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Als der liebe Gott die Eigenschaften vergab
Die Welt war noch jung und unberührt, als sich diese Geschichte zutrug. Die Wälder nicht gerodet, keine Straßen gebaut, keine Natur verschmutzt. Die Menschen waren auch noch nicht auf der Erde. Alles war friedlich.
Die Sonne ließ die Federn der Eule glänzen, als sie frühmorgens zum höchsten Punkt der Welt flog. Unter ihr zog sich eine unendliche Schlange aus allen Tieren, die die Erde bevölkerten, dahin. Sie waren alle auf dem selben Weg. Es war ein gar bedeutungsvoller Tag in der Geschichte, denn es war der Tag, an dem der liebe Gott den Tieren ihre Eigenschaften vergeben sollte. Alle Tiere waren ganz aufgeregt, denn keiner wusste, welche Eigenschaft es vom lieben Gott erhalten sollte. Aber alle Tiere hatten Wünsche. Der Löwe wollte das stärkste und mächtigste aller Tiere sein, denn er konnte laut brüllen. Der Fuchs hielt nichts von Stärke, er wollte lieber hinterlistig seine Beute machen. Die Möwe wollte friedlich ihre Bahnen über dem Meer drehen. So hatten alle Tiere eine genaue Vorstellung von ihrer Eigenschaft und waren deshalb von überall auf der Welt hergekommen, auch vom weit entfernten Nordpol, wo es so kalt war, dass man den Atem in weißen Wölkchen aufsteigen sehen konnte. Sie kamen auch von der Wüste, in der es kein Wasser gab. Kein Weg war ihnen zu weit, um eine Eigenschaft zu erhalten.
Der liebe Gott saß auf seinem Thron und die leichte Brise ließ seinen langen weißen Bart wehen. Vor seinen Füßen ließ sich die Eule nieder, deren Augen neugierig auf den lieben Gott gerichtet waren. Voller Spannung verharrte sie, um ihre Eigenschaft zu erhalten. Der liebe Gott schaute die Eule lange an, ehe er etwas sagte. „Du, liebe Eule, du sollst die Weisheit bekommen. Du sollst das Wissen der Welt in dir tragen und stets als das weiseste aller Tiere gelten“, sprach der liebe Gott zu der Eule, die sich sehr über diese Eigenschaft freute und zufrieden ihres Weges flog.
Als nächstes war der große Löwe, mit seiner beeindruckenden Mähne, an der Reihe. Ihm verlieh der liebe Gott die Stärke. Stolz zog der Löwe von dannen und ließ sein mächtiges Brüllen erklingen, dass es noch von Weitem zu hören war. Und alle hatten Angst vor ihm, genau wie er es sich gewünscht hatte.
So erhielt jedes Tier eine Eigenschaft: Die Schlange die List, der Hase die Flinkheit, der Gepard die Schnelligkeit. Alle Tiere waren zufrieden.
Inzwischen war es sehr spät geworden und der liebe Gott sehr müde. Gerade lief die kleine Maus, die eben die spitzen Nagezähne erhalten hatte, davon und verkroch sich in einem winzigen Mauseloch. In der Ferne war eine Katze zu hören, die ihre neu erhaltenen Krallen schärfte. Als der liebe Gott sich zurück in den Himmel begeben,vernahm er ein dünnes Stimmchen. „Lieber Gott, bitte warte. Ich habe noch keine Eigenschaft erhalten!“ Vor dem lieben Gott saß ein Stinktier, das gar traurig dreinschaute. Sich nachdenklich am Bart kraulend, überlegte er fieberhaft. „Liebes Stinktier, ich habe keine Eigenschaft mehr übrig für dich. Ich habe alle schon vergeben!“ Da begann das arme Stinktier bitterlich zu weinen. Das bewegte des lieben Gottes Herz so sehr, dass er das Stinktier beruhigte und versprach, doch noch mal im Himmel nachzuschauen, ob sich nicht doch noch eine Eigenschaft finden lasse.
Als er kurze Zeit später wieder zurück bei dem Stinktier war, schaute er sehr betrübt. „Ich habe noch eine Eigenschaft gefunden, aber es ist nur die Stinkdrüse. Die kann ich dir geben“, sagte der liebe Gott zu dem Stinktier, das darauf wieder zu weinen begann, so traurig und enttäuscht war es. Aber es dachte bei sich, dass es lieber die Stinkdrüse nahm, als ganz ohne Eigenschaft nach Hause zu gehen.
So machte es sich auf den Heimweg. Es musste lange gehen, denn es war von sehr weit hergekommen um den lieben Gott zu sehen und mit seinen kurzen Beinchen konnte es nicht so schnell laufen wie der Gepard. Schnell wurde es dunkel. Das kleine Stinktier hatte fürchterliche Angst im Dunkeln, aber es wusste nicht, wohin es gehen sollte, also rollte es sich auf dem Boden zusammen und versuchte zu schlafen. Aber nicht lange und es hörte ein Geräusch und schrak auf. Zitternd drückte es sich an einen Baum, als vor ihm ein großer böser Wolf auftauchte. Das Stinktier hatte solche Angst, dass es sich kaum bewegen konnte. Dem Wolf lief das Wasser im Munde zusammen, als er das schmackhafte Stinktier sah und stellte es sich schon zwischen seinen Zähnen vor. Er wusste, es war eine leichte Beute, denn es konnte ja nicht schnell laufen und sich so auch nicht vor seinen Zähnen retten. Als der Wolf zum Sprung ansetzen wollte, fiel dem Stinktier plötzlich seine Eigenschaft wieder ein. Und so verströmte das kleine Stinktier aus seiner Stinkdrüse einen so entsetzlichen Gestank, dass der Wolf sich die Nase zuhalten musste. „Dich fresse ich nicht!“, schrie der Wolf mit gerümpfter Nase und lief davon.
Das Stinktier zitterte noch immer. Aber es war auch sehr glücklich und erleichtert, denn der böse Wolf hatte es nicht gefressen. Jetzt war das Stinktier sehr froh über seine Eigenschaft und freute sich schon auf zu Hause. Denn von da an tat kein Tier mehr dem Stinktier etwas zu Leide und wenn es doch eines versuchte, so betätigte das Stinktier die Stinkdrüse und kein anderes Tier traute sich mehr, es zu fressen, so entsetzlich roch es.