujahrsansprache fand ich gut. Zum einen erlöst es Dich aus dem Dilemma, der Jule ständig Erklärungen unterjubeln zu müssen, zum anderen übt sie einen wunderbaren Kontrast aus.
Ja, also ich fand die Grundidee toll. Habe auch schon fast ein Genrewechsel vermisst, und siehe da, die letzte Geschichte - macht es gleich noch ein bisschen bunter, das Geschichtenfeld.
Ach ja, seufz, mehr davon bitte … ;)
Ich muss sagen, dass ich wirklich gern gewusst hätte, was die da mit den Leuten machen, wie diese Gehirnwäsche aussieht, warum Larissa ein Tagebuch im Kellerloch haben darf, warum die Eltern so ruhig sind, warum die Erwachsenen überhaupt so ruhig sind. Wenn es nur so ein paar Leute gibt, denen es gut geht, dann bleiben ja genügend übrig, die wenigstens um ihre Kinder kämpfen könnten. Angst okay, aber woher rekrutiert sich die "Staatsmacht". Das können ja noch nicht alle "Zombies" sein. Wie ist der Alltag im Kellerloch, also noch mehr, ab und an haste ja was drin, warum nehmen die immer nur einen mit ... all das sind so Fragen die auftauchen und die den Rahmen hier sprengen würden, würde man sie ausführen.
Womit wir bei meinem bereits weiter oben thematisierten Problem sind. Ich hätte sogar die eine oder andere (hoffentlich schlüssige) Erklärung auf einige deiner Fragen, aber als ich versucht habe alles zu beantworten wurde aus dieser Kurzgeschichte eine Novelle und wenn ich versuchen würde alles zu beantworten wahrscheinlich ein Roman. Aber vielleicht doch Mut zu mehr?
Das Jule am Ende kippt, dass sie Larissa so verkannt hat, sie als egozentrisch entlarvt wird, passt zwar gut ins Bild, aber ich fand den Schluss dann im Gegensatz zum Rest etwas lau.
Ich würde jetzt so gern vehement widersprechen ;)… und ursprünglich hatte ich noch ein ganz anders ende, aber da spielte die Geschichte noch auf einem Dachboden in der Nazizeit, Jule war Jüdin das Setting klarer… und trotzdem war ich nicht glücklich damit…
Ach ja, und Yanniks 180 Graddrehung kam mir echt zu schnell. Obwohl ich es mochte, dass er vom verschmähten Tröster zum Anklagenden erhebt.
Hmmm…hier gucke ich mal, ob ich da noch einen Zwischenschritt einbauen kann, allerdings war ich als Jugendlicher auch recht sprunghaft ;)
Auf jeden Fall habe ich es mit Spannung und Begeisterung gelesen! Sprachlich top! Schöne Vergleiche oft. Ich bin ein bisschen neidisch, jawohl!
Danke. Das tut gut zu hören. Gerade sprachlich war ich ein bisschen unsicher, weil ich doch wieder verstärkt auf den (ich glaube Quinn hat es mal bei einer anderen Kurzgeschichte von mir völlig zurecht mal so genannt) Maschinengewehrstil gesetzt habe. Tak, Tak Tak, oft noch einen draufsetzenden Einschub hintendran. Aber in diesem Fall erschien es mir richtig. Nichtsdestotrotz: Ich habe mir das ein bisschen angewöhnt, und bin mir bewusst, dass ich das nicht dauerhaft so durchziehen kann. (Aber ich mach es doch sooooo gern!)

Ich danke dir nochmals sehr.
@ floritiv
Und noch ein Kommentar, der neben viel Lob (danke, danke, danke), mir mit guter konstruktiver Kritik zu denken gibt.

Mir ist gerade noch ein Vorschlag zur Verbesserung eingefallen. Die Neujahrsansprache verdient es eigentlich, nicht ob ihres Inhalts, sondern weil sie noch ein bisschen unbeholfen neben der Handlung steht, nahtlos in die Situation eingebunden zu werden. Eine von sicherlich vielen Möglichkeiten wäre, dass ein Projektor Tag und Nacht spätkapitalistische Medienkacke an die Mauer wirft ...
Die Idee gefällt mir, bei der fälligen Überarbeitung schau ich, ob ich das irgendwie sinnvoll umsetzten kann. Danke dafür…
Nicht zuletzt stimmt die Story gut mit meiner dystopischen Zukunftserwartung überein, was mir zwar selbst nichts bringt (in negativen Haltungen bestätigt zu werden ist eben negativ, wie auch Minus plus Minus noch mehr Minus ergibt), aber es ist mithin ein weiterer Grund, warum mir die Story so gefiel.
Ganz ehrlich, ich hoffe doch, dass es so schlimm nicht werden wird ;-)
Soweit: Gern gelesen, ein prosaisches Glanzlicht!
Wäre diese Kompliment eine Tagescreme, ich würde mich unentwegt damit einschmieren ;-)… Vielen Dank dafür!
@ Hacke
Ebenfalls vielen, vielen Dank.

Ich will gar nicht allzu viel sagen, nur, dass mich die offenen Fragen zwar etwas beschäftigen, aber das ist ja kein schlechtes Zeichen und tut der Geschichte keinen Abbruch. Was passiert mit den Jugendlichen, wenn sie abgeführt werden? Brainwash ist scheinbar die Antwort, klar, aber weshalb? Da darfst du aber gut und gerne an die Phantasie des Lesers appellieren.
An sich war alles sehr spannend, und während des Lesens habe ich dir diese Zukunftsvision auch voll abgekauft
Das freut mich und beruhigt mich ein wenig.
Erst im Nachhinein habe ich mir dann auch gefragt: Wie kann das so verheimlicht werden? Die Kinder werden von der Regierung festgehalten. Schon allein bei der Vorstellung müsste es doch einige Eltern geben, die Amok laufen.
Und ich sehe ein, das ist ein Schwachpunkt an den ich beizeiten nochmal ran muss. Zumindest kurz erläutern, das könnte ich mir aber ganz gut in der Ansprache vorstellen.

Auch das Ende hat mir super gefallen. Wie Yannik ihr dann mal die Meinung geigt. Natürlich, Sympathie empfinde ich für die Ich-Erzählerin zum Schluss nicht mehr, aber etwas Mitleid, ja, das schon.
Darüber freue ich mich wirklich.
dieses "auf einmal" braucht es nicht wirklich.
ist auf einmal draußen ;)
Mit ihrer Sprache hatte mich die Erzählerin von Anfang bis Ende in ihren Klauen. Das war gut gemacht. Es war auch meist authentisch. Ich hatte schon das Gefühl, dass hier eine Jugendliche zu mir spricht
Das freut mich, wahrscheinlich hat du aber mit deiner folgenden Anmerkung recht, dass ich bei der Jugendsprache nicht mehr up to date bin. (Super, jetzt merke ich wieder, dass ich nächstes Jahr 40 werde… 40!!! Aaaah!) Ich werde den Text daraufhin nochmal lesen, habe aber ein bisschen Angst, dass er zu aufgesetzt und gewollt wirken könnte, wenn ich zu viele Trendwörter einbaue.

Der erste und letzte Satz waren echt böse diese Rede verstärkt den satirischen Charakter deiner Geschichte und ist ein sehr geschicktes Mittel, dem Leser die Umstände begreifbar zu machen.
Schön, dass das bei dir so wie gedacht funktioniert hat.

Auf den Punkt gebracht: coole Story, die ich gern gelesen hab.
Kompliment kann ich für deine Kritik zurückgeben ;). Danke…

@ zigga
Ich grüße und bedanke mich bei dem derzeit souverän Führendem bei der Challenge ;-)
Schön, dass dich die Geschichte gut unterhalten hat.

Was mich allerdings immer bisschen irritiert hat, war, dass sich die Kids auf den Boden werfen und tot stellen, wenn diese Schergenbande kommt - ich weiß nicht, das war irgendwie komisch, das sind doch keine Zombies oder so, die nur die sehen, die sich bewegen ... keine Ahnung, das kam mir bisschen komisch vor.
Das ist interessant, weil ich es beim Schreiben überhaupt nicht hinterfragt habe, jetzt aber durchaus intensiver darüber nachdenke. Wie vorhin schon ausgeführt, spielte die Ursprungsversion auf einem Dachboden während der Nazizeit, dieser Teil ist daher noch übernommen. Ich gucke mal, inwieweit das so noch für mich funktioniert. Die Idee dahinter ist, wer sich nicht rührt, wird nicht angerührt ;-)… (vorerst zumindest)

Und - hätte ich den Text geschrieben - hätte wohl ein bisschen dieses Verknallen zwischen der Prot. und dem Matti ausgebaut, gerade für eine Jugendgeschichte finde ich ist das immer gut und wichtig. Aber gut, du hast dich hier auch mehr in Richtung Sozialkritik gelehnt - was ich nicht schlecht finde, das hätte auch gut in Gesellschaft oder so stehen können.
War mal ausgebaut und hatte die Geschichte für mein Empfinden zu langatmig gemacht…


Was mir noch nicht gefiel, und einfach nicht aus dem Kopf gehen mag, ist dieser eine Begriff, den du verwendet hast: Zahnspangen-Revolution oder Zahnspangen-Aufstand. Da musste ich kurz schmunzeln - ich meine, das ist schon bisschen ein Begriff, den man verwendet, wenn man sich über die Aufrührer lustigmachen will, fand ich. Also mhm, den fand ich jetzt nicht so gut gewählt, gerade in einer Ansprache von einem Kanzler/drakonischen Diktator. Aber gut, das ist Kleinkrämerei, aber vllt lässt du es dir ja nochmal durch den Kopf gehen.
Bin schon dabei, ist ebenfalls spannend für mich zu lesen… zumal ich deine Assoziation damit sogar irgendwie haben wollte.

Jo, Fazit: Spannend geschrieben, interessante Grundidee für das Szenario, gerne mehr von der Beziehung zwischen der Prot. und Matti, und gerne auch noch mehr von diesem Schergenregime und seine Folter-/Umerziehungsmethoden.
Danke. Deine Anregungen werden mich bei einer 2.0-Version begleiten…

@ Marley


Herzlichen Dank für deinen Kommentar.

Manno man, ich musste mir teilweise echt auf die Lippe beißen, um nicht los zu heulen. Die Emotionen in dieser Geschichte sind schon recht krass, hat mich echt berührt.
Versteh mich nicht falsch, es ist kein Hobby von mir Leute zum Heulen zu bringen, aber wenn dir die Geschichte das Wasser in die Augen getrieben hat, werte ich das als tolles Kompliment ;-)

Wie gesagt gefällt sie mir, obwohl ich das Ende schon hart finde. Ich mag deinen Schreibstil und die Geschichte lässt echt zum mitfieberm und auch mitfühlen verleiten. Du weißt nicht was für einen verdammten Hass ich auf die (ja wer sind die eigentlich?), die Matti zu dem gemacht haben was er am Ende war, hatte. Ich bin ehrlich gesagt immer noch überwältigt.
Wow, so etwas liest man dann auch einfach mal gern :-)
Ich finde es etwas traurig und mich drängt auch am Ende zu erfahren was mit Jule geschieht, ich bin kein Fan von allzu offenen Enden.
Ich schon. Aber ich kann dir versichern, ich mache das nur bei jeder zweiten Geschichte. Die anderen sind so was von abgeschlossen… ;-)
Nochmals danke…

 

Hey svg!

Noch ganz kurz dazu:

Was mir noch nicht gefiel, und einfach nicht aus dem Kopf gehen mag, ist dieser eine Begriff, den du verwendet hast: Zahnspangen-Revolution oder Zahnspangen-Aufstand. Da musste ich kurz schmunzeln - ich meine, das ist schon bisschen ein Begriff, den man verwendet, wenn man sich über die Aufrührer lustigmachen will, fand ich. Also mhm, den fand ich jetzt nicht so gut gewählt, gerade in einer Ansprache von einem Kanzler/drakonischen Diktator. Aber gut, das ist Kleinkrämerei, aber vllt lässt du es dir ja nochmal durch den Kopf gehen.
Bin schon dabei, ist ebenfalls spannend für mich zu lesen… zumal ich deine Assoziation damit sogar irgendwie haben wollte.
Ich glaube, mir ist gerade bewusst geworden, was mir an dem Begriff nicht passte: Und zwar dass ein Kanzler-Diktotar ihn in einer Ansprache verwendet; denn Aufrührige auf das Subjekt der Zahnspange zu reduzieren, lässt sie irgendwie total nach unschuldigen Opfern, ja, einfach nach Kindern, aussehen - und ich glaube, das würde in einer Rede, in der man die Aufmüpfigen schlecht dastehen lassen will, kontraproduktiv sein. Zahnspangenträger, die erschossen werden - da steht doch das Regime unfassbar schlecht dar, weil man Zahnspangenträger (zumindest tue ich das) irgendwie als unschuldige Kurze im Kopf hat; selbst wenn die mal rebellieren, ist erschießen eine viel zu harte Strafe. Zum Beispiel im Arabischen Frühling oder bei diesen Randalen in den Pariser Vorstädten und London: die wurden Anfangs doch sehr von Halbstarken getragen, aber das Regime hat sie, wenn überhaupt, immer nur als verwahloste Chaoten aus den Slums darstellen wollen - nicht als die unschuldigen Zahnspangenträger, die in Einfamilienhäusern wohnen.
Will jetzt echt nicht lange auf diesem Begriff herumreiten, der tut gar nicht so viel für die Story zur Sache, aber das ist mir eben halt noch eingefallen, vllt bringts dich ja weiter.

Grüße!

 

Hallo Zigga, beim Renovieren drüber nachgedacht. Ich mag den Begriff eigentlich ganz gern, habe ihn aber durch einen Zusatz versucht abzuschwächen. Ob es bei der Lösung bleibt, ist noch nicht sicher, aber ich habe es erst einmal eingebaut. Nochmals danke...

 

Hallo svg
Sorry, ich hinke mit meinen Kritiken hinterher wie die alte Fastnacht. Ich hoffe ich schaffe alle bis 30.11. Dann ist ja hier sowieso zu.
Jetzt aber zu deiner Jugendgeschichte. Wie bereits von einigen angesprochen, hast du Schauplatz und Hintergrund als postrevolutionäres Setting angelegt, bei dem momentan ein autoritäres Regime als Sieger hervorgeht und junge Querschläger peu a peu entweder zu willenlosen Volkspolizisten umdreht oder dann ganz ausschaltet.
Klar bleiben dabei zahlreiche Fragen offen, allerdings darf die Geschichte das, da es im Kern um die eigenwillige Jule geht, wie sie egoistisch ihre Interessen durchsetzt, ohne Rücksicht auf Konsequenzen sich dem Sog ihrer Liebe und Triebe hingibt, (also wie die da Matti in die Scheisse reitet, da hatte ich so `nen Hals! ;) ) und damit mir nie so richtig sympathisch werden will, was sich ja am Ende mit der augenfälligen Wende als völlig verständlich erweist. Da springt der Funke der Anerkennung definitiv auf Yannik über, der sich zwar überraschend schnell vom angeblichen blinden Schwärmer zum durchblickenden Welterklärer wandelt, und doch der Jule mal so richtig ihr Weltbild zurechtrückt, leider halt viel zu spät.
Zahnspangenrevolution – ich musste zweimal über die Bezeichnung nachdenken, sie löste bei mir auch diese ambivalenten Gefühle aus, denn entgegen zum Beispiel der portugiesischen „Nelkenrevolution“ in den 70ern, die relativ unblutig über die Bühne ging und deshalb diesen friedfertige Bezeichnung erhielt, wirkt hier der unschuldige Begriff tatsächlich fehl am Platz, trotz holprigem Erklärungszusatz, und so sage ich: „Kill Your Darling“, aber ist letztendlich deine Revolution, und wie zigga schon sagte, ist das sowieso ein nebensächlicher Aspekt der Geschichte.
Ich fand es spannend, wie du den Erzählstrang um die trotzigen Jule weitergesponnen hast, auch die Wende fand ich gut, ja ich war sogar etwas wütend auf deine Prota, und als Matti zurückkehrt, aber für Jule unerreichbar bleibt, das geschieht ihr recht, nur um Matti, Yannik und Larissa tut‘s mir echt leid.
Kleinkram:

Noch während ich das sage, begreife ich, wie sehr Yannik meine Worte verletzten müssen.
verletzen.

„Biste alleine hierhin verfrachtet worden? Oder war noch jemand bei dir?“
[…]
„Mit denen da“, sagte ich zu Matti gewandt.
Das ist die Antwort auf die erste Frage, ich würde sie allerdings die letzte Frage beantworten lassen: „Die da“, sagte ich …

Ein koketter Blick, ein vielsagendes Lächeln zur rechten Zeit – und Yannik folgte uns überall hin. Und Katharina hatte wahrscheinlich einfach nur Langeweile.
Das zweite „und“ stört mMn den Lesefluss.
Von der ganzen Scheiße im Land bekamen wir natürlich alles mit, aber wirklich betroffen waren wir nicht. Wir waren auf der sicheren Seite, weil wir alle aus privilegierten Elternhäusern kommen, also zu den zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung gehören,
Vorschlag gegen WW: „… , aber wirklich betroffen machte es uns nicht.“

Mattis braune Augen waren wie... wie... ach drauf geschissen,
Kann sein, dass du die Drei-Punkte-Regel nicht magst, ich erwähne es trotzdem: wie … wie … ach drauf geschissen.

Ich zog ich einen Schmollmund,

Aber da hatte mich Matti bereits unter seinem Gewicht begraben.
Etwas arg gewichtig, „unter sich“ reicht eigentlich.

„Ja, ja.“ Leck mich am Arsch, nur vornehmer formuliert.
Erklärend, kann weg.
„Ich...“ Mir fehlen die Worte.
Matti hat dafür umso mehr davon übrig. Und obwohl ich keines davon hören will, breitet er jedes einzelne genüsslich vor mir aus.
Yannik. ;)


Hast mich gut unterhalten, danke svg.

Lieben Gruss
dot

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo svg,

es gibt vieles, was ich an der Geschichte gut fand. Erstmal das Grundkonzept dieser ziemlich klassischen Dystopie, die Du aber durch den Gegenwartsbezug frisch gemacht hast. Und das ist schon ne krasse Sache. Ich denk mir oft, wie muss es diesen Jugendlichen in Griechenland grad gehen? Also das ist ein spannendes Thema, was mich beschäftigt. Innerhalb der Challenge fand ich es auch erfrischend, mal einen nicht-alltäglichen Text zu haben. Ich glaub, das hätte ich auch früher, als ich noch jung war, gern gelesen. Mit dieser Gehirnwäsche hat es ja auch Anklänge an Clockwork Orange und 1984 und das waren Texte, die mich genau in der Zeit tief beeindruckt haben. Geschichten über Teenager wie mich in Welten wie meiner haben mich eigentlich weniger interessiert (weiß auch nicht, warum ich dann selbst sowas geschrieben habe :hmm:).
Was ich auch sehr gut fand ist, dass Jule am Ende einen auf den Deckel bekommt. Die fängt schon ziemlich an zu nerven mit ihrer Egozentrik. Clever fand ich auch, zu zeigen, dass gerade solche Märtyrerrollen (Ich bin alles schuld!) im Grunde auch oft nur ein Ausdruck von Egozentrik sind. Matti sagt ja mal sowas in die Richtung, dass da klar wird, dass das natürlich völlige Selbstüberschätzung ist.
Und diese Szene mit dem Sex, die fand ich auch überzeugend. also nicht wirklich überzeugend im Sinne von, so würden sich Menschen echt benehmen, aber literarisch überzeugend begründet mit diesem Wunsch nach Leben.
Diese zwischengeschaltete Neujahrsansprache hat mir auch sehr gut gefallen.
Insgesamt fand ich es auch packend zu lesen, in einem Rutsch. Man will einfach wissen, was da genau abgeht. Hätte ich den Kommentar sofort danach geschrieben, wäre er insgesamt ziemlich begeistert ausgefallen.

Aber: Wenn man aus dem spannenden Text raus ist und dann darüber nachdenkt, kommen schon ein paar Fragen auf. Warum zum Henker sollten die die Jugendlichen in so nen Keller sperren und nur die Auffälligen abschleppen? Begiebt man sich wirklich in so große Gefahr, nur weil einem langweilig ist und man sexy wirken will? Ich find die Grundidee, dass die da ohne wirklich guten Grund, ohne echte Betroffenheit, so als Demotouristen reingeraten sehr spannend, aber da hätte man finde ich mehr draus machen können. Dass die zum Beispiel so leichtsinnig sind, eben weil die so gut behütet aufgewachsen sind und sich gar nicht vorstellen können, dass die Welt mal wirklich böse zu ihnen sein könnte, dass es was gibt, wovor ihre Eltern sie nicht beschützen können. Dieser Moment, in dem man sowas realisiert, da bricht doch ein Weltbild zusammen und das kommt mir noch nicht deutlich genug raus - also das vorher nicht und der Bruch dann eben auch nicht. Im Nachhinein hab ich auch das Gefühl, dass Du Dir aus der ganzen Handlung die langweiligste Sequenz als Erzählfokus ausgesucht hast. Alles Spannende passiert da ja im Rückblick und die Figuren haben so gut wie keinen Spielraum mehr zu handeln, denen widerfährt nur noch und sie erinnern sich viel. Ich hätte halt echt den Aufbruch zur Demo, die Gruppendynamik dahinter, den Schock bei der Erkenntnis, dass sie jetzt ernsthaft in der Scheiße sitzen und vielleicht noch den Beginn der Liebe mit Matti fruchtbarer gefunden. Ich seh auch, dass das ein riesen Ding geworden wäre, ne Heidenarbeit auch. Aber so als Kammerspiel ist es schon auch ein bisschen die Minimallösung, bei der viele Fragen offen und einiges an Potential ungenutzt bleibt.
Was mir auch nicht gefallen hat, ist die Larissa-Plotline. Ich mein, das hat doch gar nichts mit dem Rahmen zu tun. Das ist eine Allerweltseifersuchts- und Verwirrungsgeschichte, die so auch bei schönstem Sonnenschein auf dem Schulhof spielen könnte. Ich mein es ist natürlich total spannend, was in solchen Extremsituationen mit der Figurendynamik geschieht, aber hier wächst der Konflikt für mich nicht aus der Situation. Es ist auch kein latenter Konflikt, der erst durch diese spezielle Situation genährt wird und ausbricht. Das wär ja auch ne Möglichkeit. Ich hab letztens diesen Film gesehen, dessen Name mir jetzt natürlich nicht einfällt. Da spielt Daniel Craig diesen russischen Juden, der so eine ganze geheime Kolonie von Juden anführt, die sich über Jahre vor den Nazis im Wald verstecken. Und diese Waldsituation, diese Enge, das Elend, ist halt wie ein Katalysator, der das Beste und das Schlimmste in den Menschen zum Vorschein bringt. Und es gibt da natürlich auch Liebe und Eifersucht, aber irgendwie ist die Verknüpfung mit der Situation da dichter als hier. Vielleicht liegt es auch daran, dass es in diesem Text so als Pointe daherkommt, dass ich es als psychologische Fallstudie nicht so ernst nehmen kann. Mit den anderen zwischenmenschlichen Aspekten in der Geschichte hatte ich kein Problem, die waren mir überzeugender an die Situation geknüpft: diese verzweifelt enge und schnelle Liebe zu Matti, diese fast wahnhaft egozentrischen Schuldgefühle. Das hat für mich alles gut funktioniert, nur Larissa nicht.

Aber wie gesagt. Ich hab die Geschichte trotz dieser Punkte sehr gerne gelesen. Sie hat mich gefesselt. Erst als sie mich losgelassen hatte, kam ich zum Denken und dann kamen eben auch die Fragen.


Kleinkram:

Von einer Sekunde auf die andere verwandele ich mich in eine Statue, verharre reglos, das Gesicht in den Staub gedrückt, mit zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten.
Statue passt für mich irgendwie nicht als Bild für jemanden, der sich wie ein nasser Sack auf den Boden schmeißt. Jemanden der zur Statue wird, stelle ich mir als jemanden vor, der stehend erstarrt, mitten in der Bewegung festfriert. Denn das ist ja auch die häufigste Erscheinungsform von Statuen. Was Du beschreibst, müsste eine umgekippte Statue sein und das ist dann schon wieder ein Ausnahmefall, also nicht der Prototyp, der einem in den Kopf schießt, wenn man "ich werde zur Statue" hört.

Aber je mehr ich mich anstrenge, desto schneller wird der Rhythmus, immer lauter und lauter, bis ein ganzes Orchester aus verräterischen Pauken in mir dröhnt.
In solchen Momenten wünschte ich, ich hätte kein Herz.
Dann müsste ich keine Trauer mehr fühlen, keinen Selbsthass. Und vor allem keine Schuld.
Da hat der Text bei mir einen ersten Haken eingeschlagen, mit dieser doppelten Motivation für den Wunsch, kein Herz zu haben. Fand ich sehr gut.

Leckt mich doch!
Das ist mir zu dialogisch mit dem Leser.

Zwischen Matti und mir passte kein Blatt Papier.
mich

Nur sein Glied in mir blieb hart.
Ich weiß, dass Worte für "da unten" schwer sind, aber Glied? Unsexy!

„Ja, ja.“ Leck mich am Arsch, nur vornehmer formuliert.
Ja, ich erinnere mich. Als ich Teenie war, war der Spruch noch frisch. :P

Dann boxt er ohne Vorwarnung Larissa die Faust ins Gesicht.
Würd ich so flüssiger finden: "Dann boxte er Larissa ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht." Wobei Faust auch eigentlich wegkönnte.

Verzweifelt lasse ich mein Gesicht auf die Knie senken.
sinken

lg,
fiz

 

Lieber svg,

ein CHAPEAU für deine Kraft, trotz der familiären Unbillen und der widrigen Umständen, diese anstrengende Geschichte zu schreiben. Das zeugt von Berufung, sag' ich jetzt mal so dahin.

Die Logik-Tante hier im Forum hat es natürlich etwas schwer mit den Begebenheiten, die du mir so vor's Gesicht wirfst. Die Neujahrsansprachen - ja, die haben schon immer mein Interesse gefunden. Früher noch unter Helmut Kohl mit seiner Zuversicht, mit der wir in die Zukunft sehen, heute Angie mit ihrem liebe Bürgerinnen und Bürger-Blick".

Aber genau die machen mir die Geschichte auch etwas schwer. Da wird so im Blabla-Modus herumgeschwafelt, aber ich bekomme als Leser nicht konkret mit, was zu diesen drastischen Maßnahmen geführt hat, der politische Hintergrund wird für mich nicht greifbar. Ich hätte für mich als Leser noch eher Ruhe gefunden und hätte mich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen konzentrieren können, wenn diese Themen nicht angerissen worden wären. So ist es für mich irgendwie nicht Fisch / nicht Fleisch. Die auch schon monierte Tatsache, dass der Rest der Bevölkerung stillhält, kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe schon auch ein paar RAF-Parallelen gesehen, zwar war das damals keine so große Gruppierung, der Fokus war auch mehr mit der Untergrundarbeit - aber der Widerstand von gutsituierten jungen Menschen (Eltern reich und/oder sehr gut gebildet) gegen die Wirtschaft ist ja nicht neu. Aber summa summarum ist mir dieses "Setting" etwas zu einfach gestrickt. Okay, svg, das laste ich deiner persönlichen Situation an und verzeihe dir hiermit.

sim hat es einmal (so als nicht 100% Beispiel) mit seiner KG Körperwahn damals für mich geschafft, die Reaktionen der Eltern nachvollziehbar werden zu lassen. Aber das war auch ein anderes Thema, fiel mir aber spontan dazu ein.

Anfangs war mir der Spannungsbogen mit Matti zu überspannt. Da wurde mir zu lange drumrum geredet, bis ich dann mal wusste, was es mit dem Matti auf sich hat.

Gut fand ich die Stellen, die voll ins Zwischenmenschliche abzielen, egal nun, wie das wieso und warum so sind wie sie erzählt werden.

Eine selbstbewusste Entscheidung, die Szenerie in dieses Umfeld zu legen, nur schon von daher klopfe ich dir auf die Schultern. Ich würde mich an den Drumrum-Umständen wahrscheinlich völlig zerreiben, da ist es ganz gut, dass du ein Stückweit die 5 grade sein lassen kannst.

Fazit: Für mich müsste sie ein Stück ausführlicher sein, die Hintergründe besser verständlich gemacht werden, damit ich alles schlucke. Die Zeit hattest du nicht, ich weiß. Also in Anbetracht dessen eine gute KG, verbessern kannst du ja immer noch, wenn du mehr Zeit hast.

Liebe Grüße
bernadette

 

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