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Alptraum Evolution
0. Generation: Spontanmutation
"Ich hatte voll den Alptraum."
"Cool. Wovon?"
"Ich war auf so ner WG-Party. Da gab es so einen Chiller-Raum, wo alle so auf den Couchen sitzen, und die Luft ist voll verraucht und stinkt nach Gras. Wir saßen alle da und schauten zur Tür. Da kam immer so ein Zwerg herein, der sah aus wie dieser kleinwüchsige Schauspieler, und der hat willkürlich auf einen von uns gezeigt. Und dann zog er einen Revolver und hat denjenigen erschossen. Dann ging er wieder. Wir rührten uns nicht vom Fleck, sondern schauten weiter auf die Tür. Nach einer Weile erschien der Zwerg wieder in der Tür. Dort stand er und hat auf den Nächsten gezeigt. Den hat er dann wieder erschossen. So ging das Spiel weiter. Wir wussten nie, wer der Nächste war."
"Oha, wie krank ist das."
"Ja Mann, voll krank. Wir standen alle irre unter Druck. Es gab scheinbar keinen Ausweg. Nur diese Tür führte aus dem Raum, aber niemand traute sich da raus, an dem Zwerg vorbei. Und dann kam er schließlich rein und zeigte diesmal auf mich. Und in dem Moment wusste ich: Ich war gefickt."
"Was dann?"
"Ich wusste, das war mein Ende. Der Überlebenswille war so verzweifelt stark, dass ich aus dem Traum aufgewacht bin, nicht ganz wach, nur so Halbschlaf, aber genug, dass ich wusste, dass es nur ein Traum war. Das musste ich nutzen, um mir eine übernatürliche Lösung auszudenken. Ich hatte also meinen Entschluss gefasst, den Traum wie die Matrix zu manipulieren, und konzentrierte mich darauf, wieder einzuschlafen und alle Begebenheiten des Traums wieder wachzurufen, um mich dann mit meinen neuen Superkräften an dem Zwerg zu rächen. Als die Traumszene wieder halbwegs hergestellt war, ließ ich die Leute im Raum uns zusammen auf den Zwerg stürzen. Wir bissen ihm das Fleisch vom Gesicht ab. Man konnte richtig detailliert sehen, wie sein Gesicht Stück für Stück abgerissen wurde."
"Alter!" Mit schockierten Augen und einem unsicheren Lächeln starrte er ihn an.
"Aber es lag einfach keine Befriedigung in der Rache, da ich ja wusste, dass es nicht mehr real war." Grinsend seufzte er.
Sein Mitbewohner starrte ihn immer noch wie perplex an. "Ouh-key ..."
1. Generation: Adaption
Er legte sich ins Bett, schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen, um nach dem anstrengenden Tag bald wieder ins Land der Träume abzudriften. Er dachte an seinen Alptraum zurück. Er hatte sich nicht wirklich schlimm angefühlt, aber sein Inhalt hörte sich so verstörend an. Das hatte er unbedingt seinem Mitbewohner erzählen müssen. Bei so etwas konnte er es sich einfach nicht verkneifen. Zu interessant, um verschwiegen zu werden. Meistens konnte er seinem Mitbewohner sowieso alles anvertrauen. Seit ihrer Versöhnung im Mai waren sie dicke Kumpel wie eh und je. Sie teilten schon schlimmere Geheimnisse als kranke Träume. Manchmal aber gefiel ihm der Blick seines Mitbewohners nicht, wenn er ihm solche Dinge erzählte, als wäre er ein perverser Freak. Zum Beispiel heute in der Küche. Als wäre sein Mitbewohner nicht mehr ganz sicher gewesen, wen er vor sich hatte.
Hey, wieso gibst du mir diesen Blick? hatte er sich gedacht. Ich bin immer noch ich, und du kennst mich. Das ist Teil unseres Insiderhumors, dass wir uns solche abgefreakten Dinge erzählen.
Naja, vielleicht hatte sich sein Mitbewohner ein bisschen überrumpelt gefühlt von der Krassheit des Trauminhalts. Aber sie schauten sich oft gemeinsam bei ein, zwei Bier Filme an, die viel brutaler waren. Warum bin also nur ich ein Freak und du nicht?
Hätte er vielleicht lieber Streit anfangen sollen, als sie in der Küche standen? Dann wäre das Thema vielleicht schon da aus der Welt geschafft worden. Aber er konnte sich gut vorstellen, dass Streit nicht die Lösung gewesen wäre. Sein Mitbewohner hätte nur gutmütig gelächelt und irgendetwas Diplomatisches geantwortet. Irgend so etwas wie: "Komm, lass gut sein. So kranke Träume haben wir alle mal."
Aber der Blick des Mitbewohners hätte ihn verraten. Es wäre eine gut gemeinte Lüge gewesen, und er hätte seinem Mitbewohner geantwortet: "Nein, haben wir nicht alle, nicht einmal ich habe sie, diesmal war nur eine Ausnahme. Gott, ich hätte dir das nicht erzählen sollen. Jetzt denkst du, ich bin ein perverser Freak."
"Quatsch. Naja, ab der zweiten Hälfte schon. Das war bewusst von dir kontrolliert. Du hast dich bewusst entschieden, dem Zwerg ... das Gesicht abbeißen zu lassen und hast aktiv mitgemacht."
Die Pause vor "Gesicht abbeißen" ärgerte ihn. Sie betonte, dass es zu krank war, um es leichtfertig auszusprechen.
"Hey, mal langsam", widersprach er. "Wie fühlst du dich denn, wenn du mal in so ner Situation bist? Die Machtlosigkeit, die Verzweiflung, ausgeliefert zu sein, das Wissen, gleich getötet zu werden, von jemandem der dich nicht kennt, und dem du nichts getan hast, ohne zu wissen, wofür? Ich wollte den Zwerg nicht nur außer Gefecht setzen, um mich zu retten, ich wollte ihn leiden sehen für die Qual, der er mich ausgesetzt hat. Im Halbschlaf war das mit dem Gesicht das Erste, das mir einfiel. Tut mir Leid."
"Naja, die Sache ist doch die: Der Zwerg hat dich nicht gequält. Es gibt ihn ja gar nicht. Das war dein Traum. Das warst du. Du hast nicht gegen den Zwerg gekämpft, sondern gegen dich selbst. Deshalb gab dir die Rache keine Befriedigung. Nicht, weil du wusstest, dass die Rache nicht real war, sondern weil du es selbst warst, der dich zuerst angegriffen hat."
Manchmal machte sein Mitbewohner ihn echt aggressiv. Warum musste dieser Schwächling immer so intelligent sein.
Der Mitbewohner fuhr fort: "Zu wissen, dass ein Traum ein Traum ist, gibt dir noch keine Macht. Nur die Illusion von Macht, vorgetäuscht vom Traum selbst. Dich dadurch mächtig zu fühlen, würde bedeuten, dass du den Realitätsgehalt des Traums noch nicht vollständig aberkannt hast. Und wenn das vorliegt, hat der Traum immer noch Macht über dich. Selbst dann noch, wenn du weißt, dass es ein Traum ist. Denn das ist nur ein kleiner Teil von dir, der das weiß. Der größte Teil von dir bildet immer noch den Traum."
Fick dich, dachte er. Wer bist du schon, mich über meine eigenen Träume zu belehren, du arrogantes Würstchen. Diese Attitüde hat dir schon einmal die Nase gebrochen. Mehr Respekt, bitte.
Ein Teil in ihm wusste aber, dass sein Mitbewohner Recht hatte und ihm bloß helfen wollte. Er konnte nicht wieder eine Eskalation riskieren. Wie hatte er es damals bereut, ihm eine reingehauen zu haben. Drei Wochen hatte sein Mitbewohner bei dessen Freundin gewohnt. Es war fast ein Wunder, dass er nicht endgültig ausgezogen war. Als er schließlich zurückkam, herrschte weitere drei Wochen Funkstille zwischen ihnen. Er konnte die Freundschaft nicht wieder aus Spiel setzen, musste sich zusammenreißen.
Er hielt inne, besann sich und sagte: "Ich verstehe. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Das ist wirklich einleuchtend, was du mir erklärt hast. Danke."
"Siehst du. Du verstehst immer noch nichts. Denkst du, ich bin real?"
"Was??"
Mit einem Ruck wachte er auf. Er lag noch immer in seinem Bett, hatte sich mit niemandem unterhalten. Seine Gedanken waren in die Scheinrealität eines Traums übergegangen, und ehe er sich's versehen hatte, hatte er einen Traum-Dialog mit seinem Mitbewohner in der Küche geführt. Dabei war es in Wirklichkeit er selbst, mit dem er sich unterhalten hatte, all diese Erkenntnisse über Träume wurden ihm nicht durch seinem Mitbewohner übermittelt, sondern aus eigener Eingebung. Wie krass.
Mit einem Schlag flog seine Zimmertür auf. Im Türrahmen war in der Dunkelheit eine Silhouette zu sehen, halbmannsgroß, die Größe eines Zwergs. Die Gestalt hielt einen großen, spitzen Gegenstand.
Ihm stockte der Atem. Die Gestalt trat einen Schritt näher. Mondschein, der durch das Fenster fiel, erhellte dessen Gesicht. Es war zutiefst entstellt, Fleischfetzen hingen herab, die Wangen fehlten und ließen freie Sicht auf das Gebiss.
"Du bist es ..." Er wollte schreien, aber es kam nur ein Flüstern heraus.
Der spitze Gegenstand funkelte im Mondlicht. Es war eine riesige Eisen-Schere. Der Zwerg spreizte die Schere und schloss sie, spreizte und schloss sie. Dabei gab sie ein rostiges Quietschen von sich.
Scheiße! Diesmal gab es wirklich kein Entrinnen!
Der Zwerg schoss mit einem Satz auf ihn zu und die Schere schnappte nach seinem Bein. Ein beißender Schmerz fuhr durch ihn hindurch. Stöhnend hielt er sich den Oberschenkel. Als er hinabblickte, sah er seine Haut, sie hatte die Konsistenz von Wachs. Ein großer Schnitt war in ihr, ein schmales, linsenförmiges Loch, durch das man in das hohle Innere des Beins sehen konnte. Dort glühte ein warmes Licht, das die Adern in der Haut von unten beleuchtete und nach oben hin sichtbar machte.
"Mein Bein!", heulte er auf.
Woher kam das Licht aus seinem Bein? War es schon immer darin gewesen? Oder war es die Reflexion einer anderen Lichtquelle, wie Mondlicht in Wahrheit die Spiegelung von Sonnenlicht ist? Die Rollläden. Die Rollläden hatte er wie immer vor dem Schlafengehen heruntergelassen. Wie konnte Mondlicht ins Zimmer eindringen? Es sei denn ...
Nach Luft schnappend setzte er sich in seinem Bett auf und tastete nach der Nachttischlampe. Er bekam den Schalter unter die Finger und knipste das Licht an. Die Augen musste er zusammenkneifen, so grell wurde es im Zimmer. Sofort fiel jede Benommenheit von ihm ab, er war schlagartig hellwach, diesmal ohne Zweifel.
Verflucht! Ein Traum im Traum! Wie hätte er damit rechnen können? Wie gemein. Er fuhr mit der Hand durch seine schweißnassen Haare.
2. Generation: Koevolution
"Hmm ...", sein Mitbewohner runzelte die Stirn. "Sieht so aus, als hätte dich dein eigener Traum ausgetrickst. Ich habe mal so etwas bei Wikipedia gelesen. Die offizielle Bezeichnung lautet 'falsches Erwachen'. Du bist einem falschen Erwachen zum Opfer gefallen und hast dich in der wachen Realität gewähnt. Um so etwas entgegenzuwirken, habe ich die ideale Lösung für dich."
"Ach ja? Und die wäre?"
"Ich hab das mal in einer PDF über luzides Träumen gelesen. Es nennt sich 'Reality Check'."
"Mit was du dich so alles beschäftigst. Und ich dachte, ich kenne meinen Mitbewohner!"
"Die einzige Person, die mich richtig kennt, ist meine Freundin. Aber seit sie so lange weg ist, wird auch das nicht mehr der Fall sein, fürchte ich."
"Wann kommt sie denn zurück?"
"Nur noch ein paar Monate. Bis dahin muss ich mich mit meiner rechten Hand begnügen. Hoffen wir, dass sie sich nicht so einen südländischen Einheimischen angelacht hat."
"Ach komm, ein liebes Mädel wie sie! Die ist dir doch treu. Unmöglich. Wie geht so ein ... Reality Check?"
"Es heißt, im Traum hat deine Hand nie die richtige Anzahl an Fingern. Wenn du also im Traum deine Finger nachzählst, und es sind zum Beispiel sieben, dann weißt du, dass es ein Traum ist."
"Das verdammte Problem ist, wie gestern Nacht, dass ich niemals gedacht hätte, dass ich noch im Traum bin! Wie hätte ich auf die Idee kommen sollen, meine Finger nachzuzählen?"
"Gar nicht. Damit ein Reality Check funktioniert, musst du ihn tagsüber, also wenn du wach bist, ständig durchführen, sagen wir, so alle zwei Stunden mal, bis er zur Gewohnheit wird. Dann erst ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass du ihn auch mal durchführst, wenn du gerade wirklich träumst."
"Gott, weißt du warum ich als Moslem nicht fünfmal am Tag bete? Alle zwei Stunden die Finger zählen hört sich einfach an, aber es könnte richtig nervig werden. Auf Dauer könnt das richtig Disziplin kosten. Aber ich werds mal probieren."
"Du hast ja auch mal Alkohol probiert und seitdem trinkst du regelmäßig mit mir Bier."
"Haha, du Scherzkeks, vielleicht mach ich jedes Mal, wenn ich ein Bier trinke, einen Reality Check."
"Wenn du das machst, wirst du schneller in die Routine kommen, als dus erwartest."
"Verarsch mich nicht, Alter."
"Naja, ich denke, ich geb dir den Link zu dem ganzen Material über das Träumen. Dann kannst du die PDFs runterladen und dich in Ruhe einlesen. Probiers halt mal mit dem Check. Denk dran, alle zwei Stunden. Und wenns dich so nervt, dass du kein Bock mehr hast, dann kannst du zumindest versuchen, immer nach dem Aufwachen den Reality Check durchzuführen. Auf diese Weise verhinderst du wenigstens das falsche Erwachen. Oder nein, verhindern kannst du es nicht, aber du würdest es als solches erkennen."
3. Generation: Resistenz
Er spielte mit diesem Mädchen Verstecken in einem verlassenen, unterirdischen Labyrinth aus Kanalisationsanlagen. Es war finster und überall drangen unheimliche Geräusche zu ihm. Von irgendwoher hörte er das Kichern des kleinen Mädchens.
"Fang mich doch ..."
Er holte tief Luft und blickte auf seine rechte Hand hinab. Zuerst waren es fünf Finger, aber sobald er sich auf das Zählen konzentrierte, spaltete sich der Mittelfinger in zwei Finger und neben dem Ringfinger wuchs ein weiterer kleiner Finger. Er war sich gar nicht mehr sicher, wie viele Finger eine normale Hand hatte, aber so sah keine normale Hand aus, sie trug definitiv zu viele Finger. Also musste das ein Traum sein.
Wenn er im Traum war, dürfte er Raum und Zeit seinem Willen unterwerfen können. Er konzentrierte sich darauf, mithilfe seiner Gedankenkraft Löcher in die Kanalisationswände zu bohren, um zu dem Mädchen zu gelangen, das hinter ihnen versteckt war. Die Wand vor ihm begann zu vibrieren und auf einmal schmolz sich in der Mitte ein Loch aus, das immer größer wurde, bis ein ganzer Mensch hindurch klettern konnte. Das Loch gab Sicht auf die Wand dahinter frei, in der sich wiederum ein Loch zu bilden begann. So bildete sich eine Reihe von Löchern, die auf einer Linie lagen. Er durchschritt ein Loch nach dem anderen, bis er in einen Raum angelangt war, in dessen Hinterwand sich kein weiteres Loch aufgetan hatte. Hierin hatte sich also das Mädchen versteckt.
"Komm raus, komm raus, wo immer du bist ...", imitierte er den Singsang, den sie in Filmen immer bei Versteckspielen von sich gaben. Das wollte er schon immer mal sagen, in einer Situation, wo er genau wusste, wo sich die gesuchte Person versteckte. Nämlich hinter der Kiste, da in der Ecke.
"Komm raus, komm raus ..."
Er schlich um die Kiste herum. Das Mädchen kauerte auf den Knien mit dem Rücken zu ihm. Ihre langen, schwarzen Haare hingen bis zum Boden. Er streckte die Hand nach der Schulter des Mädchens aus, um es herumzudrehen, als er etwas Ungewöhnliches bemerkte: Seine Hand trug nicht mehr sieben Finger, sondern so viele, dass er sie nicht mehr zählen konnte, sie wucherte vor Fingern.
"Hey, ich weiß, dass es ein Traum ist!!", rief er aus.
"Weißt dus?", zischte das Mädchen. Sie hatte sich umgedreht und stand nun aufrecht vor ihm, starrte ihm in die Augen. Sie öffnete ihren Mund und machte Beißbewegungen. Zuerst riss sie ihre eigenen Lippen ab und verschlang sie, dann folgten die benachbarten Teile ihres Gesichts. Schließlich hatte sie ihr halbes Gesicht ohne Zuhilfenahme der Hände aufgegessen. Sie sah jetzt genauso aus wie der Zwerg.
"Ja! Fick dich! Ich weiß es!", schrie er das Mädchen an. "Hier!", er streckte ihr die Hand entgegen. "So viele Finger hat eine Hand nicht!"
Wortlos sprang das Mädchen nach vorne und riss in einer einzigen Bewegung seine ganze Hand ab. Mit ruckartigen Kopfbewegungen schlang das Mädchen sie hinunter und lächelte ein blutverschmiertes Lächeln.
"Zähl. Noch. Mal. Nach!", zischte sie in der giftigen Stimme des Zwergs.
"Fuck!" Er schaute auf seinen Unterarm, der nur noch ein blutiger Stumpf war. "Scheiße!"
Das Mädchen kicherte. "Wenn du Finger zählen willst, hier, zähl meine!"
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Sie trug mindestens ein Dutzend Finger, und jeder mündete in eine lange gekrümmte Klaue. Klauen, die ihm die Augen ausreißen würden.
Die ganze Welt fing an zu beben, eine gewaltige Erschütterung fuhr durch ihn hindurch und katapultierte ihn ins Diesseits zurück. Schweißgebadet saß er in seinem Bett und schrie.
4. Generation: Extinktion
"So. Dann erzählen Sie doch bitte, welche Beschwerden Sie hierherführen."
"Herr Doktor, ich habe in letzter Zeit immer wiederkehrende Alpträume. Es sind keine Alpträume, die einzeln für sich stehen, sondern sie sind in ihrer Handlung wie eine Art Fortsetzungsroman. Es dreht sich alles um einen Horror-Zwerg, der mir das Leben schwermachen will, und scheinbar hat er ein Gedächtnis, was die vorangegangenen Träume betrifft. Er tritt in allen möglichen Gestalten auf und scheint mir immer einen Schritt voraus zu sein."
"Sie sagen, es ist ein Zwerg? Interessant."
"Ja, er ist eigentlich ein kleinwüchsiger Mann, so groß wie ein Kind etwa. Aber ich wusste seit dem ersten Traum, dass er einfach nur 'der Zwerg' war. Sonst hat er keinen Namen. Er sieht nicht gefährlich aus, aber er hat etwas Groteskes an sich und ständig bedroht er mein Leben."
"Nun, ich denke, der Zwerg steht für einen Feind, eine persönliche Nemesis, sei es eine Person, ein Ereignis oder eine unerwünschte Eigenschaft von Ihnen. Sie sehen ihn als kleinen Zwerg, weil Sie eigentlich meinen, ihm gewachsen zu sein. Aber durch seine Boshaftigkeit schafft er es, Ihnen überlegen zu sein, Macht über Sie zu haben. Ein interessanter Kontrast, der für Sie leider die Konsequenz hat, ein unlösbares Rätsel darzustellen. Deswegen kehrt dieses Motiv immer wieder in Ihre Träume zurück, es kann nur verschwinden, wenn Sie diesen Knoten entwunden haben."
"Ok, ich verstehe. Was kann ich machen?"
"Es gibt verschiedene Therapieansätze. Unser Ziel bestünde erst einmal darin, zu erfassen, was sich hinter der Symbolik des Zwergs verbirgt. Wir wollen das Problem lösen, indem wir uns mit seiner Ursache auseinandersetzen. Ist es ein Kindheitstrauma? Steckt ein Familienmitglied dahinter? Aus Filmen kennen Sie vermutlich die allseits berühmte Psychoanalyse, wo der Patient auf der Couch liegt und über frühkindliche Erfahrungen spricht. Mein Kollege schwört darauf. In Ihrem Fall halte ich mitunter Hypnose-Sitzungen für sinnvoll. Ich weiß nicht, was Sie über Hypnose in der Psychotherapie gehört haben."
"Nun ja, ich glaube, ich bin gut informiert. Durch Filme halt."
"Es geht im Prinzip um eine Reise in die eigene Erinnerung. Die heutige Psychologie geht davon aus, dass weit zurückliegende Erinnerungen nie wirklich vergessen werden, sondern ihre Enkodierung, die sie mit bewusstem Erinnerungsvermögen verknüpft, verändert wird. Trotzdem bleiben diese Erinnerungen unterbewusst gespeichert. Zugriff darauf haben Sie nur, während Sie eben träumen. Oder unter Hypnose. Das Potential der Hypnose ist unerschöpflich groß. Ereignisse, an die Sie sich bei hellem Bewusstsein nicht erinnern können, sehen Sie auf einmal in allen Details kristallklar vor sich ablaufen."
"Wie in einem Traum."
"Wie in einem sehr gut kontrolliertem Traum. Ich werde Sie aktiv mit meiner Stimme durch Ihre Erinnerungen leiten."
"Sagen Sie, Herr Doktor, ist es eigentlich möglich, dass ich so daliege und in Hypnose bin, und ich höre Ihre Stimme, aber dabei sind das gar nicht Sie, sondern ich bilde mir das nur ein in meiner Hypnose? Und die Stimme sagt mir, dass ich Dinge denken oder tun soll, die ich lieber nicht sollte?"
"Ausgeschlossen. Wenn Sie unter Hypnose stehen, kann ein suggestiver Einfluss nur von außen kommen, nicht von Ihnen selbst. Seien Sie da ganz unbesorgt."
"Na gut. Und wann fangen wir an?"
"Nun, wenn Sie möchten, können Sie es sich schon mal auf der Couch bequem machen. Dann können wir heute schon eine Probesitzung starten, um Sie auf Ihre Kapabilität mit dieser Therapieform zu prüfen. Nicht jeder ist der Typ dafür, viele können auf Teufel komm raus nicht in Trance verfallen. Wenn sich die Hypnose-Therapie bei Ihnen als Option erweist, könnten wir dann den ersten Termin für eine richtige Sitzung ausmachen. Wenn nicht, können wir uns immer noch etwas Anderes überlegen, das besser zu Ihnen passt. Sie gehen dann kein Risiko ein, umsonst zu kommen."
"Ok."
"Sie bekommen noch eine Aufklärung mit Einwilligungsformular von mir. Hier. Lesen Sie sich das erst einmal in Ruhe durch. Anschließend unterschreiben Sie hier und hier. Schaffen Sie das denn überhaupt mit Ihrem Gips? Du lieber Himmel, gleich an beiden Armen. Was ist Ihnen denn zugestoßen?"
"Motorradunfall auf der B65."
"Sie Unglücksrabe, Sie!"
"Genaugenommen habe ich Glück gehabt. Es ist nur eine Radiuskopf- und eine Wurzelfraktur. Es wurde kaum was gemacht dran, das Meiste läuft über Ruhigstellung, dafür hab ich die Gipse. Hätte querschnittsgelähmt sein können. Geben Sie mir ruhig den Kugelschreiber, ich kann ihn mit dem Daumen halten."
"Wann ist das passiert? War das zu dem Zeitpunkt, als die Träume anfingen?"
"Nein, erst viel später. Wissen Sie was? Es klingt zwar komisch, aber ich habe das starke Gefühl, Sie irgendwoher zu kennen. Irgendetwas an Ihnen kommt mir so vertraut vor."
"Nun, jetzt wo Sie es sagen, erinnere ich mich, dass ich letztens einen Motorradfahrer auf der B65 angefahren habe. Nein, das war ein Scherz."
Er blickte den Doktor an und musste auflachen. "Sie sind genau wie mein alter Hausarzt, der hatte auch immer so fiese Sprüche drauf."
"Und wenn ich ihm noch wie aus dem Gesicht geschnitten bin, dann haben wir die Lösung", grinste der Psychiater. "Nun, wir können jetzt mit der Hypnose beginnen. Vergessen Sie nicht, unter Hypnose können wir gemeinsam Ihre Erinnerung durchforsten. Vielleicht sind wir uns früher irgendwann einmal begegnet und Sie haben mein Gesicht in Ihrem Unterbewusstsein abgespeichert. Wenn das der Fall ist, müsste das unter Hypnose herauszukriegen sein. Legen Sie sich einfach entspannt hin. Ganz entspannt, einfach locker lassen. Schließen Sie die Augen und atmen Sie durch. Ruhig ein- und ausatmen. Folgen Sie meiner Stimme. Sie werden schwer, ganz schwer. Ich werde gleich von Zehn abwärts zählen. Mit jeder Stufe fallen Sie ein Stück tiefer in Trance ..."
Er lauschte der beruhigenden Stimme des Psychiaters. Die hatte wirklich Potential, könnte gut eine Synchronstimme aus einem Film sein. Das Raffinierte an dieser Stimme war, dass sie eine starke Resonanz im Bassbereich hatte. Eine tiefe, vibrierende Stimme. Sie füllte den Raum aus, mit geschlossenen Augen konnte man schwer ausmachen, woher die Stimme kam. Fast als käme sie von innen.
Zehn. Sie fühlen, wie Ihre Glieder schwerer und schwerer werden.
Wenn er es sich so überlegte, war es gar nicht unbedingt das Gesicht des Psychiaters, das ihm so bekannt vorkam.
Neun. Sie wehren sich nicht dagegen, wie Sie immer tiefer sinken.
Es lag ihm auf der Zunge.
Acht. Sie konzentrieren sich nur auf Ihre Atmung.
Ja, das sollte er. Nicht zu viel jetzt an Anderes denken, sonst klappt es gleich nicht mit der Hypnose.
Sieben. Sie spüren die Wärme, die Ihren Körper durchströmt.
Wo hatte er diese Stimme schon einmal gehört?
Sechs. Sie lassen sich von dieser entspannenden Wärme davontragen.
Er konnte sich einfach nicht entspannen, wenn er nicht herausbekam, woher er diese Stimme kannte. Der Gips juckte.
Fünf. Davontragen wie ein Blatt im Wind. Sie lassen einfach los.
Wenn das so einfach wäre. Er musste sich kratzen. Verflucht, warum muss das ausgerechnet jetzt so jucken.
Vier. Sie lassen los. Sie lassen alles hinter sich. Nichts ist mehr von Bedeutung. Nur noch Sie und der leere Raum.
Und das verdammte Jucken. Dieser Scheiß-Gips!!
Drei. Sie sind nun fast am Ziel. Vor Ihnen liegt die Finsternis.
"Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Darf ich meine Augen aufmachen? Der Gips juckt wie verrückt, ich halte es nicht mehr aus."
Zwei. Sie umarmen die Finsternis, werden Teil von ihr.
"Sorry, das juckt so schrecklich!" Er öffnete die Augen und setzte sich auf. Versuchte sich durch den Gips hindurch zu kratzen. Es half nicht!
"Herr Doktor, haben Sie einen langen dünnen Gegenstand, einen großen Schraubenzieher oder so -"
Wo war der Arzt? Er war nicht da. Wie konnte das sein? Gerade eben waren sie noch bei "Zwei". Er konnte unmöglich den Raum verlassen haben. Egal, das Jucken war unerträglich. Da auf dem Schreibtisch lag ein Brieföffner. Er sprang auf, packte ihn und versuchte, damit an seinem Gips herumzustochern. Das war schwierig, weil beide seiner Hände verbunden waren, nur die Daumen schauten heraus. Wie er es auch anstellte, es wollte nicht den Juckreiz lindern! Hätte er nur die Sorte von Gipsverband, bei dem die Finger vorne herausschauten, dann hätte er eine Öffnung, durch die er den Brieföffner hineinstecken konnte. Das war es. Er würde sich die Öffnung selbst schneiden, sonst würde er verrückt werden. Mit verzweifelten Bewegungen stach er mit dem Brieföffner auf den Gips ein, zerfetzte ihn regelrecht. Gottseidank, dass der Brieföffner nicht so ein stumpfes Teil war, wie der von seinem ehemaligen Hausarzt. Fetzen flogen vom Gipsverband herab, landeten vor seinen Füßen auf dem Boden. Der Juckreiz machte ihn wahnsinnig! Er nahm seine Zähne zur Hilfe und riss große Fetzen vom Verband ab. Endlich lockerte sich das verfluchte Teil, er schüttelte es mit aller Kraft ab. Mit dem anderen, noch verbundenem Arm rieb er sich am freien Unterarm entlang. Was für eine Erlösung. Er stöhnte.
Verrückt! Wie konnte plötzlich sein Arm so unfassbar stark jucken? Eine allergische Reaktion vielleicht? War etwas in den Verband hineingekrochen? Ein giftiges Insekt? Er betrachtete die Haut an seinem Unterarm. Sie war gerötet vom Kratzen, aber sonst nicht weiter auffällig. Ein perfekter, unversehrter Arm ohne jegliche Verletzungszeichen.
Moment. Wie konnte das sein?
Sein Blick fuhr den Arm entlang und suchte nach Narben vom Motorradunfall. Nichts zu finden. Es gab nicht einmal Schmerzen, er konnte seine Hand frei bewegen. Er hob sie vor sein Gesicht und wedelte mit den Fingern.
"Das ist unglaublich ...", flüsterte er und ließ die Hand wieder sinken. Dann fuhr es wie ein Blitz durch ihn hindurch, schlagartig hob er seine Hand zurück in sein Blickfeld. Acht Finger an einer Hand.
Eins, erfüllte die tiefe, vibrierende Stimme des Psychiaters den Raum. Du wirst Teil der Finsternis. Für immer.
Seine eigene Hand schloss sich um seinen Hals und drückte mit aller Kraft die Kehle zu.
Epilog: Genesis
"Schatz, wo ist denn dein Arschloch-Mitbewohner? Ist er umgezogen? Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich aus dem Ausland zurückgekommen bin."
"Er sitzt in der Klapsmühle. Der ist mehr als fix und fertig."
"Was?? Das ist ja krass! Nicht, dass ich Mitleid hätte, so wie er damals deine Nase gebrochen hat. Aber warum? Du hattest mal in einer Mail erwähnt, dass er immer wiederkehrende Alpträume hatte."
"Sie wissen es nicht genau, ob es damit zusammenhängt. Ich hab ihn in seinem Bett gefunden. Dort hat er mit offenen Augen gelegen und reagierte auf nichts, hat nur geatmet und ab und zu geblinzelt. Die Ärzte sprechen von einem katatonen Zustand. Jetzt geht es ihm schon ein bisschen besser, aber er spricht immer noch nicht. Erst vor kurzem wurde durchgesetzt, dass seine Festplatte durchsucht werden durfte, um irgendwelche Anhaltspunkte zu finden."
"Und? Irgendetwas gefunden?"
"Es könnte eine Rolle spielen, könnte auch Nichts sein. Sie fanden neben einigen Gigabyte gewaltverherrlichender Filme und Pornos PDF-Dateien mit mehreren hundert Seiten, die sich mit dem Thema Träumen befassten. Alles so pseudo-wissenschaftlicher Psycho-Kram, Esoterik-Scheiß. Er hatte sich vermutlich zu sehr darin vertieft und das hat ihm irgendwann psychische Probleme verursacht. Das passiert, wenn Leute zu leicht beeinflussbar sind. Man soll sich nie auf so unseriöses Zeugs einlassen. Luzides Träumen - wie lächerlich."
"Oh, du glaubst gar nicht, ich hab letztens in einem Artikel gelesen, dass es neuerdings bahnbrechende Erkenntnisse in der Traumforschung gibt. Zum Beispiel soll Suggestion im Schlaf möglich sein. Wenn eine Person schläft und eine andere sitzt daneben und redet auf die schlafende Person ein, dann kann das die Träume der schlafenden Person beeinflussen. Ist das nicht unheimlich?"
"Liebling, du glaubst doch nicht ernsthaft an diesen Quatsch? Das sind doch nur Theorien, es gibt keine Beweise. Jetzt vergessen wir das. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Lass uns ein bisschen ... kuscheln."
"Oho ... ich weiß, was das bei dir bedeutet. Du böser Junge, du."
"Hach Liebling, du kennst mich halt zu gut."
"Weißt du, wie sehr ich dich vermisst hab? Ich hab mich so sehr nach dir gesehnt. Wie du deine Arme um mich schlingst und mir diese Sachen ins Ohr sagst. Du weißt, wie sehr ich darauf stehe. Deine Stimme ist so tief und vibriert so schön. Das ist so sexy ..."
"Oh ja ...?"
"Genau so."