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Als der Löwenzahn blühte
»Als der Löwenzahn blühte«, begann Oma zu erzählen. Ich saß am Fenster. Die Sonnenstrahlen schlugen Purzelbäume auf meinem Rücken. Ria, Omas Katze, schnurrte und streckte die Tatzen über der Fensterbank aus. Draußen lockte der Frühling die Maulwürfe aus der Erde. Im hohen Gras tummelten sich die Schmetterlinge, während am Ende des Gartens, von der schattigen Hecke umwuchert, die Sense vor sich hin rostete. Und ich weinte.
»Als der Löwenzahn blühte«, fuhr Oma fort, »mussten wir fliehen.« Ria biss mir ganz sanft in den Finger, als ich sie auf meinen Schoß hob. Ihr dunkles Fell war angenehm warm. Oma stand auf und räumte das Kaffeeservice mit dem blauen Nelkenmuster zurück in den Schrank. Sie hatte für drei gedeckt und ich mochte kein Stück Kuchen essen. Stattdessen bot sie mir ihre klebrigharten Pfefferminzbonbons an. »Für später«, fügte sie lächelnd hinzu.
Der alte Lehnstuhl krachte leise, als Oma sich wieder hineinsetzte. Ria sprang erschrocken auf. Ich streichelte sie hinter dem rechten Ohr, denn das hatte sie besonders gern. Oma aber lachte. Dann wurde sie ernst. »Der ganze östliche Himmel war rot gefärbt und ich hörte ein ganz fernes, ganz leises Poltern und Rummeln. Obwohl ich den Krieg mit all seinen Schrecken noch nicht kannte, wusste ich: Das ist die Front.«
Ich blickte durch das Fenster nach draußen. Die Baumwipfel hatten die Sonne aufgespießt, deren Rot nun über den gesamten Himmel floss. Wie beim Omelettbraten mit Opa, damals. Oma hatte immer fürchterlich geschimpft, wenn sie nach Hause kam und die dreckige Küche sah. Ein Omelett aß sie dann doch mit uns und wir lachten. Ria schnurrte. »Meine Schwester, deine Oma Annegret, und ich, wir spielten gerade Verstecken auf der Koppel. Mutter hatte uns gebeten, ein paar Kräuter auf der Wiese zu sammeln. Doch wir flochten Kränze aus Löwenzahn.« Oma hielt inne und verfolgte meinen Blick in den Garten. »Wir bekamen Angst, Angst, vor dem, was über uns hereinzubrechen drohte wie ein Gewitter.«
»Am nächsten Morgen, gegen fünf Uhr, wurde ich von erregten Stimmen geweckt. Ehe ich recht begriff, um was es ging, kam Mutter zu mir und sagte: ›Steh auf, wir müssen fort.‹ Sie gab mir meine Sachen und half mir mit zitternden Händen beim Anziehen. In der Küche saß Bernhard, ein älterer Mann, mit dem sich mein Vater gut verstanden hat. Er brachte uns Fleisch und Fett und war erstaunt, ja entsetzt, uns noch schlafend zu finden. Als mein Vater ihm seinen Entschluss mitteilte, zu bleiben, wurde der sonst so gutmütige Alte böse. Er schimpfte so lange in allen Tonarten auf meinen Vater ein, bis dieser sich entschloss, uns – und vielleicht auch sich selbst – der Fremde anzuvertrauen. Um sieben Uhr sollte der Treck das Dorf verlassen. Wir hatten also zwei Stunden Zeit zum Packen.«
Ich war gerne bei Oma zu Besuch. In ihrer Wohnung gab es viel Merkwürdiges zu entdecken. Außerdem liebte ich es, mit Ria im Garten zu spielen. Zuhause durften wir keine Haustiere haben. Und wenn ich einmal traurig war, so wie heute, wusste Oma immer eine tröstende Geschichte zu erzählen.
»Keiner von uns sprach mehr als unbedingt notwendig. Ich hing meinen eigenen Gedanken an unseren Bauernhof nach und lauschte dem Klappern der Pferdehufe, dem Quietschen und Knarren der Wagenräder. Keiner wagte, die ansonsten majestätische Stille dieses klaren, aber kalten Maimorgens durch lautes Rufen oder Reden zu stören. Ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, denn für mich war es wie eine abenteuerliche Geisterfahrt in eine ungewisse, Unglück verheißende Fremde. In der Ferne hinter uns zogen immer öfter Leuchtspurgeschosse ihre Lichterbahnen durch den Morgenhimmel.«
Über Omas faltigen Wangen glitten ein paar Tränen. »Ich kann mich noch erinnern, ich weiß, für dich klingt es etwas komisch, dass ein verwundeter Soldat eine Mundharmonika hatte und unter anderem spielte ›Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …‹«
Ria streifte derweil durch die Wohnstube und schabte nun ungeduldig an der Verandatür. Zu Oma sagte ich, dass ich auch los müsse. Es dämmerte schon. Sie steckte mir noch eine Handvoll Lakritze in die Jackentasche und gab mir schöne Grüße an Vater mit auf den Weg.
An der Hauswand, gleich neben der Treppe, blühte Löwenzahn. Ich pflückte ihn und dachte daheim an Omas Geschichte. Als der Umzugswagen in unsere Straße einbog, versteckte ich ihn schnell in einen der vielen Kartons. Einfach so.