Als der Weihnachtsmann starb...
Peter umklammerte die schwere Waffe mit beiden Händen.
Den leuchtenden Weihnachtsbaum nahm er nur verschwommen wahr. Rotz und Tränen trübten seine Sicht.
Er hatte die Waffe im Arbeitszimmer seines Vaters gefunden.
Jemand musste ihm ein paar Antworten geben. Antworten, die er brauchte, die er ersehnte, ohne die dieser dumpfe Schmerz in seiner Brust niemals vergehen würde.
Und er würde sie bekommen. Heute Nacht noch.
Jemand musste doch dafür verantwortlich sein.
„Niemand trägt die Schuld“, hatten seine Eltern gesagt.
„Solch furchtbare Dinge geschehen, ohne dass wir etwas dagegen tun können“, hatten seine Lehrer gesagt.
„Es ist sehr schwierig, aber sie lebt in deinem Herzen“, hatten seine Großeltern gesagt.
Scheiße.
Das waren für ihn keine akzeptablen Antworten auf seine Frage gewesen. Sie wichen ihm aus, weil sie es selber nicht wissen.
„Warum?“. Es ist doch an sich so eine banale Frage. Warum konnte ihm bisher niemand eine einfache Antwort darauf geben?
„Warum konnte innerhalb einer Sekunde das Leben seiner kleinen Schwester ausgelöscht werden? Warum ist sie einfach auf die Straße gelaufen? Warum hatte er sie nicht retten können? Und WARUM lässt Gott so etwas zu?“
„Gottes Wege sind unergründlich“, haben sie ihm geantwortet.
„Gibt es überhaupt einen Gott?“, hatte er sich gefragt.
Diese Frage würde sich heute klären. Denn wenn es den Weihnachtsmann wirklich gibt, dann gibt es auch Gott. Und er würde die ganze Nacht hier warten, wenn es nötig wäre.
Schließlich war er ja kein Baby mehr. Mit elf Jahren war sein Urvertrauen stark erschüttert.
Er hockte sich neben den Weihnachtsbaum und wischte sich eine Nase an den Hosenbeinen ab, die Waffe legte er neben sich. Er wollte sie nicht wirklich benutzen, aber falls der Weihnachtsmann kommt und ihm keine Antworten geben wollen würde, dann dürfte ihn das vielleicht ein wenig einschüchtern.
Irgendwann musste er eingenickt sein, denn er fuhr aus dem Schlaf, als er ein polterndes Geräusch hörte. Mit einem Mal war er hellwach.
Schnell nahm er die Waffe an sich und duckte sich hinter den Baum.
Sein Herz schlug schnell, als eine Gestalt das Wohnzimmer betrat.
Der Weihnachtsmann.
Es gibt ihn also wirklich, dachte Peter ehrfürchtig.
Als der rot gekleidete Mann näher kam, wich seine Ehrfurcht dem Zorn, sein Schmerz kehrte zurück.
Wie konnte dieser Mann Geschenke bringen, wo seine kleine Schwester gerade erst tot war?
Er hob die Waffe und sprang schnell auf die Füße.
Als der Mann ihn erblickte hielt er inne und schaute ihn durch seine weißen Augenbrauen erschrocken an.
„Warum?“, kreischte Peter.
„Peter…“, stammelte der Weihnachtsmann und hob besänftigend die Hand.
„Leg doch die Waffe weg, Junge“.
„Nein, erst geben Sie mir diese Antwort“, zitterte Peter. „Bitte“, flehte er, „Sie sind der Weihnachtsmann, sie kennen doch Gott. Sie müssen es mir sagen.“.
„Nein, Junge, Gottes Wege sind unergründlich“, versuchte ihn der Mann mit dem weißen Bart zu beruhigen.
„Was? Das ist Ihre Antwort? Das haben sie alle gesagt, alle. Aber das ist keine Antwort. Das ist keine verdammte Antwort“, schrie Peter wütend und zutiefst enttäuscht.
Instinktiv krümmte sich sein Zeigefinger. Die ganze Welt konnte ihm gestohlen bleiben.
Der Rückschlag warf ihn auf den Boden.
Entsetzt ließ er die Waffe aus der Hand fallen.
Er hätte nicht damit gerechnet, dass man mit ihr wirklich schießen konnte.
Der Weihnachtsmann fiel polternd zu Boden. Er sagte nichts, stöhnte nicht. Lag einfach nur da.
Peter starrte mir offenem Mund auf die Waffe, dann auf den Weihnachtsmann.
Plötzlich kam seine Mutter ins Zimmer gerannt. Als sie den Weihnachtsmann erblickte, fing sie an zu kreischen. Sie warf sich auf die Knie und zog ihn an sich. Dabei verlor der Tote seinen Bart.
„Papa“, entfuhr es Peter leise, bevor es um ihn schwarz wurde.