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Als ich mich das erste Mal in Luft auflöste
Es geschah im Sommer des Jahres 1973. Ich war gerade sieben geworden, kam in die Schule und würde bald eine kleine Schwester oder wenigstens einen Bruder bekommen. Meine Mutti wurde immer dicker. Sie schnaufte beim Treppensteigen. Die großen Schwestern mussten ihr bei der Hausarbeit helfen. Dafür wäre ich noch zu klein, sagten sie und schickten mich für drei Wochen in den Urlaub zu Onkel und Tante. Ich wäre lieber zu Hause geblieben. Onkel und Tante hatten nicht einmal einen Fernseher, nur ein Radio, das immer aus war. Aber das Essen war gut, jeden Nachmittag gab es selbstgebackenen Kuchen mit Schlagsahne. Sie hatten einen großen Garten und Bienenstöcke wie mein Opa.
Mit meinem Cousin konnte ich nicht viel anfangen. Benjamin war eben ein Junge und in meinen Augen noch ein Baby. Er rannte den ganzen Tag hinter mir her und versuchte, mich mit einem Stöckchen zu hauen. Ich freundete mich mit der Nachbarstochter an. Sie war in meinem Alter. Gemeinsam dachten wir uns Aufgaben für Benjamin aus, damit er unser Spiel nicht so sehr störte. Wenn wir ihn ausschlossen, petzte er das seiner Mutti und ich bekam Stubenarrest. Das war noch doofer, als vor dem doofen Benjamin mit seinem Stöckchen davonzulaufen. Also entschuldigte ich mich, wie es meine Tante erbat, versprach ihr, ein liebes Mädchen zu sein, und schon ging die Jagd durch den Garten weiter.
Abends kam der Onkel von der Arbeit heim. Er redete nicht viel. Darin war er meinem Vati ähnlich, deshalb fand ich ihn eigentlich ganz in Ordnung. Mich schien er jedoch nicht zu mögen, beachtete mich nicht einmal. Das war ich nicht gewohnt. Misstrauisch verhielt ich mich möglichst unauffällig. Tante und Benjamin buhlten um Onkels Aufmerksamkeit. Hin und wieder schenkte er ihnen ein knappes Lächeln und ein paar Worte, nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte. Dann drehten Benjamin und die Tante richtig auf und sorgten für das Abendprogramm. Ich fand das ziemlich albern, hätte lieber den Sandmann angeschaut, mit Pitti Platsch und Schnatterinchen: „Ach du meine Nase!“ Der Onkel lächelte gnädig. Schließlich, auf ein Wort von ihm, gingen wir alle schlafen.
So ging das, tagein, tagaus. Manchmal war mir so langweilig, dass ich sogar das Streiten mit meinen großen Schwestern vermisste.
Wieder war es Abend, wir hatten bereits gegessen. Die Tante und Benjamin waren heute besonders gut drauf. Benjamin quirlte durch die Stube, die Tante rannte ihm kichernd hinterher. „Jetzt hab ich dich, mein Mäuschen. Aber jetzt hab ich dich!“ Benjamin quiekte wie ein kleines Schwein. Die Tante tat so, als könnte sie ihn nicht fangen, ließ ihn immer wieder entwischen. Ich schaute zum Onkel. Sein Gesicht sah aus wie glattgebügelt. Lässig lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, die Arme verschränkt, die Beine übereinandergeschlagen, sein rechter Fuß wippte. Benjamin krabbelte unter den Tisch, hielt das rechte Hosenbein seines Vatis fest und krähte: „Der Vati ist auch eine kleine Maus!“ Der Tante liefen die Tränen vor Lachen. Onkel gefror in seiner Haltung. Benjamin rupfte am Hosenbein, johlte: “Vati, du bist mein kleines Mäuschen, ein ganz süßes kleines Mäuschen.“ Plötzlich langte der Onkel nach unten, griff sich den Benjamin, legte ihn über sein Knie und haute zu, fest, ganz fest. Benjamin schrie und wimmerte. Tante Anneliese bettelte und weinte. Onkels Augen funkelten, er schlug immer schneller, immer härter.
Ich wurde unsichtbar. Bis der Spuk vorbei war.