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Als ich noch Dein Vater war...
Dieser Ausdruck in seinen Augen, so gütig, voller Wärme, ich wusste nicht woher, aber er kam mir so vertraut vor …
Manuel, mein Sohn, war jetzt fünf Jahre alt geworden. Ein richtiger kleiner Draufgänger, der genau wusste, was er wollte und uns dieses auch manchmal recht eigenwillig bewies. “Manuel”, sagte ich, “was wollen wir heute machen? Wozu hast Du Lust?” Die Antwort wusste ich schon, bevor ich überhaupt gefragt hatte und wissend grinste ich meine liebe Frau an, die leicht abgewandt die Augen verdrehte, ohne dass der Kleine es mitbekam.
In bekannter, übertriebener Freude sprang er vom Sofa auf, rannte zur Garderobe, zog sich seine Jacke an und rief im Raus laufen: “Oma, Kuchen essen”
Dreißig Minuten später stand unsere komplette, kleine Familie vor dem alten Haus, welches auch mein Elternhaus war. Meine Mutter, eine 63 jährige Frau, stand schon in der Tür und lächelte uns freudig entgegen.“Na Ihr Nervensägen, gönnt Ihr einer alten Frau nicht mal am Wochenende Ihre Ruhe?”, rief sie verschmitzt und nahm ihren geliebten Enkel in die Arme, der sich schnell wieder los riss und ins Haus lief.
Meine Frau und ich begrüßten die Hausherrin und gingen hinter ihr her in die Küche, in der es wie immer sonntags so lecker nach Frisch gebackenem roch.
“Manuel, wo bist du denn mein Junge?” Mutter sah sich suchend um und ging erwartungsvoll ins Wohnzimmer. “Hab ich Dich erwischt” hörte ich sie sagen und dann war es still …
Diana sah mich fragend an und ging an mir vorbei Richtung Wohnzimmer, wo sie wieder das Schlimmste erwartete … “Manuel, was hast du wieder angestellt” , rief sie, während sie den Raum betrat. Ich folgte Ihr Kopfschüttelnd und fragte mich wieder einmal: “Warum ist sie nur so ängstlich, war sie denn nie Kind?”
Als ich ins Wohnzimmer kam, sah ich ein vertrautes Bild: Sohnemann saß wie so oft in dem alten Fernsehsessel von meinem Vater und betrachtete in sich versunken das alte Bild, das gegenüber an der Wand hing.
Sein Opa ist zwei Jahre vor der Geburt des Jungen nach kurzer Krankheit verstorben. Seitdem hat sich für meine Mutter das Leben zwar sehr verändert, jedoch der alte Fernsehsessel stand noch immer genau da, wo er schon all die Jahre stand. Mein Vater hatte viel Zeit darin verbracht und ich hatte ihn oft dabei beobachtet, wie er das alte Bild ansah und eine Träne über seine Wange lief. Ich hatte ihn nie danach gefragt, aber das Bild musste Erinnerungen in ihm wecken, welche ihm Traurigkeit überkommen ließ.
Langsam ging ich näher und plötzlich überkam mich eine Gänsehaut. Manuel saß da, den Sessel zurück geklappt, die Beine hochgelegt und starrte gebannt auf das alte Bild gegenüber an der Wand. Er saß da wie einst mein Vater, mit Tränen in den Augen und bebenden Lippen …
Ich schaute meine Mutter an, die reglos neben mir stand und kniete mich vor meinen Sohn. “Manuel mein Schatz, warum weinst Du denn?” fragte ich leise. Nach ein paar Augenblicken
löste er sich von dem Bild, sah mich an mit einem Blick, den ich aus der Vergangenheit nur zu gut kannte und mir eisige Schauer über den Rücken laufen ließ. Leise, voller Trauer sagte er zu mir:
“Als ich noch Dein Vater war, saß ich oft hier vor dem alten Bild. Mir ist dabei immer klar geworden, wie vergänglich doch das Leben ist, aber die 1000 Jährige Eiche wird die Zeichen meiner Liebe noch tragen, wenn ich schon lange nicht mehr bin …”
Plötzlich sprang er auf, lief in die Küche und rief: “Oma, Kuchen essen…”
Noch einige Zeit hockte ich auf dem Boden, versuchte das Geschehene zu verarbeiten, bis ich ein Schluchzen wahrnahm.
Ich blickte auf und sah meine Mutter vor dem Bild stehen. Ich stellte mich neben sie, nahm sie in den Arm und schaute es mir einmal genau an. Dann hörte ich sie mit zitternder Stimme sagen: “Als Dein Vater und ich noch jung waren, trafen wir uns heimlich unter genau dieser Eiche, sieh genau hin …” Ich ging einen Schritt näher an das Bild und was ich dort sah, beantwortete viele Fragen: In die Rinde der alten Eiche waren die Initialen meiner Eltern geritzt, umrandet mit einem Herz, wie es Teenager oft tun …
Ich nahm meine Mutter in die Arme, drückte sie fest an mich und sagte: “Eure Liebe ist stärker als der Tod und wird Euch immer wieder zusammenführen”.
Nachdem wir uns die Tränen abgewischt hatten, gingen wir zu Diana und Manuel in die Küche, die schon damit beschäftigt waren, den leckeren Kuchen zu essen. Der Kleine schmatzte und fragte: “Wo bleibt Ihr denn?” und schien sich an nichts mehr zu erinnern…