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Als ich mich in einen Berg verwandelte
Als ich mich in einen Berg verwandelte, war es dunkel um mich herum. Verschwommenheit ergriff Besitz von meinem Denken.
Ich durchwandelte Ebenen von zerfließender Zeit; sah meine Lebensuhr, rückwärts tickend und plötzlich zum Stillstand kommend; und als meine Zeit still stand, verschwand die Ebene der Zeit.
Aus einem Loch aus Dunkelheit heraus erkannte ich, wie das Meer sich mit dem Horizont verband, zu einer blauen Welt, die das beängstigende Dunkel vertrieb. Das warme Gelb der Sonne traf auf das kalte Blau eines Wintermorgens und vermischte sich zu etwas, das keine Form, Größe oder Entfernung hatte, aber eine so unglaublich anziehende Farbe besaß, dass ich meinen Blick nicht davon abzuwenden getraute. Meine Augen brannten, aber ich durfte sie nicht für eine Sekunde schließen um das, was ich sah, nicht zu verspielen. Doch ich verlor die Bestimmung über meine Bewegungen und so schlossen sich meine Augen.
Es war wie ein Schlag auf den Kopf, der mich in die Welt der traum- und gedankenlosen Bewusstlosigkeit
versetzte. Als wieder Licht in meine Gedankenwelt eindrang, glitt ich mit beachtlicher Geschwindigkeit durch unerforschbare Unberührtheit, durch fensterlose Räume, durchzogen mit einer unbehaglichen Glut, die wie Lava, sich unaufhaltsam ihren Weg suchte, und durch prähistorische Orte von meterhohen, grasähnlichen Pflanzen, zwischen denen unendlich viele Silberfäden gespannt waren.
Darauf durchbrach ich auf wundersame Weise eine Wand aus massivem Granit, der sich sanft anfühlte, fast wie Kribbelwasser im Hals.
Mir wurde keine Sekunde der Rast gestattet, um dies alles zu deuten. Ehe ich mich versah, war ich außerhalb meines Körpers und musste mit ansehen, wie ich plötzlich und sprunghaft an Volumen zunahm, bis ich meine Größe nicht mehr einordnen konnte. Meine Beine und mein Oberkörper verschwanden restlos im Nichts.
Ich musterte mich von dem irgendwo, in dem ich mich befand. Auf meinen überdimensionalen Füßen ruhte ein Kopf -nein, kein Kopf- ein Gesicht, das unverkennbar meine Gesichtszüge trug: die selben Grübchen, die selben ungewöhnlich weit auseinander stehenden aufgedunsenen Augen, die selben rundlichen Wangen. Nur, dass es kein menschliches Gesicht mehr war, was vor mir erstanden war.
Was geschah, war mir ein Rätsel. Seltsam, nun wurde ich statt von meiner wilden, blonden Lockenpracht, von einem dichten Fichtenwald bedeckt. Meine Anspannung strebte der Decke entgegen, prallte ab und hallte in der Ferne wider, obwohl es in dieser Welt nichts zu geben schien, außer mir selbst in Form eines - monumentalen Berges. Ich sann weiter über meine neue Gestalt nach. Durch zwei dunkle Felsspalten konnte ich nach draußen schauen, eine schmale längliche Grotte stellte meinen Mund dar. Zu meinen Füßen waren bunte Wiesen, von unzähligen kleinen Wildblumen bedeckt. Das erfasste ich alles von außerhalb, von allen möglichen Blickrichtungen aus jeder Perspektive, ohne Hintergrund wie der Entwurf eines Bildes und doch ganz anders.
Plötzlich konnte ich mich nicht mehr sehen.
Ich rannte eine Bahn roter Kringel, die bogenförmig schmaler wurde, entlang, ohne Ziel, ohne Plan, ohne Gefühl. Mein Gedächtnis verschwand, ich verfolgte mit den Augen, wie es zwischen den roten Kringeln davon hüpfte. Als ich begriffen hatte, was da passiert war, begann ich, hinter meinem Gedächtnis herzujagen. Ich musste es einholen, musste meine Erinnerungen retten!
Die beunruhigende Stille der Nacht wurde nur durch den Ruf einer Eule unterbrochen. Ich wollte zusammenzucken, doch ich konnte mich nicht rühren. Fest war ich mit der Erde und den Bergen um mich herum verwachsen. Eine scharfe, kühle Windböe durchfuhr den Fichtenwald auf meinem Kopf und trug den salzigen Geruch des Meeres mit sich. Das Meer musste hinter mir liegen, auf meiner anderen Seite. Gern würde ich mich umdrehen um auf den weiten Ozean zu blicken. Vielleicht würde er mich erkennen. Wir waren ja einmal befreundet gewesen, der Ozean, und ich. Jeden Tag war ich zu ihm gekommen, um mit ihm zu reden, ihm Geschichten von den Menschen zu erzählen, die er so gerne hörte. Ich liebte ihn. Wahrscheinlich wollte ich auch an jenem Tag, an dem Tag , an dem ich mich in einen Berg verwandelt hatte, zu ihm, ich wusste es nicht mehr, konnte mich nicht erinnern.
Seit einer geraumen Zeit versuchte ich vergebens zu ergründen, was geschehen war, wer ich gewesen bin und wie ich in meinen jetzigen Zustand gelangt war. Ich presste aus mir jede Perle der Erinnerung heraus, doch ich konnte nichts in Erfahrung bringen, was mich befriedigt hätte. Am meisten Sorge bereitete mir die Tatsache, dass ich nicht wusste, wie lange ich in diesem Berg eingesperrt bliebe, dieses triste Leben führen musste und ob es mir jemals möglich sein würde, mich frei zu bewegen .
Die Nacht neigte sich dem Ende zu, man konnte hinter dem Gipfel eines benachbarten Berges die ersten Sonnenstrahlen hervorluken sehen. Die anderen Berge erwachten. Bald war die Sonne fast ganz zu sehen; sie begrüßte mich strahlend und vertrieb die Bedrücktheit der letzten Nacht. Ein paar Rehe sprangen fröhlich durch meinen Fichtenwald, blieben an einem kleinen Bergsee stehen und stillten ihren Durst. Ich beneidete die Rehe. Sie waren frei, konnten gehen, wohin es ihnen beliebte.
„Guten Morgen, Monta!“ ,sprach die Bergin gegenüber schlaftrunken. „Morgen“, brummelte ich zurück. Warum hatte ich meine alte Gestalt verlassen? Das hatte ich doch nicht aus freiem Willen getan?
„Du hast schon wieder keine Ruhe gefunden“, stellte meine Nachbarbergin fest. „Du grübelst immer noch, das seh ich dir an. Monta, so hör mir zu; suche nicht länger nach deinem früheren Leben, du wirst es genauso wenig finden wie wir anderen. Auch ich habe versucht, herauszufinden, wer ich war. Es ist zwecklos.“ Die Bergin blickte ausdruckslos an mir vorbei. „Aber ich weiß, dass ich das Meer liebte“, murmelte ich. „Das glaubst du nur zu wissen, Monta. Unsere Identität ist irgendwo auf dem Weg hierhin verschüttet worden. Sie, unser früheres Denken, unser Glauben und Hoffen, unsere Liebe, unsere Angst und zuletzt unsere Erinnerungen sind unserem Geiste entflogen. Du kannst mit allen Mitteln versuchen, sie wieder einzufangen, du wirst sie nicht zu fassen kriegen.“ Während die Bergin dies sagte, traten ihr Tränen in die Augen, die sich in kleinen Bächen ins Tal ergossen.
Es konnte doch nicht mein Schicksal sein, bis ans Ende der Zeiten ein Berg zu sein.Erinnerung.Vergangenheit Irgendwo in der Vergangenheit, musste die Antwort liegen, der Schlüssel. Es gab einen Grund. Ich schloss die Augen und drang in die Tiefen meines Gedächtnisses ein, flehte es an, mir das zu offenbaren, wonach mein Herz lechzte. Wortfetzen tanzten einen schwülen Tango mit meiner Gedankenwelt. Etwas war in meinem einstigen Leben geschehen.Erinnerung Vergangenheit.
‚Das einzige was dir bleibt, ist die Erinnerung‘ Wer hatte das gesagt, woher kannte ich diesen Ausspruch?
Vielleicht wollte jemand nicht, dass ich in mein früheres Leben zurückkehrte?
„Monta, bitte! Du machst es dir doch nur selbst schwer, meine Liebe. Du musst lernen, damit zurecht zu kommen“, sagte die Bergin. „Höre auf, dich zu quälen.“ Ich überhörte die Bergin, denn ich war viel zu sehr mit Denken beschäftigt. Es musste eine Möglichkeit geben -.
Ich vernahm den knatternden Motorenlärm eines alten Jeeps, der die Landstraße zu meinem Fuße entlang fuhr. Von der anderen Seite brauste ein Motorrad mit zwei Personen besetzt durch die kurvenreiche Bergstraße.
Was war mit mir in der Nacht geschehen, als ich mich in einen Berg verwandelte? Ich seufzte. Wieso fand ich keine Antworten auf die unzähligen Fragen, die mich belasteten?
Ich verfolgte den Jeep mit den Augen. In diesem verhängnisvollen Augenblick ging mir auf, was zuvor von einem Kokon des Vergessens umschlossen gewesen war.
Als sie die Augen langsam öffnete, erkannte sie verschommen zwei Personen, die sich über sie beugten. Einer, der beiden hielt ihre Hand fest umklammert. Sie wusste nicht, wo sie sich befand. „Ich glaube, sie ist über den Berg," vernahm sie die zweite Person leise sprechen. "Ihr habt wirklich Glück gehabt, dass der Fahrer des Jeeps so schnell reagiert hat, denn sonst wäre es aus gewesen. - Nun legen Sie sich am besten schlafen, mein Junge. Sie sind ja völlig übernächtigt. Ihre Freundin ist bei uns in guten Händen.“