Als ich eine Frau war - Ein Leben von Einstein bis Hitler
Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war etwas anders als gewöhnlich. Die Tatsache, dass ich mir beim langsamen Aufrichten den Kopf an der Schräge über meinem Bett eindellte, war nichts außergewöhnliches, jedoch hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Als ich mir die Zähne putzte, merkte ich, dass mein Mund schmaler geworden war. Außerdem waren meine vom Nikotin gelb gewordenen Zähne plötzlich schneeweiß. Ich wollte mir gerade den Schlafanzug ausziehen um in die Dusche zu gehen, als ich merkte, dass ich einen ominösen Vorbau hatte. Als ich meinen Blick gen Spiegel richtete, war ich schockiert und erfreut zugleich. Ein Blick in meine Unterhose bestätigte den Verdacht; ich war über Nacht weiblich geworden. Wie in diesem Song „Als ich eine Frau war“ von Götz Widmann, allerdings ohne vorher etwas einzunehmen.
Langes blondes Haar flankierte meine schmalen Schultern und endete an meinen vollen Brüsten. Meine Maße waren exzellent, die Nase nicht zu groß, die Augen nicht zu klein. Ein tiefes Blau reflektierte sich im Spiegel. Voller Genuss und Erwartungsfreude nahm ich meine morgendliche Dusche. Danach ging ich zu meinem Kleiderschrank um mich einzukleiden. Als ich die Türen öffnete, war ich erstaunt. Alles Mögliche war dort zu finden. Ich zog mir eine alte Jeans an und dazu ein Top mit der Aufschrift: „Wollen wir Stricken?“ Dummes Ding, wusste gar nicht, dass ich etwas so anstößiges besaß. Als ich zum Frühstück ging merkte ich, dass weder meine Eltern noch mein Bruder zugegen waren. Ich war also ganz allein. Zudem hatte ich fürchterlichen Hunger auf Müsli und Schokoriegel. Ich genehmigte mir eine ordentliche Portion, suchte meinen Schulrucksack und meine Autoschlüssel, sowie meinen Geldbeutel. Als erstes warf ich einen Blick auf meinen Personalausweis und meinen Führerschein. Erstaunt legte ich beides zurück in meine Geldbörse.
-Armignola, Christina-geb. am 15.11.1984 in Buenos Aires-1,70m groß-52kg schwer- stand dort geschrieben. Ich war also Argentinierin. Als ich zur Garage ging, staunte ich nicht schlecht. Anstatt dem grünen Nissan Micra fand ich einen sportlichen Porsche Boxster in silbermetallic vor. Ich startete den Motor und fuhr in die Schule. Als ich dort ankam, staunten alle nicht schlecht. Bei manchen fiel die Kinnlade noch weiter herunter als bei mir selber, als ich mich heute Morgen erblickt hatte. Mein Stundenplan war jedoch gleich geblieben. Als erstes Kunst, danach Deutsch und Latein. Ich nahm meinen gewohnten Platz in der rechten hinteren Ecke neben Tobias K. ein und erwartete die Reaktion der übrigen Jungs. Keiner sagte etwas. Wie sollte ich nun ergründen, wo meine wahre Identität, sprich Sebastian Scheffler, geblieben war. Von den Jungs konnte ich niemanden fragen, da sie sonst denken würden, ich wäre nicht ganz bei Trost. Das einzige, was mir während den Kunststunden auffiel war, dass mich Herr Klöckner die ganze Zeit über beobachtete und mir feuchte Blicke zuwarf. Allerdings ging ich auf diese billigen Anmachversuche dieses alten Sacks gar nicht weiter ein. Schlimmer war es nur mit meinem indirekten Gegenüber; Jan-Henrik J. aus Dotzlar. Er sabberte nicht nur andauernd auf den Tisch, während er mir ununterbrochen auf die Brüste starrte, er gab zudem auch noch in fünfminütigen Abständen tierische Laute von sich. Tobias und Thomas S. schienen er unbeeindruckt zu sein, denn sie wussten genau, dass sie bei mir nicht landen konnten. Das Einzige, was sie nicht wussten war, dass ich das Gedächtnis von Sebastian Scheffler behalten hatte und nur mein Äußeres mutiert war. Leider schien niemand Sebastian wirklich zu vermissen. Vor allen Dingen die anderen Jungen der Jahrgangsstufe schwänzelten andauernd um mich herum. Im Deutschunterricht kam schließlich die Erkenntnis. Nach der ersten Stunde merkte ich, dass sich meine mündliche Beteiligung stark verbessert hatte. Ich wusste nicht nur alles über die Epoche des Vormärz, ich konnte auch alle Geburtsdaten der wichtigsten deutschen Schriftsteller aufzählen und etwas zu allen Werken dieser Epoche sagen. Hatte ich all diese Bücher gelesen? Das war aber noch nicht alles. Ich wusste zudem über alle geschichtlichen Daten bescheid und konnte fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Was war nur geschehen? Ich fühlte mich mehr und mehr wohl in meiner Rolle als begehrenswertes Mädchen. War ich im falschen Körper geboren? Diese Vorstellung machte mir Angst.
Herr Braedel rief mich nach der zweiten Stunde zu sich und stellte mir ein paar Fragen.
„Du weißt aber gut bescheid, bist eine richtige Bereicherung für den Kurs. Jedoch ist es trotzdem schade, dass ich Sebastians Werdegang nicht weiterverfolgen konnte, aber ich denke, dass er sich gut macht, als Drogenhändler in Colombo“
Ich war also auf Sri Lanka gelandet, ohne es zu wissen. Bei der Vorstellung, dass ich jetzt ein cooler Drogenboss bin, der lange Zigarillos raucht, alle Weiber bekommt und ne Menge Kohle hat, ging es mir innerlich schon besser. Zudem wurde meine Rolle in Wittgenstein von ner richtig geilen Sau besetzt, die alle leiden konnten und die gute Leistungen in der Schule brachte.
In Latein setzte sich dies nahtlos fort. Problemlos konnte ich einen dreißigzeiligen Text übersetzen. Langsam machte ich mir selber Angst. Ich war schön, intelligent, einfach perfekt. Irgendeinen Haken musste die Sache doch haben.
Ein paar Stunden später. Ich kam nach Hause, wollte nur noch meine Ruhe haben. Ich öffnete die Tür und etwas wirklich Ekliges stand vor mir. „Hallo Schatz,“ miepte es durch den Raum. Ich war mit Karl Dall zusammen. Wie konnte sich eine solche Göttin, ein Traum von einer Frau, die Lustnymphe der Weltgeschichte mit einer solchen Null abgeben. Bei der Vorstellung, mit diesem Alptraum eines Mannes Sex zu haben, wurde mir speiübel. Doch diese Gedanken brauchte ich mir nicht mehr zu machen. Alles um mich herum wurde schwarz. Das letzte was ich sah, war der Kalender an der Wand. Dort stand geschrieben: Dienstag 13. Mai 2003.
Es war wieder Morgen, der Morgen des 14. Mais. Der Schauplatz hatte gewechselt. Ich fühlte meine Bartstoppeln und mein knochiges Gesicht, von Karl keine Spur. Ich war wieder ein Mann. Erleichtert atmete ich auf. Als ich mich umsah, war die Erleichterung zum Teil verflogen. Ich lag in einem Bett mit Seidenvorhang und hatte einen Skelettkopf auf meiner Brust tätowiert. Außerdem hatte ich ein ordentliches Sixpack und war auch sonst muskelbepackt. In meinen Armen lag eine heiße Südländerin mit perfektem Körper und langen schwarzen Haaren. Als ich mich aus ihrer Umklammerung lösen wollte, wurde sie wach und stöhnte mir sanft ins Ohr. „Oh Franco, die letzte Nacht war wirklich gut, ich liebe dich.“ Sie hieß Maria-Franceska. Das wusste ich, weil es in ihr Nachthemd eingestickt war, zu meinem Glück. Anscheinend war ich mit ihr zusammen; oder auch nicht. Als ich in ein mit Marmorboden und goldenen Wasserhähnen verziertes Badezimmer kam, lag ein noch hübscheres Mädchen in der Badewanne. Auch mit ihr schien ich ein Schäferstündchen gehabt zu haben. Was für ein Leben. Geld, Frauen und Alkohol. Ich zog mir eine Lederjacke und eine Nietenhose an und ging in die Küche. Dort saß ein dicker Mann, er war mein Bodyguard. Ich schien mich wirklich in Colombo aufzuhalten. Ich sah es an der Tageszeitung, welche auf dem Tisch lag. Zu meinem großen Erstaunen konnte ich die spanischen Zeilen ohne Probleme lesen.
Natürlich war ich etwas verwirrt, denn es passierte nicht jeden Tag, dass man erst eine Frau und später ein wohl mächtiger Drogenboss war. Plötzlich wurde ich von einem lauten Klopfen aus meinen Tagträumen gerissen.
Mein Bodyguard stand auf und ließ einen schmalen Mann mit dünnem Oberlippenbart herein. Zudem hatte er einen schmierigen Seitenscheitel. Irgendwie kam mir dieser Mann bekannt vor. Doch irgendetwas passte nicht. Ich hatte ihn anders in Erinnerung. Er trug eine zu enge schwarze Mustangjeans und ein rotes T-Shirt. Außerdem hatte er schwarze Lederschuhe an.
Konnte es denn möglich sein?
Mein Bodyguard drehte sich zu mir um und sagte mit tiefer Stimme: „Boss, ein Adolfo Itler möchte sie sprechen. Er sagt, er käme aus dem Exil und hätte eine wichtige Aufgabe für sie. Soll ich ihn hereinlassen?“
Plötzlich wurde mein Interesse geweckt. Ich sollte also mit dem Führer sprechen. Viele Gedanken zogen an mir vorbei. War ich am Träumen? Hatte ich zwei seltsame Träume hintereinander? Nein, dass konnte nicht sein und wäre auch eine zu einfache Erklärung.
Plötzlich stand Adolf in seiner ganzen Größe (156cm) vor mir. Er sprach mit einem komischen Akzent, welchen ich beim Zuhören gleich in ein normales Deutsch übersetzte.
„Herr Baresi, ich habe da etwas, wofür sie sich bestimmt interessieren; es ist etwas ganz großes. Allerdings liegt es seit gut 60 Jahren auf Eis. Damals habe ich 12 Jahre lang daran gebastelt, es aber zu radikal angegangen, so dass ich gescheitert bin. Also, wenn sie weitere Infos haben möchten, sie erreichen mich immer unter dieser Nummer.“
Er gab mir seine Visitenkarte. Dort stand tatsächlich der Name des Führers drauf. Was wollte er nur von mir?
Am Nachmittag dieses Tages rief ich an. Seine Sekretärin stellte mich sofort durch. Ich besprach mit ihm alle Einzelheiten. Noch heute Abend sollte ich mich mit ihm in einem Restaurant in der Innenstadt treffen. Dort wollte er mir seine Aufzeichnungen geben. Gespannt fuhr ich los.
Das Treffen verlief sehr konstruktiv. Ich hatte ein Buch mit der Aufschrift „Das 1000jährige Reich in drei Tagen erschaffen“ bekommen. Ich setzte mich sogleich in meinen Schaukelstuhl, zündete eine „Fad-Lady“ an und studierte. Es muss so gegen drei Uhr in der Nacht gewesen sein, als ich über meiner Lektüre einschlief. Was ich bisher gelesen hatte klang in erster Linie krank, keinesfalls plausibel.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, war ich immer noch in Colombo. Nichts hatte sich verändert. Bis auf die Tatsache, dass das Buch verschwunden war. Stattdessen lag ein Flugticket nach Frankreich auf dem Tisch. Ich war mir sicher, keinen Flug gebucht zu haben, doch als mein Bodyguard hereintrat, um mir mitzuteilen, dass ich schon spät dran sei, zog ich mich an und brach mit ihm in Richtung Flughafen auf.
Sieben Stunden später stand ich vor dem Eifelturm. Ich sollte mich dort mit einer jungen Frau aus Deutschland treffen, welche Informationen für mich hatte. Obwohl ich keinesfalls vorhatte, das 1000jährige Reich zu gründen oder sonst in die Weltgeschichte einzugehen, war ich doch neugierig, welche Überraschung hier auf mich wartete.
Ich war gerade durch die rote Meile der Stadt gegangen und hatte alle Angebote der Prostituierten abgelehnt, als ich Zeuge eines brutalen Raubmordes wurde. Ein fünfzähnjähriger Radfahrer überfuhr eine alte Frau mit seinem Mountainbike und klaute ihr die Handtasche, als diese gerade ihre Notdurft hinter einer großen Eiche erledigen wollte.
Langsam verstand ich die Welt nicht mehr.
Nach kurzer Zeit hatte ich endlich den Eifelturm erreicht. Von meiner Kontaktperson keine Spur. Plötzlich sah ich jemanden in der Ferne aus dem Taxi aussteigen. Als sie näher kam, erkannte ich ganz deutlich ihre Züge.
Sie war……sie war ich!
Oder besser gesagt sie war das Mädchen, welches meine Rolle in Berghausen eingenommen hatte. Wie konnte es sein, dass ich mich mit meiner anderen Identität treffe und das ganze auch noch auf Bestellung.
Ich musste doch besoffen eingeschlafen sein.
Da standen wir nun also, Auge in Auge direkt voreinander; sie und ich. Ich wusste wer ich war und ich wusste auch, dass sie ich war und zudem wusste, wer ich war und was ich denke, doch wusste ich nicht wer sie in Wirklichkeit war. Genauso kompliziert, wie sich meine hier niedergeschriebenen Gedanken anhören, war die Situation auch in Realität. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Gespräch mit mir beginnen sollte. Die Frau, welche meine gesellschaftliche Position zu Hause in Berghausen verkörperte, sah nicht nur extrem gut und begehrenswert aus, sie hatte zudem auch eine selbstbewusste Ausstrahlung, welche bei mir in dieser Situation nicht spürbar war. Ich war nervös. Plötzlich begann sie das Gespräch in Schwung zu bringen.
Wir unterhielten uns eine halbe Stunde und ich erzählte ihr all die verrückten Dinge, die ich erlebt habe, mit Adolf Hitler und dem ganzen anderen Zeug. Sie hörte zu und schien genauso wenig zu verstehen wie ich. Allerdings wusste sie schon vorher genau, was ich sagen würde, da meine Gedanken auch die ihren zu seien schienen. Umgekehrt konnte man das leider nicht behaupten. Das einzige was ich wusste war, dass ich mich einen Tag lang in der Frauenrolle befand. Doch ich hatte keinen blassen Schimmer, was in ihr vorging. Sie war also wie eine Fremde in der eigenen gesellschaftlichen Rolle.
Nach eben dieser halben Stunde trennten sich unsere Wege.
Ich erreichte den Schuppen in den Docklands so gegen Mitternacht. Wonach ich suchen sollte, wusste ich nicht. In dem Gespräch mit meinem weiblichen Ich hatte ich weitere Instruktionen bekommen. Ich sollte mich gegen Mitternacht eben hier am Hafen einfinden. Als ich sie gefragt hatte, warum ein derartiger Rollentausch, ja fast ein Klonvorgang stattgefunden hatte, erwiderte sie nichts. Sie schwieg und gab nur stumpfe Befehle von sich. Und nun stand ich hier. Der Vollmond leuchtete mir ins Gesicht und es war bitterkalt. Einige veraltete Schiffe rosteten hier am südlichsten Dock des Hafens still und leise vor sich hin. In der Ferne war das Donnern der Autobahn zu hören. Sonst herrschte Totenstille.
Als sich nach einer Viertelstunde immer noch nichts tat, wurde ich nervös. War ich in eine Falle geraten?
Alles wirkte wie in einem billigen Tatort-Abklatsch. Nur das kein Kommissar in der Nähe war. Ich erinnerte mich gerade an eine der alten Schimanskifolgen, als sich plötzlich meine schrecklichen Gedanken bewahrheiteten. Vor mir tauchte eine schwarze Limousine auf. Ich wurde von dem grellen Schweinwerferlicht geblendet. Es gab kein Entrinnen.
Das Gefährt hielt etwa 10 Meter vor mir an. Zwei schwer bewaffnete und zudem sehr muskulöse Männer stiegen aus. Sie hatten beide schwarze Anzüge an und einen schwarzen Hut auf dem Kopf. Kein Zweifel, es war die Mafia.
Als ich mir so meine Gedanken machte, was nun mit mir geschehen würde, öffnete einer der schweren Kolosse die Tür des hinteren Teils der Limousine. Ein hagerer Mann mit weißem Schnurrbart stieg aus und begrüßte mich mit einem breiten Grinsen. Er wirkte auf mich sehr sympathisch, doch konnte ich aufgrund seiner schwarzen Sonnenbrille, welche er im Gesicht trug nicht genau erkennen, mit wem ich das Vergnügen hatte.
Doch zu meinem Erstaunen nahm er die Brille ab.
Ich konnte es nicht glauben. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Eine der berühmtesten Persönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts stand vor mir. Sein Haar war genauso zerzaust wie auf den berühmten Fotos und Gemälden, die von ihm existieren. Nur seine Zunge hatte er mir bisher noch nicht gezeigt. Was er wohl von mir will?
Wie sie sicher schon erkannt haben, handelte es sich bei dieser komischen Person um niemand geringeren als Albert Einstein. Sollte er der Schlüssel zur Lösung meines Problems sein? Doch Gemach. Nun stand er direkt vor mir. Wir hielten eine Weile direkten Augenkontakt, ehe er zu sprechen begann. „Sie wissen bestimmt nicht, warum sie hier sind, Herr Scheffler?“ Wie Recht er hatte. „Ich versuche ihnen nach und nach alles, was in den letzten Tagen in ihrem Leben geschehen ist, langsam und plausibel zu erklären. Wenn sie nicht mehr mitkommen sollten, sagen sie einfach bescheid und unterbrechen sie mich. Dann kann ich es ihnen langsam und gestückelt näher bringen.“
Ich war einverstanden. Endlich sollte sich der Knoten in meinem Kopf lösen. Wenn man in Deutsch also von einem retardierenden Moment spricht, dann habe ich dieses die letzten 48 Stunden erlebt. Doch der dramatische Knoten schien nun endlich gelöst zu werden. Der Höhepunkt stand also unmittelbar bevor.
Gespannt spitzte ich meine Ohren und lauschte den Worten eines weisen Mannes unserer jüngeren Geschichte.
„So Herr Scheffler, fangen wir ganz vorne an. Vor drei Tagen wurden sie wach und fanden sich im Körper einer Frau wieder. Diese war bildhübsch und in ihrer Umgebung bestens bekannt und etabliert. Dubioserweise handelte es sich hierbei um ihre heimische Umgebung, Herr Scheffler. Außerdem hatten sie alle ihre alten Gedanken behalten und nur ihre äußere Schale, sprich ihre Fassade hatte sich grundlegend geändert. Einen Tag später waren sie wieder männlich und physisch sowie psychisch der Alte. Doch nun hatte sich ihr Aufgabengebiet und ihre Umgebung verändert. Sie waren also resozialisiert bzw. düssozialisiert worden. Soweit alles klar?“
Ich nickte. Bisher hatte mir Herr Einstein soviel sagen können, wie ich vorher schon wusste.
„Was ich ihnen jetzt sage, wird für sie komisch ja sogar absurd klingen, aber glauben sie mir, alle meine Worte sind wahr. Die Frau, welche sie vorhin getroffen haben und welche sie in den letzten Tagen verkörpert haben, ist ein Wesen aus ihrer Vergangenheit. Der Drogenbaron wiederum ist ein Bild, welches ihre Zukunft projiziert. Im Klartext heißt das. Bevor sie geboren wurden, waren sie in einem ihrer früheren Leben eine Frau, eben diese hochtalentierte, hübsche junge Dame, die nun ihren Platz eingenommen hat. In ihrem jetzigen Leben, oder in ihrem Nächsten, je nachdem wie sie es anstellen, werden sie der Drogenbaron sein, welchen sie zur Zeit verkörpern. Schwer zu glauben, aber wahr.“
Ich schluckte. Bisher hatte ich alles verstanden, doch wusste ich nun immer noch nicht, wieso beide Welten in meiner jetzigen, sprich der Gegenwart, zusammengelaufen sind.
„Sie fragen sich jetzt bestimmt, wie es sein kann, dass all diese Figuren in ihrer Zeit, also im Hier und Jetzt, zusammengekommen sind. Ich werde es ihnen erklären. Kurz vor meinem Tod habe ich eine Zeitmaschine entwickelt. Diese Zeitmaschine sollte dazu dienen, in die Vergangenheit zu reisen, um dort begangene Fehler oder auch Verbrechen rückgängig zu machen, um das Leben der Menschen in der Zukunft sicherer und lebenswerter zu gestalten. Als Testperson suchte ich jemand Aufreizendes, jemanden, der auffiel und trotzdem unauffällig war, wenn sie verstehen was ich meine. Also nahm ich die Frau, welche nun in ihrer Zeit lebt. Sie starb in Wirklichkeit 1982 bei einem Flugzeugabsturz, so dass sie 1984 geboren werden konnten. Also wie gesagt, ich schickte sie in die Vergangenheit, um zum Beispiel Fehler wie den Bau der Atombombe (Entschuldigung, mein Fehler!) rückgängig zu machen. Doch schon beim ersten Testlauf fiel das Zählwerk aus der Maschine und meine Testperson landete im späten 21. Jahrhundert und traf dort auf eben diesen Drogenbaron, der sie jetzt sind. Danach machte ich die Maschine aus und reparierte meinen Fehler. Der darauf folgende Eiskaltstart wurde von mir durchgeführt, ohne zu beachten, dass ich selber auf dem Beamer stand. Deswegen bin ich jetzt hier.“
Soweit hatte ich alles verstanden, doch logisch klang alles immer noch nicht.
„Alles schön und gut“, sagte ich „aber ein paar Fragen habe ich noch. Wie ist es möglich, dass ich als unbeteiligter in beide Figuren, also in meine Zukunft und in meine Gegenwart integriert werde und wo kommt Adolf Hitler her?“
Einstein lachte laut.
„Immer langsam mit den jungen Pferden, eins nach dem anderen. In einer weiteren Versuchsreihe habe ich getestet, was die Zukunft aus den Menschen macht. Ich habe mir also einen futuristischen Stammbaum meiner Testperson anfertigen lassen. Zwei Punkte habe ich mir darauf markiert. Einmal die erste geschlechtliche Wandlung, das waren sie und einmal der Wandel von einem guten in einen bösen Menschen, also in diesem Fall der Wandel von ihrer Person in die des Drogenbarons. Genau in diesem Moment, als ich diese markanten Punkte in die Berechnungen der Maschine einbezogen hatte, blieb sie stehen. Ich war schockiert. Als ich sie dann wieder anmachte, landeten wir zufälligerweise alle in einem Zeitloch. Deswegen sind wir hier.“
„Was ist ein Zeitloch“? wollte ich wissen.
„Ganz einfach, schauen sie doch mal auf ihre Uhr. Was sehen sie?“
„Sie dreht sich nicht, das gibt es ja nicht.“ Es war mir in dem ganzen Stress gar nicht aufgefallen.
„Eben, wir sind in einem leeren Raum, in einer sogenannten zeitlichen Leerstelle. Ähnlich wie die Schlafphase des Menschen. Wir sind hier, ohne dass etwas geschieht. Wenn sie diese Phase verlassen, werden sie wieder an dem selben Morgen aufwachen, an dem sie als Frau aufgewacht sind. Sie werden sich an alles erinnern können, bloß wird die Zeit, die in den letzten drei Tagen vergangen ist, noch vor ihnen liegen.“
Ich verstand, doch war mir nicht ganz klar, was das Ganze sollte.
„Warum sitzen wir in so einer Leerstelle“?
„Wir sitzen hier, damit die Weltgeschichte nicht durcheinander gerät. Als ich das Problem erkannt habe, habe ich eine Leerstelle in meine Maschine eingefügt und alle Personen, die nun ohne Aufgabe in der Welt herumirren, miteinbezogen, um sie einzufangen. Dies ist mir zum Glück gelungen. Mit diesem Phaser“, er hielt eine kleine Tastatur hoch, „werde ich jeden von uns in seine Zeit zurückbringen. Dann ist alles wieder im Lot.“
„Und was ist mit Hitler?“ wollte ich wissen.
„Den leider auch. Sonst sind alle Geschichtsbücher wertlos. Ihn wegzulassen, wäre das Beste, was der Welt passieren könnte, doch würden die Ideologien und Anschauungen der meisten Menschen auf der Erde danach derart verändert, dass es zu einem riesigen Chaos kommen würde. Das kann ich nicht riskieren.“
„Und was wäre, wenn sie das Stauffenberg-Attentat gelingen lassen würden?“
„Was glauben sie, was das Stauffenberg-Attentat überhaupt hat scheitern lassen?“
Ich hatte keine Ahnung.
„Nietzsche war es. Er hat ebenfalls eine Zeitmaschine programmiert, nur vor mir. Und eben just in dem Moment, als Stauffenbergs Sprengsatz explodierte, war Hitler in Nietzsches Leerstelle gelandet. Ähnlich so wie heute. Er plante gerade seinen Russlandfeldzug, als meine Agentin auf seinem Schreibtisch einschlug, da die Maschine stehen blieb. Sie landete genau auf einem Tintenglas, welches sich derart über die topographische Karte der strategischen Kriegsführung ergoss, dass alle Daten unbrauchbar waren. Deshalb hat Deutschland den Krieg verloren. Und nun, darf ich bitten?“
Eine Frage hatte ich dann doch noch. „Herr Einstein, was ist denn eigentlich mit dem Film ‚Und täglich grüßt das Murmeltier’, wo Bill Murray jedes Mal am Morgen des selben Tages aufwacht?“
„Nichts berauschendes, eine Idee von mir. Und jetzt, machen sie sich bereit.“
Er drückte auf den Knopf, alles wurde Dunkel.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, hatte ich fürchterliche Kopfschmerzen, aber zum Glück keine Brüste.
Am Frühstückstisch begrüßte mich meine Mutter mit den Worten: „Du hast wieder nur fünf Minuten im Bad gebraucht, gut das du kein Mädchen geworden bist.“
Ich lachte laut und sagte: „Kommt Zeit, kommt Rat.“
Meine Worte wurden von ungläubigen Blicken begleitet. Ich setzte mich und freute mich auf den nun kommenden Tag.