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Als die Dummheit aus dem Universum getilgt wurde
Dritte Versammlungsstunde der Lerngruppe 67. Leitung: Haupt-Mitdenker Gebb Tranto.
„Willkommen. Unser heutiges Thema hat Mitdenkerin Sila vorgeschlagen. Sila, sag doch selbst kurz, worum es geht.“
„Gerne, geehrter Haupt-Mitdenker. Das von mir gewählte Thema lautet: Gerechte Versorgung mit Kunstgenen im Kontext von ...“ Zack. Unterbrechung angefordert.
Jóram Taitor fragte noch einmal, während er den harten, kalten Griff seiner Strahlwaffe streichelte. Seine ruhigen Züge erwarteten die Antwort.
„Ich weiß genau“, sagte der kleine Mann vor ihm, „dass es grüne Sterne gibt.“
„Schon mal einen gesehen?“ Während Taitor dies fragte, sank die Temperatur seiner Stimme unter die des Titanstahls seiner Waffe.
Der kleine Mann stolperte einen Schritt zurück, richtete die Augen kurz nach oben und schüttelte langsam den Kopf. Seine Hände spielten sinnlos mit seinem Schlips.
„Warum nur“, sinnierte Taitor, „vielleicht, weil es keine gibt?“ Die Strahlwaffe lag schwer in seiner Hand. Er würde sie benutzen. Er würde wieder ein unwürdiges Wesen niederer Intelligenz auslöschen. Seine Augen glühten. Und dann glühte der kleine Mann und ging im Nichts auf. Seine Energie wurde absorbiert und das Gleichgewichtsystem des Universums schien vor Glück zu frohlocken, und als tiefe Zufriedenheit sprang es auf den stolzen Held über. Sein Tag war erfüllt ... Zack.
„Guwut“, entfuhr dem Haupt-Mitdenker – ein Fluch, immerhin auf Hochorionisch, „was war das für eine Einblendung?“
Niemand hatte eine Antwort, daher beendete er die Versammlungsstunde und beantragte eine dringliche Sprechstunde beim Dekan.
Nächster Termin: Leiter Lerngruppe 67. Geplante Dauer: Drei.
Die Tür ging auf, und Gebb beeilte sich, die Entfernung zum großen Sessel des Dekans zu überbrücken. „Ri mux“, grüßte er.
„Ri untux mux“, antwortete der Dekan und verwandelte sich in eine grüne Riesenschlange. Dem Haupt-Mitdenker entfuhr ein Seufzer, denn das bedeutete, dass der Dekan in seiner eigens erfundenen Kunstlingua sprechen würde. Gebb holte tief Luft und trug sein Anliegen vor: „Dekan, ein Ausschnitt aus John Furkampers verbotenem Monumentalwerk ist in unsere Moral-Genetik-Stunde eingedrungen. Ich verlange, dass Maßnahmen getroffen werden, damit dies nicht wieder vorkommt.“
Furkamper, John. Unter diesem Pseudonym schrieb der Sozial- und Medienwissenschaftler ->Prof. Dr. phil. Hannar Dàngel (*2098 +2136) von 2130 bis 2136 sein achtbändiges Monumentalwerk »Als die Dummheit aus dem Universum getilgt wurde«. Furkamper gilt posthum als Denkvater und geistiger Mentor der Intelligenz-Selektions-Bewegung, die laut eigener Diktion Wesen mit geringer Intelligenz im Dienste des Allgemeinwohls ausrotten will und durch zahlreiche, spontane Mordanschläge in der ganzen Galaxis für Unruhe sorgt. Seit dem Attentat auf Presidente de Aguilaro am 3.4.2144, zu dem sich die Bewegung bekannte, ist sie, wie auch John Furkampers Werk, auf zahlreichen Planeten verboten.
Universelles online-Lexikon der Folgen von Literatur, 17. Auflage, 2145.
Der schlangenförmige Dekan entgegnete: „Moralisch hoch wissentlich, wir, Sozialismus. Professor Dàngel honor max.“
„Dieser Meinung sind zahlreiche Personen. Der Rest des Universums nicht“, malte Gebb große Kreise in die Luft, „zufälligerweise ist letzteres genau jene Personengruppe, gegen die sich Furkampers – oder Dàngels – Werk richtet.“
„Fokus non homo. Fokus Intelli-genz, sel-ec-tion artificia.“
Gebb sank in sich zusammen. Der Dekan wusste genau, dass diese beiden Standpunkte unvereinbar waren, oder zumindest eine längere Diskussion nötig wäre, um ...
„Terminus dialog. A rii.“
Stundenplan von Sila Devis für den Denktag Hanno 7.9.2146:
Eins, Kausalität und frühe Rhetorik II, Beginn: früh, Dauer: Hundert.
Zwei, Moral und Genetik, Dauer: Fünfzig.
Drei, Essen, gemeinsam, Dauer: Dreißig.
„Tark anoa, geje debin.“ Die tiefseeblauen Buchstaben formten das Motto der Orion-Universität. Gebb Tranto überquerte das Campus-Bächlein auf der Stahlbrücke, deren Geländer von grünen, flüsternden Statuen gehalten wurde. Auf der anderen Seite traf der Haupt-Mitdenker für Moral und Genetik die grauhaarige Studentin Sila Devis. Graue Haare waren im Moment groß in Mode. Aufgrund seiner zahlreichen Verpflichtungen war Gebb noch nicht dazu gekommen, seine umzufärben.
„Rii“, grüßte Sila. Es war das einzige hochorionische Wort, das sie kannte. Daher verstand sie auch nicht das Motto der Universität, jedenfalls war es ihr gerade nicht präsent. Aber immerhin konnte sie den Gepflogenheiten entsprechend grüßen.
„Rii mux“, antwortete Tranto.
„Alles dicht?“, fragte Sila, lächelte ihn oberflächlich an und winkte mit zwei roten Saftflaschen. Gebb grinste zur Bestätigung.
Beide machten sich auf den Weg zu Gebäude A12. Sila brach das Schweigen: „Hast du etwas über die Einsickerung vom letzten Mal herausbekommen?“
„Einsickerung?“
„Du weißt schon ... Furkamper.“
Sila versuchte, Gebb nicht allzu freundlich anzusehen. Er sollte auf keinen Fall auf die Idee kommen, sie könne in ihn verliebt sein. „Ich kenne jemanden, der sowas schon einmal erlebt hat. Aber nicht an unserer Uni, schon gar nicht mitten in der ...“ Sie ließ den Satz unvollendet. Oh nein! Sie hatte zwei Wörter, jemanden und unserer, falsch betont. Jetzt wusste Gebb mit Sicherheit, dass sie in ihn verliebt war. Was hieß noch gleich „verdammt“ auf Hochorionisch?
Gebb war entgangen, dass Sila ihren Satz nicht beendet hatte. Am Eingang zu Gebäude A12 hatte er die kleine, braunhaarige Jada entdeckt. Sein Gesicht entwickelte ein tiefes Lächeln, denn er war in sie verliebt, obwohl er nicht einmal ihren richtigen Namen kannte. „Nenn mich Jada, nein, ich heiße nicht so, aber nenn mich einfach Jada“, so oder ungefähr so lautete der erste Satz, den man von ihr hörte. Gebb hatte einen Freund, der einmal mit Jada geschlafen hatte, aber auch der wusste ihren Namen nicht. Vermutlich hatte er überhaupt nicht mit ihr geschlafen. Falls doch, beneidete Gebb ihn darum. „Riii“, rief er der Frau am Eingang von weitem zu. Alle drei betraten kurz darauf den Versammlungsraum. Sila strich durch ihre grauen Haare und war erleichtert. Der Haupt-Mitdenker schien nichts bemerkt zu haben, jedenfalls hatte er nicht gefragt, ob sie mit ihm Sex haben wollte. Natürlich hätte sie nein gesagt und dann die ganze Nacht geweint.
Vierte Versammlungsstunde der Lerngruppe 67.
„Willkommen. Heute wollen wir endlich das von Sila vorgeschlagene Thema besprechen, wovon wir letztes Mal leider abgehalten wurden. Sila?“
„Werter Herr Haupt-Mitdenker, ich hoffe, dass ein solch seltsames Ereignis nicht noch einmal...“ Zack. Unterbrechung angefordert.
(„Guwut“, hörte Sila den Haupt-Mitdenker fluchen. Ach ja richtig, dachte sie, das heißt „verdammt“ auf Hochorionisch.)
Das Düsenboot brachte Jóram Taitor in kurzer Zeit bis zur Guané-Insel. Mitten aus dem tiefen See Effà ragte sie, künstlich oder kunstvoll gebaut, je nach Einstellung; jedenfalls symbolisierte sie den Höhepunkt der Arroganz ihres Bewohners, des Gouverneurs von Caiphed. Die Sondersteuer zur kulturell-ästhetischen Anpassung an das galaktische Niveau hatte die Bevölkerung in Armut und Hunger getrieben, das so finanzierte Mal caiphedanischer Schaffenskraft hatte sich jedoch als pompöser Gouverneurspalast entpuppt.
Aber zum Glück gab es Jóram Taitor. Während das Düsenboot neben einem der siebzehn glitzernden Titan-Türme schaukelte, brachte Taitor die Quantensprengladung an. Über Bildfunk vergewisserte er sich, dass alle fünf Kunstlobbyisten zur heutigen Vernissage im Skulpturenpark des Palastes erschienen waren. Mit einem feinen Lächeln wendete er das Boot, beobachtete dabei, wie jede einzelne Skulptur ausführlich interpretiert wurde. Am Ufer wurde er von einer tobenden Menge empfangen, die sich nicht, wie der Gouverneur glaubte, zu einer kulturfeindlichen Demonstration versammelt hatte, sondern um seiner Vernichtung beizuwohnen. Auf einer großen live-Leinwand erreichten die Lobbyisten und der Gouverneur gerade die grüne, schlangenförmige Skulptur von Dorian Opaphagou, die zusammenhanglose Sätze vor sich hin brabbelte. Dann zerfiel das Bild, der Palast ...
Ende der Unterbrechung angefordert.
Der Haupt-Mitdenker ließ die angehaltene Luft entweichen. Nervös schaute er sich nach allen Seiten um. Von einem tobenden Mob war nichts mehr zu sehen. John Furkampers Held, der mal wieder einen neuen Meilenstein in der Vernichtung der Dummheit bewältigt hatte, stolzierte nicht mehr überlebensgroß durch den Raum. Dafür saßen wieder die achtzehn Mitdenker der Lerngruppe 67 da und warteten mit klopfenden Herzen darauf, dass jemand wagte, etwas zu sagen.
Es war ausgerechnet die kleine, braunhaarige Jada, die sich erhob und zu sprechen begann. „Ich frage mich ernsthaft, warum Ausschnitte von Furkampers verbotenem Werk ausgerechnet in unsere Moralgenetik-Stunde einsickern.“
Gebb trommelte mit den Fingern auf seinem Pult herum. Sollte er die Linie des Dekans vertreten, die Störung gleich zum Unterrichtsinhalt erheben? Sollte er den Fall eskalieren und sich an den zuständigen Exekutiv-Projektleiter beim YuHu-Konzern wenden, dem die Universität gehörte? Ihm fröstelte, als ihn eine düstere Ahnung befiel ...
„Ich habe eine Recherche durchgeführt“, sagte Jada mit einem Mal. Alle Blicke richteten sich auf sie. „Allerdings habe ich nicht gefunden, was ich gesucht habe.“
Der Haupt-Mitdenker überlegte, ob er diese Sache nicht einfach beenden sollte. Aber Jadas große Augen verlangsamten seine Gedanken zu Fliegen im Netz einer Spinne, Bananen in Honig und zärtliche Massagen ... Guwut!
„Ich habe das Furkamper-Werk nicht in der Universitätsbibliothek gefunden.“
„Jada“, entfuhr es Gebb, dessen sexuelle Erregung sich ängstlich verkroch, „das Werk ist doch verboten!“
Sie warf ihm einen triumphierenden Blick zu. „Genauer gesagt“, redete sie unbeirrt weiter, „ich habe es nicht vollständig gefunden. Der letzte Band fehlt.“
Die Mitdenker murmelten. „Kennt jemand“, fragte Jada, „den Inhalt des letzten Bandes?“ Sie schaute prüfend umher. Stolz leuchteten ihre Augen, ihre Brüste streckte sie vor. Jaii, hauchte Gebb lautlos, ihre Brüste ... Guwut, Augen!
Jada fuhr fort: „Nur im Unternetz konnte ich wenigstens eine Inhaltsangabe finden ...“
Furkamper, John: Als die Dummheit aus dem Universum getilgt wurde. Band 8. Kurzzusammenfassung: Die Erben des Helden Taitor, der am Ende von Band 7 getötet worden war, etablieren auf den so genannten Vorbild-Planeten Guramban, Hark'ikor und Latuma Oput Naa politische Parteien und bilden nach vermutlich manipulierten Wahlen absolute Regierungen. Für alle Bewohner werden Weiterbildungskurse vorgeschrieben. Wer die obligatorischen Prüfungen nicht besteht, wird deportiert. Ghettos, Zwangsarbeit und Gehirnwäsche werden für minder intelligente Bewohner eingeführt, hoffnungslose oder gefährliche Fälle werden hingerichtet. Am Ende wird der „Samen der Erleuchtung“ auf alle Welten gebracht.
„Im Unternetz?“
„Gehirnwäsche?“
„Der Samen der Erleuchtung?“
„Ja“, sagte Jada, die sich mittlerweile wieder gesetzt hatte, „der Samen ist nichts anderes als das Werk Furkampers, das hier und da in unseren virtuellen Welten auftaucht.“
„Wir haben Taitors Samen gesehen“, hauchte ein kahlköpfiger Mitdenker namens Kaora und stellte seinen entrückten Blick erst wieder klar, als er bemerkte, dass ihn alle kritisch anschauten.
„Die Stunde“, sagte Gebb verzweifelt, „ist beendet. Jada, kommst du bitte kurz mit mir?“
„Gern.“
Während die anderen Mitdenker den Unterrichtsraum verließen, fragte Jada: „In dein Büro?“
Gebb schaute, ob sie beobachtet wurden. Dann schüttelte er den Kopf. „Dort“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf die Luft zwischen den beiden. Dort erschienen, nur für Jada sichtbar, Leuchtzeichen.
Ihr Spaziergang führte die beiden Menschen tief in den Wald. Lange hatten sie sich unterhalten, seit einigen Minuten schien alles gesagt zu sein. Kahle Eichen winselten, ein paar Blätter winkten, die restlichen klebten feucht auf dem Boden und unter ihren Schuhen. Diese Blätter waren echt, genauso real wie Jada und Gebb, im Gegensatz zur Universität.
„Es ...“, Jada zögerte, sah nach unten, „es könnte alles ein Missverständnis sein.“
Gebb Tranto schüttelte den Kopf und machte einen Schritt seitwärts, um nicht auf eine Nacktschnecke zu treten. „Nein. Jemand will Furkampers Geschichte zur Realität machen.“
„Nach einem Kochbuch kann man Essen machen, die Wirklichkeit aber schlimmstenfalls versalzen.“ Jada blieb stehen und sah zu der Schnecke hinunter. „Und die Realität schreibt sich selbst, im Gegensatz zu einer Geschichte.“
Gebb nahm ihre Hand. „Und sie ist nicht irgendwann einfach zuende.“
6.-16.11.2003
Kiel/Gelsenkirchen