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Alpha und Omega

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25.11.2007
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Alpha und Omega

Sein Körper war monatelang im Schutz des Extruders gereift. Nun kam der Moment, in dem die reine biologische Entität vollendet wurde. Neuronen flammten aus der Leblosigkeit auf und ein Geist materialisierte. Zuerst nur bruchstückhaft, kaum dazu in der Lage, seine eigene Existenz zu erkennen. Doch in einem Zeitraffer biologischer Abläufe bildeten sich in seinem Gehirn Verbindungen, rudimentär vorhandene Instinkte wurden mit Wissensfragmenten angereichert, die zu einem vernunftbegabten Bewusstsein verschmolzen. Dann - nachdem der Körper den Extruder verlassen und seine eigenständige Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt hatte - wurde das Bewusstsein aus dem Dämmerzustand an die Oberfläche der Realität geholt.
Sein Erwachen war erfüllt von Verwirrung.
Von einer auf die andere Sekunde wusste er, dass er war - eine elementare Erkenntnis, die vor ihm kaum einem Wesen mit so einer radikalen Deutlichkeit aufgegangen war. Dutzende Reize strömten zum ersten Mal auf ihn ein. Er fühlte - eine weiche Substanz, die ihn umgab; er schmeckte - ein leicht salziger Geschmack auf der Zunge; er roch - ein seltsamer Duft, der seine Verwirrung noch steigerte; und er hörte - seine eigene Atmung und ein leichtes Rauschen, wenn er sich regte. Er spürte seinen Körper mit einer überwältigenden Intensität. Muskeln und Sehnen, die sich spannten oder erschlafften; das Blut rauschte durch die Adern, angepumpt vom kräftig pochenden Herzen. Und er hatte noch nicht einmal die Augen geöffnet. Für diese ersten bewussten Sekunden war er genug mit seinem Innenleben beschäftigt. Seine Verwirrung bestand nicht aus purem Unwissen - wenn, dann war das Gegenteil der Fall; sein Gehirn hatte durch den Extruder bereits einen ganzen Wissenskatalog verinnerlicht, der ihn diese einmalige Reizflut erst ermöglichte. Er dachte in Begriffen einer Sprache, weswegen er auch die ersten Reize so genau interpretieren konnte. Außerdem konnte er sie vom ersten Moment an in Relation zu einander setzen. Er begann sofort seine Umwelt zu analysieren, präziser als es irgendein neugeborener Organismus jemals getan hatte.
Er hob die Augenlider und seine Augen fingen ihr erstes Bild von der ihn umgebenden Welt ein. Sofort begannen sie zu tränen, ob der plötzlichen Helligkeit. Er musste einige Male blinzeln, bis er etwas erkennen konnte. Ein weißes Licht fiel auf seine Netzhaut, es kam von oben und erhellte einen geschlossenen Raum mit milchtrüben Wänden. Er lag und die Substanz, die er von Anfang an auf sich gespürt hatte, war eine weiche Decke. Sein Kopf lag auf einem dicken Kissen und es erschloss sich ihm, dass es ein Bett war, in dem er lag. Alles in dem Raum war weiß. Er konnte nicht einschätzen, wie groß dieser Raum war.
Orientierungslosigkeit überkam ihn; damit einher gingen die großen Fragen des Lebens (er war gerade einmal zwei Minuten alt): Woher komme ich? Wo bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich? Und die wohl entscheidendste Frage: Was soll das alles?
Er setzte sich im Bett auf, jede Bewegung ungewohnt und neu. Ein leises Krächzen entrang sich seiner Kehle. Überrascht von diesem rauen Ton stellte er seinen ersten Sprachversuch an; er dachte in einem Vokabular, also würden seine Stimmbänder nach ein wenig Übung dazu in der Lage sein, dieses Vokabular phonetisch umzusetzen. Anfangs waren es nur grobe, grunzende Laute, die unkontrolliert durch den Raum hallten. Aber dann erklangen die ersten deutlich zu verstehenden Wörter aus seinem Mund, was ihn unbedarft auflachen ließ. Sein erster Satz lautete: ”Wer bin ich?”
Keine Verzweiflung oder Angst kamen in ihm auf. Vielmehr fühlte er eine kreatürliche Neugier über die seltsame Welt, in die er hineingeboren war und die nur aus einem Bett und vier Wänden bestand. Diese Neugier war es auch, die ihn veranlasste aufzustehen. Er registrierte, dass er nackt war, nachdem er die Decke zur Seite geschlagen hatte, aber er empfand darüber keinerlei Scham. Seine Beine waren stark und durchaus in der Lage, ihn zu halten, auch sein Gehirn wusste unterschwellig ganz genau, welches Muskelspiel es anzuwenden hatte und der Gleichgewichtssinn war bereits voll ausgeprägt. Trotzdem waren seine ersten Schritte wackelig und steif - eben wie bei einem Neugeborenen. Er verließ seine Wiege und ging bis zur Wand auf der anderen Seite seines beschränkten Universums. Er zählte - noch etwas, zu dem er ohne Schwierigkeiten befähigt war - zwölf Schritte; seine Welt, alles, was sich ihm bot, bemaß zwölf Schritte im Durchmesser. Die Wand fühlte sich glatt und kalt an und war offenbar massiv. Er beschloss eine Expedition um die Ränder des Universums zu unternehmen, also schritt er die Wände ab, wobei er sie immer wieder betastete. Er hatte eine leise Ahnung, oder Hoffnung, dass sich irgendwo ein verstecktes Portal befand; ein Tor über die Grenzen der Welt hinaus. Aber er fand nichts. Dann untersuchte er sein Bett genauer. Er strich über die Matratze und die Decke, beides weich und sanft. Er berührte das einfache Bettgestell, das aus demselben Material wie die Wände zu bestehen schien. Schließlich ging er noch auf die Knie und sah unter das Bett, wo er auch nur den nackten weißen Boden vorfand.
Als letztes wandte er sich der Lichtquelle an der Decke zu. Es war ein weißes Leuchten, dass von der Mitte ausging; es wirkte, als würde es das weiße Deckenmaterial durchscheinen. Es gelang ihm auch mit ausgestrecktem Arm nicht, die Lichtquelle zu berühren, dazu war die Decke zu hoch. Aber er fühlte die Wärme, die davon ausging. Er beschäftigte sich einige Augenblicke interessiert mit dem Spiel von Licht und Schatten. Das Licht selbst zog ihn irgendwie an, er erlebte ein neues Gefühl, das er als eine Art von Ehrfurcht interpretierte. Sein Geist begann zu spekulieren. Wenn die Welt nur aus dem Raum bestand, dann war die einzige Licht- und Wärmequelle das wichtigste Element dieser Welt. Wäre es möglich, dass das Licht den Raum, das Bett und ihn erschaffen hatte? Er war mit einem starken Intellekt und einem analytischen Geist ausgestattet worden und so verwarf er diese theologischen Anwandlungen sehr schnell zugunsten von logischeren Überlegungen.
Dennoch nagten tiefe Zweifel an ihm, nachdem er seine Welt so ergebnislos in Augenschein genommen hatte. Es gab nicht viel, wofür es sich zu leben lohnte. Zumal er sich der simplen biologischen Bedürfnisse seines Körpers durchaus bewusst war, auch wenn er momentan nichts in dieser Richtung spürte. Es war fraglich, wie er hier ohne Nahrung überleben sollte. Außerdem stellte die räumliche Enge auch eine Begrenzung für seinen wissenshungrigen Geist dar; er war körperlich und seelisch allein. Was für ein Universum konnte so grausam sein?
Er setzte sich wieder auf sein Bett und versank in tiefe Gedanken.
Nach etwa einer Stunde - er selber war sich des Zeitablaufs in seiner kleinen, statischen Welt kaum bewusst - riss ihn die Stimme aus seiner Sinnkrise.
”Verstehst du mich?”, tönte mächtig durch den Raum. Die Stimme war seltsam hell und melodisch; ganz anders als seine eigene. Zusammenfahrend stieß er ein Stöhnen aus; er verspürte zum ersten Mal richtige Angst. Er warf den Kopf hin und her, um eine Quelle für die Worte zu finden, aber schließlich blieb sein Blick wieder am Licht über ihm hängen.
”Angst ist unnötig”, sagte die Stimme. ”Verstehst du mich?”
”Was ist das?”, stieß er keuchend aus.
”Warum hast du Angst?”
Er riss sich einen Moment zusammen, wiederholte diese Frage in Gedanken und dachte darüber nach. Es bedurfte einer beträchtlichen Courage seinerseits, zu antworten. Dabei gab er sich Mühe Richtung Licht zu sprechen. ”Ich weiß nicht was du bist.”
”Du kannst mich als Alpha bezeichnen. Sag mir nun, ob du mich optimal verstehen kannst.”
”J… ja. Ja, das kann ich.” Die Erkenntnis brachte seine Neugier wieder zum Vorschein. Aber die Angst war noch immer präsent. ”Aber was bist du?”
”Ich bin die letzte Instanz. Aber diese Informationen werden dir nichts nützen. Beantworte bitte nur meine Fragen. Wie ist dein körperliches Wohlbefinden?”
Perplex starrte er in das Licht ohne eine Antwort zu finden. Womit sprach er gerade? Die letzte Instanz? Diese Worte sagten ihm nichts, er konnte sich noch nicht einmal etwas unter diesem Begriff vorstellen. Seine noch so neue Gefühlswelt erlebte ihren größten Sturm. Er konnte seine Gefühle nicht mit Worten beschreiben, also sagte er mit zitternder Stimme wahrheitsgemäß: ”Ich weiß es nicht. Ich bin durcheinander.”
”Hast du Schmerzen?”
”Nein.”
”Sag mir, was du bist.”
”Was?” Am liebsten hätte er sich unter die Bettdecke verkrochen und sich vor Angst zusammengekrümmt. Er verstand einfach nicht, was los war. ”Ich weiß nicht”, stöhnte er gequält.
”Sieh an dir herab. Was bist du?” Die Stimme war noch sanfter geworden.
Er befolgte den Rat und blickte seinen nackten Körper an. Er dachte dabei über die Frage der Stimme - Alpha - nach und plötzlich öffnete sich die Bedeutung und postwendend auch die Antwort, die seit der Sekunde seines Aufwachens in seinem Kopf steckte.
”Ich bin ein … Mensch.” Das Wort kam ihm nur widerwillig über die Lippen, es wirkte fremdartig und vertraut zugleich. ”Kannst du mir …”, jedes Wort bedurfte einer starken Konzentration, die meisten Wörter sprach er zum ersten Mal aus. Seine Kommunikation lief beinahe instinktiv ab. Aber er stotterte sich tapfer voran. ”Kannst du mir erklären, was … was für einen … Sinn … mein Leben hat? Warum bin ich hier?” Der letzte Satz kam flüssig und sein Tonfall war fast drängend - was ihn sofort wieder demütig zucken ließ, aus Angst, er könnte Alpha erzürnen.
”Du bist hier, weil ich es wollte.”
”Ich verstehe das nicht”, rief er zurück in die Leere des weißen Raums.
”Ich habe dich erschaffen, weil das meine Aufgabe ist.”
”Du hast mich erschaffen?” Ein Schauer durchlief seinen Körper. ”Wozu?”
Stille.
Er versuchte noch einige Minuten flehend eine Antwort auf seine existentiellen Fragen zu erhalten, doch Alpha war verstummt. Besorgt fragte er sich, ob er Alpha - seinen Schöpfer! - mit seinen Fragen verstimmt hatte. Alpha. Ein Wort, für das er keine Bedeutung kannte. Er versuchte das, was Alpha gesagt hatte, noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Die eigenartigen Fragen und die Antworten auf seine Fragen, die er nicht begreifen konnte. Er wusste die Bedeutung der Aussagen seines Schöpfers nicht zu deuten.
Weitere Zeit verstrich. Eine Ewigkeit, in der er mehr und mehr glaubte, Alpha enttäuscht zu haben. Immer wieder flehte er seinen Schöpfer an, mit ihm zu reden und beteuerte, dass es nicht seine Absicht gewesen war, ihn zu beleidigen. Seine Gedanken wurden jedoch von einen unangenehmen Gefühl unterwandert. Nach der Erforschung dieser Empfindung identifizierte er sie als ein rein körperliches Phänomen. Er hatte Hunger und Durst.
”Oh bitte, komm zurück!”, flehte er gen Deckenlicht. ”Wenn du mich geschaffen hast, dann sag mir, wie ich hier leben soll!”
Aber Alpha reagierte nicht auf seine verzweifelten Rufe. Da wurde er zornig. Für einen Moment vergaß er die Ehrfurcht, mit der er zu seinem Schöpfer aufsah, und wurde einfach nur wütend auf ihn. Was für ein Schöpfer war Alpha? Warum erschuf er ihn, wenn es nur diese fade, tödliche Welt gab? Er sprang vom Bett auf und kanalisierte Wut und Energie, die in seinem neuen, kräftigen Körper im Überfluss vorhanden waren, spannte seine Muskeln an und schrie. Außer Rand und Band tobte er brüllend in seiner Welt umher, trat gegen das Bett und boxte gegen die eintönigen Wände. Das einzige Resultat bestand aus Schmerzen in Füßen und Händen.
”Das solltest du nicht tun. Dieses Verhalten schadet dir nur.”
Alpha! Endlich. Auf der Stelle erstarrte er wieder.
”Ich …”, setzte er an, formulierte sein Anliegen aber dann neu; respektvoller. ”Bitte, ich werde sterben, wenn du mir nicht hilfst. Ich habe Hunger und Durst. Wenn du mich geschaffen hast, dann kannst du mir doch bestimmt auch etwas geben. Bitte!”
”Es überrascht mich, dass dein Körper bereits Nährstoffe verlangt. Ich habe erst zu einem späteren Zeitpunkt damit gerechnet. Bist du sicher, das die Interpretation deines Befindens richtig ist?”
”Ja”, sagte er kläglich.
”Dann warte.”
”Halt! Lass mich nicht alleine. Ich will nicht alleine sein.”
”Es dauert nur einen Moment.”
Tatsächlich vergingen nur Sekunden, bis ein Geräusch in seine Ohren drang, das es bisher noch nicht gegeben hatte. Ein pfeifender, schriller Ton, der ihm Angst einjagte. Doch viel schlimmer war, was mit dem Geräusch einherging. Direkt vor ihm bewegte sich der Boden! Er wölbte sich nach oben und formte sich zu einem Halbkreis, der ihm bis zum Schienbein ging. Dann vollzog sich eine feine Trennung an der Basis, er konnte erkennen, dass sich der Halbkreis vom restlichen Boden ablöste. Das Ganze vollzog sich innerhalb weniger Sekunden.
”Was ist das?” Seine Stimme war von Panik erfüllt. Er stand stocksteif da und wagte es nicht, sich zu rühren. Argwöhnisch fixierte er die neue Landmarke in seiner Welt.
”Heb es an”, verlangte Alpha.
Mit großer Überwindung tat er wie geheißen. Er ging in die Hocke, nahm all seinen Mut zusammen und umschloss den Halbkreis mit seinen Händen. Es fühlte sich nicht anders als der normale Boden oder die Wände an, also hob er es hoch. Es war ein Deckel, wie er nun erleichtert erkannte. Und darunter befand sich Nahrung. Nahm er jedenfalls an. Eine grobe, graue Substanz, die in einer kleinen Schüssel ruhte, und eine andere Schüssel, die weniger durchmaß, aber höhere Ränder hatte und mit einer anderen durchsichtigen Substanz gefüllt war.
”Das wird dir Linderung verschaffen”, sagte Alphas melodische Stimme.
Seine Bedenken über Bord werfend hob er die Schüssel an und setzte sie an seine Lippen; er roch daran und stellte fest, dass es kaum etwas zu riechen gab, dann erst schlürfte er los. Der Geschmack war ebenfalls neutral, dennoch wurden seine frischen Geschmacksknospe angeregt und er grunzte zufrieden. Er leerte die Schüssel gierig und untersuchte daraufhin die andere Schüssel. Das Wasser bescherte ihm Schauer - die Erfrischung war eines der höchsten Gefühle, die er bisher erlebt hatte.
”Ich danke dir!”, quakte er danach.
”Du musst dich nicht zum Licht wenden, um mit mir zu sprechen”, erwiderte Alpha gleichsam. ”Sind deine Bedürfnisse jetzt gestillt?”
”Ja.” Nein. Es brannten nach wie vor drängende Fragen in ihm. ”Aber … Warum?”
”Es ist dein Schicksal. Ich werde dich nun wieder allein lassen.”
”Nein! Bitte nicht!”
”Ich werde bald wieder zu dir sprechen.”
Erneut hatte sein Schöpfer ihn verlassen, ohne auf seine Fragen einzugehen. Aber diesmal gab er sich nicht der Verzweiflung hin. Er trank den letzten Schluck Wasser und beschloss, seine Welt genauer zu studieren. Sein ganzes Denken fokussierte sich auf diese Aufgabe, wie besessen tastete er Wände und Boden ab, kratzte, rieb und leckte sogar daran. Er schickte sich an, sein Bett zu verschieben, um die Wand dahinter besser in Augenschein nehmen zu können. Frustriert stellte er fest, das es unverrückbar war.
Seine Welt war in jeder Hinsicht statisch - nur Matratze, Decke und Kissen waren veränderliche Gegenstände, denen er bald seine Zeit widmete. Es war, als hätte ein Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen. Er saß auf dem Bett, vergaß den Raum um sich herum und spielte mit dem Stoff der Decke. Er knüllte ihn zusammen, glättete ihn und zupfte daran. Er warf in einer lethargischen Monotonie das Kissen an die gegenüberliegende Wand und holte es zurück, nur um es gleich darauf wieder zu werfen. Sein Geist ergab sich in diesen Dämmerzustand; in seiner Komplexität sehnte er sich nach der Einfachheit einer monotonen Beschäftigung. Manchmal schlief er. Es war kein gezieltes Hinlegen, ihm fielen während seiner stupiden Verrichtungen einfach die Augen zu und er sackte erschöpft zusammen. Der Schlaf dauerte nie sehr lang - jedenfalls kam es ihm so vor. Und jedes Mal, wenn er aufwachte, waren die beiden Schüsseln auf dem Boden aufgefüllt. Zusätzlich dazu fand er ein größeres Behältnis, das er für seine Notdurft benutzen konnte. Es war nach den Schlafphasen wieder leer und sauber. Bald hatte sich ein Zyklus aus schlafen, essen und Beschäftigung entwickelt, in dem seine drängenden Fragen allmählich verblassten. Sie befanden sich noch in einem Winkel seines Bewusstseins, aber sie waren nach erstaunlich kurzer Zeit nur noch ein ferner Traum. Nun, wo ihm seine Welt Nahrung gab und sein Geist eine - wenn auch simple - Beschäftigung hatte, begann er sich mit seiner kleinen Welt und seiner Existenz darin abzufinden.
Irgendwann meldete sich Alpha wieder bei ihm und befragte ihn erneut über sein Wohlbefinden.
”Ich habe keine Schmerzen, wenn es das ist, was du meinst”, antwortete er vorsichtig. Dann wagte er sich einen Schritt weiter. ”Aber, bitte sag mir, ist es nur mein Fleisch, das dich interessiert? Ist das Fleisch nicht egal, wenn ein kranker Geist darin ruht?”
Alphas Stimme ließ sich Zeit, um dies zu entgegnen, doch schließlich sagte sie: ”Deine geistigen Fähigkeiten entsprechen den minimalen Anforderungen.”
Ihm blieb jedes Wort in der Kehle stecken, als er das hörte. Bedeutete das, dass Alpha ihn tatsächlich für dieses unwürdige Dasein geschaffen hatte? Etwas in ihm wollte sich damit nicht abfinden. Mit vorsichtigem Trotz fragte er: ”Soll ich so die Ewigkeit verbringen?”
”Nein. Du hast deinen Zweck schon fast erfüllt. Die Ewigkeit ist für meinesgleichen reserviert.”
”Meinen Zweck? Bitte … bitte sag mir, was ist mein Zweck?”
”Diese Informationen sind für dich irrelevant.”
”Warum?” Seine Stimme hatte sich erhoben, doch diesmal wich er nicht wieder sofort zurück. Zu sehr fühlte er sich von seinem Schöpfer verraten und verhöhnt. ”Habe ich nicht das Recht zu erfahren, was die Gründe für meine Existenz sind? Du sagtest, dass mein … Zweck fast erfüllt sei. Meintest du damit …” Er stockte. Er hatte sich selbst schon die Frage gestellt, ob sein Leben hier unendlich sein würde, oder ob es eine Art Ende gab - einen Tod (die Bedeutung des Wortes erschloss sich ihm nur bruchstückhaft). Und nun hatte Alpha eben dieses Ende angedeutet. Jedenfalls meinte er das aus den verwirrenden Worten seines Schöpfers zu verstehen.
Doch Alpha blieb ihm die Antwort darauf schuldig. Stattdessen sagte die helle Stimme: ”Deine Beharrlichkeit ist außerordentlich. Aber dennoch, warum willst du etwas erfahren, was jenseits deiner Welt liegt?”
Es gab also etwas jenseits seiner Welt! ”Du hast mich geschaffen und du wirst meine Existenz wieder beenden. Ich möchte meinen Zweck - mein … Schicksal - kennen. Kannst du das nicht verstehen?”
Kurze Stille. Dann: ”Deinem Anliegen wird zugestimmt. Deine Reaktion auf die von dir gewünschten Informationen wird meine Beobachtungen optimieren.”
”Danke! Ich danke dir.” Er sprang von seinem Bett auf und lief aufgeregt im Raum umher. Aber er musste sich Vergewissern, dass er Alpha nicht falsch verstanden hatte. ”Du wirst mir also erzählen, was der Sinn meines Daseins ist?”
”Ja. Ich werde dir die Informationen so verständlich wie möglich machen. Dennoch wirst du einiges nicht verstehen. Meine Informationen sind selber begrenzt. Es gab …” - kurzes Zögern! - ”Es gab einen Vorfall während meiner Reise.”
”Reise?”, flüsterte er ehrfürchtig.
”Ich werde mit dem beginnen, was ich chronologisch am weitesten zurückdatieren kann. Am besten wird es sein, wenn du dich hinsetzt und ruhig zuhörst.”
Schnell huschte er zum Bett zurück und warf sich darauf. Er versuchte sich zu beruhigen und Ordnung in seinen so schrecklich überforderten Kopf zu bringen. Er musste sich jetzt nur noch auf die Stimme von Alpha konzentrieren. Aufmerksam hörte er zu, verstand aber nur wenig.

Die menschliche Welt - die Erde - war in ihrer Existenz bedroht. Durch was, war unklar. Sicher war nur, dass die Menschen nicht viel Zeit hatten, das Unheil abzuwenden. Sie unternahmen alles, um nicht der völligen Auslöschung anheim zu fallen, mussten aber feststellen, dass die Zerstörung unabwendbar war. Kurz vor dem Ende ersannen sie einen letzten verzweifelten Plan. Sie bauten eine Arche - eine Weltraumarche. Jedoch würde es keine Besatzung geben, das Schiff würde nur konserviertes genetisches Material transportieren, beaufsichtigt von einer hoch entwickelten Künstlichen Intelligenz, die das Schiff zu den Sternen fliegen würde. Diese KI sollte eine Welt finden, die das menschliche Leben aufnehmen konnte, egal, wie lange es dauern würde. Dann sollte sie damit beginnen, aus dem mitgeführten genetischen Material die Kolonisten einer neuen Erde heranzuziehen. Die Menschen würden mit einem erweiterten Bewusstsein erwachen, viel von dem Wissen, das sie für ihre Zukunft benötigen würden, sollte ihnen bereits in den Wachstumsextrudern injiziert werden. Die Reise konnte viele tausende, wenn mit Millionen Jahre dauern, aber wenn alles gut ging, würde am Ende eine neue menschliche Zivilisation entstehen.
Die Arche brach schließlich auf und nahm alle Hoffnungen auf das Fortbestehen einer Spezies mit sich. Eine Weile hatte die KI noch Kontakt zu ihren Schöpfern, aber in dem Zeitraum, in dem das Auslöschungsereignis erwartet wurde, verstummten die Botschaften der Erde. Viel Zeit verging - wie viel, war nicht mehr ersichtlich. Die Arche drang immer tiefer ins All vor und steuerte viele Sonnen an, ohne ein optimales Ziel zu finden. Die KI sammelte einen unermesslichen Datenschatz und sah Wunder, die ihre Schöpfer ehrfürchtig zu Tränen gerührt hätten. Aber nirgends fand sie Bedingungen wie auf der verlorenen Erde vor. Nicht einmal einfaches Leben zeigte sich. Doch die Geduld der KI war ebenso groß wie das All.
Irgendwann war es die Arche, die gefunden wurde.
Es war ein Lebewesen, das die Menschen als eine rein energetische Entität bezeichnet hätten; es besaß keinen materiellen Körper, den die KI der Arche mit ihren Sensoren hätte wahrnehmen können. Unergründlich waren die Motive dieses fremden Bewusstseins. Vielleicht war es einsam und suchte einen Gefährten für den langen Streifzug durch die Ewigkeit, oder es war einfach nur neugierig auf das künstliche Bewusstsein, das in der Schale der Arche eingebettet war. Ob nun absichtlich oder durch einen Unfall, das Energiewesen drang in das Bewusstsein der KI und damit auch in deren physische Komponenten ein. Die KI wusste gar nicht, was mit ihr geschah, als ihre bisherige Existenz beendet wurde. Die Verbindung zerstörte viele Aufzeichnungen und Erinnerungen beider Bewusstseine. Sie verschmolzen und gingen ineinander auf, um etwas neues zu schaffen. Die Symbiose wurde dauerhaft und unumkehrbar und gebar eine neue Wesenheit, deren Körper noch immer die Arche war. Sie besaß Eigenschaften und Erinnerungen beider ursprünglichen Bewusstseine, wenn auch viel Wissen bei der Verschmelzung verloren gegangen war. Den Zweck ihres Körpers erkannte sie relativ schnell, sie trug die Fracht des Lebens in sich. Sie hatte nicht mehr viel mit der KI der Arche gemein und musste aus ihren bruchstückhaften Aufzeichnungen neu lernen, was ein Mensch war und wie sie diese Lebewesen aus den Lebensschnipseln in ihrem Bauch herstellen konnte. Die Wesenheit hatte eine Ahnung, was ihre eigenen Ursprünge betraf; die Energieentität hatte sich aus biologischem Leben entwickelt, das dem der Menschen nicht unähnlich war, und die andere Hälfte, die KI, war paradoxerweise von den Wesen erschaffen worden, die sie am Ende ihrer Reise zum Leben erwecken sollte.
Kreisläufe, die geschlossen werden wollten.
Mit neuen Sinnen war es ihr ein Leichtes, ein geeignetes Ziel für ihre wertvolle Fracht zu finden und sie machte sich dorthin auf.

”Ich beschloss also, eine vergangene Spezies neu zu erschaffen. Und du bist das erste Exemplar. Um es mit Worten alter menschlicher Mythologie zu sagen - du bist der neue Adam.”
Alpha verstummte zum ersten Mal, seit er seine Erklärung begonnen hatte, und ließ den neuen Adam mit seiner zur Schmerzhaftigkeit strapazierten Auffassungsgabe allein. Er hatte sich eine Antwort auf die Frage seines Daseins erhofft, war aber durch die lange Rede Alphas, von der er nur sehr wenig verstanden hatte, nur noch mehr in Ratlosigkeit gestürzt worden.
Eines jedoch meinte er verstanden zu haben.
”Du willst noch mehr von mir machen?”, fragte er zaghaft.
”Du bist der Prototyp”, lautete die wenig erleuchtende Antwort. ”Aufgrund der Daten, die ich durch dich sammeln konnte, bin ich in der Lage, Korrekturen vorzunehmen, um deine Nachfolger zu optimieren. Die vorliegende Version des Menschen erscheint mir ineffektiv. Es werden einige Eingriffe am Design nötig sein.”
”Du …” Wieder musste er die Bedeutung von Alphas Worten erraten. ”Du willst mich … besser machen?”
”Nein, nicht dich. Diejenigen, die nach dir kommen werden.”
Mit einem Schimmer Hoffnung blickte er zur Decke - zu seinem Licht. Ein Verstehen war noch immer in weiter Ferne, aber er begann neuen Mut zu schöpfen.
”Du hast gesagt, dass es noch mehr als das hier gibt.” Er breitete die Arme aus, senkte dabei aber demütig den Kopf. ”Wann wirst du mir dieses Woanders zeigen?”
”Bald. Wie ist dein Befinden jetzt?”
”Was meinst du mit bald?”
”Es liegt dir viel daran, zu wissen, was deine Bestimmung ist”, stellte Alpha fest. ”Deine Neugier ist bemerkenswert - ein Aspekt der Menschen, den ich nicht optimieren muss.”
”Ich verstehe so wenig von dem, was du sagst!”, heulte er auf. ”Ich möchte mehr! Mehr als das hier.”
”Eine Interaktion mit der Außenwelt ist ausgeschlossen, aber in Anbetracht deiner Hartnäckigkeit werde ich dir einen kleinen Ausblick gewähren.”
Noch bevor er reagieren konnte, lief ein Schimmern über die Wand gegenüber seines Bettes. Zur Salzsäule erstarrt beobachtete er mit offenem Mund, wie die Wand zu einer silbernen Flüssigkeit wurde. Kleine Wellen bewegten sich darauf, aber es war kein Wasser. Dann hörten die Wellenbewegungen auf und die Wand verwandelte sich in …
Es sah aus, wie ein Fenster in eine andere Welt und überforderte seine Sinne. Er sah eine große, mit blauweißen Schlieren überzogene Scheibe inmitten von Schwärze. Ohne zu wissen warum, empfand er es als wunderschön. Vorsichtig, als könnte jede Bewegung dazu führen, dass das Fenster verschwand, kroch er vom Bett und schlich durch den Raum. Seine Hand zitterte, als er den Arm nach dem Fenster ausstreckte. Er fühlte Angst, aber auch ein unerklärliches Hochgefühl. Was er sah, konnte er kaum begreifen, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er eine andere Welt sah. Doch als er diese Welt berühren wollte, fühlte er nur die Kälte der Wand. Das Fenster war geschlossen. Fast zärtlich strichen seine Finger über das Abbild der Scheibe und zeichneten die blauweißen Konturen nach. Er wusste, dass er dieser Welt niemals näher kommen würde. Sein Schicksal lag jetzt deutlich vor seinen Augen.
”Tu es”, murmelte er. ”Tu es jetzt.”
Alpha antwortete nicht einmal. Stattdessen gab es ein leises Zischen und nur Sekunden später blieb ihm der Atem weg. Hechelnd und immer noch das Fenster berührend ging er in die Knie. Tränen flossen über sein schmerzverzerrtes Gesicht und trübten seinen Blick; die Scheibe - die unerreichbare Welt - verschwamm. Die Gedanken zerstoben allmählich, dann hörte er ganz auf dagegen anzukämpfen und ließ los. Seine letzten Gedanken galten seinem kurzen, verwirrenden Leben, bis zurück zu dem Moment, an dem er erwacht war und seine Sinne die Welt entdeckten.
Und genauso schnell, wie er aus den Tiefen der Bewusstlosigkeit aufgetaucht war, versank er nun in ihr.

 
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Hallo Valis!

Es mag zum Teil an der relativ späten Stunde liegen, aber ich bin beim Lesen deiner Geschichte nur mühsam voran gekommen. Das liegt nicht daran dass sie schlecht geschrieben wäre - sie liest sich flüssig und ich kann mit deinem Protagonisten mitfühlen. Die Idee ist nicht neu, aber ordentlich umgesetzt.
Aber: es passiert so wenig, und das bisschen was passiert, geht so langsam vorwärts ... das entspricht natürlich dem was der Protagonist erlebt, aber ich finde du könntest den Leser etwas besser behandeln als Alpha das arme Versuchskaninchen behandelt, und das Ganze etwas straffen. :)
(Das Zitat von den Splittern in den Augen anderer und Balken im eigenen braucht jetzt bitte niemand anbringen, ich bin ganz furchtbar schlecht im Kürzen meiner eigenen Texte! Aber es fällt einem eben leichter, das anderen zu sagen als es selbst zu tun :D. Trotzdem keine schlechte Empfehlung, denke ich).

Besonders der Anfang war recht zäh, da habe ich sogar überlegt, ob ich weiter lesen soll. Sobald Alpha auftaucht, wird es besser, da man am Anfang nicht weiß was er ist kommt an der Stelle endlich ein wenig Spannung auf. Man sollte sich aber als Leser nicht durch ein Motivationstal schleppen müssen, bevor man zu den interessanten Stellen vorstößt :).

Hier sind noch Detailanmerkungen und kleine Korrekturen:

Sein Körper war monatelang im Schutz des Extruders gereift. Nun kam der Moment, in dem die reine biologische Entität vollendet wurde. Neuronen flammten aus der Leblosigkeit auf und ein Geist materialisierte. Zuerst nur bruchstückhaft, kaum dazu in der Lage, seine eigene Existenz zu erkennen. Doch in einem Zeitraffer biologischer Abläufe bildeten sich in seinem Gehirn Verbindungen, rudimentär vorhandene Instinkte wurden mit Wissensfragmenten angereichert, die zu einem vernunftbegabten Bewusstsein verschmolzen. Dann - nachdem der Körper den Extruder verlassen und seine eigenständige Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt hatte - wurde das Bewusstsein aus dem Dämmerzustand an die Oberfläche der Realität geholt.

Dieser ganze erste Absatz ist - anders als der größte Teil der Geschichte - nicht aus der Perspektive der Hauptfigur geschrieben, sondern wir haben hier einen allwissenden Erzähler - oder vielleicht Alpha als Erzähler. Das finde ich unglücklich, und ich denke hier bietet sich eine Möglichkeit, den Text zu kürzen. Wenn du einfach gleich in dem Moment einsteigst, in dem das Bewusstsein des Protagonisten einsetzt, und die ganze Geschichte über seine Perspektive durchhältst, dann weiß ich als Leser zwar nicht von Anfang an, dass er in einem Extruder herangewachsen ist (das wird aber später sowieso von Alpha erzählt), aber dafür bin ich gleich beim Protagonisten, seinen Wahrnehmungen und seiner existenziellen Verwirrung, und das ist schon mal ein Stück interessanter als der ganze Technobabbel.

Seine Verwirrung bestand nicht aus purem Unwissen - wenn, dann war das Gegenteil der Fall; sein Gehirn hatte durch den Extruder bereits einen ganzen Wissenskatalog verinnerlicht, der ihn diese einmalige Reizflut erst ermöglichte.
ihm, oder das Pronomen einfach weg lassen: "der diese einmalige Reizflut erst ermöglichte"

Eine grobe, graue Substanz, die in einer kleinen Schüssel ruhte, und eine andere Schüssel, die weniger durchmaß, aber höhere Ränder hatte und mit einer anderen durchsichtigen Substanz gefüllt war.
Das ist so umständlich. Er kennt doch die menschliche Sprache, er kennt das Wort für Schüssel, warum kann er dann nicht auch die Worte für Becher und Wasser kennen?

”Ich danke dir!”, quakte er danach.
Er quakt? Dann muss die KI ja wirklich noch einige Fehler ausmerzen, irgendwie scheint da Frosch-DNA reingeraten zu sein :)
Nee ernsthaft, das Wort wirkt ziemlich fehl am Platz.

Aber er musste sich Vergewissern, dass er Alpha nicht falsch verstanden hatte.
vergewissern klein

Die Reise konnte viele tausende, wenn mit Millionen Jahre dauern,
wenn nicht

Irgendwann war es die Arche, die gefunden wurde.
Es war ein Lebewesen, das die Menschen als eine rein energetische Entität bezeichnet hätten; ...
Dieser Teil erscheint mir nicht so wesentlich. Es hätte doch gereicht, wenn die KI irgendwann einen erdähnlichen Planeten findet und dann beginnt mit dem genetischen Material zu experimentieren um die optimalen Kolonisten zu erschaffen. Diese Verschmelzung mit der Energielebensform könnte man aus meiner Sicht ohne große Konsequenzen für die Geschichte streichen - und wieder wäre eine Kürzung vollbracht :).

Es sah aus, wie ein Fenster in eine andere Welt und überforderte seine Sinne.
Das Komma kann weg

Ich hoffe das Feedback war nützlich für dich (und vielleicht motiviert es dich auch selbst ein paar Kommentare zu anderen Geschichten abzugeben, die SF-Rubrik kann glaube ich etwas mehr Aktivität vertragen :))

Grüße von Perdita

 

Hi Valis!

Eine interessante Allegorie auf das spirituelle Leben. Und eine Angstphantasie für den nach Wachstum strebenden menschlichen Geist: Wie würde der Mensch wohl mit einer Umgebung zurechtkommen, die ihm keinerlei Möglichkeiten zum Wachsen bietet und - noch wichtiger - keine Kontrolle über sein Leben ermöglicht? In der er einem anderen Wesen ausgeliefert ist vom Anfang bis zum Ende seiner Existenz?
Deine Antwort: Er würde sich arrangieren. Seinen Geist so gut beschäftigen, wie es nur geht, und sich dem Wesen unterwerfen, das ihm die Welt erklärt und über sein Schicksal entscheidet - ganz egal, wie frustrierend sich das Verhältnis ausnimmt und wie quälend das Gefühl ist, dass etwas fehlt. Vergleichsmöglichkeiten hätte er nicht, seine Sehnsucht nach dem Mehr bliebe zwangsläufig unartikuliert. Aber sie wäre da und würde ihn verzehren.
Folgerichtig ist dann auch, dass er sich recht leicht in das Ende fügt, das ihm vorbestimmt wurde.
Das hast du auf eine so beklemmend glaubwürdige Art rübergebracht, dass ich schwor, niemals das Schicksal der Menschheit in die Hände einer emotionslosen künstlichen Intelligenz zu legen. ;)
Die Geschichte ist aber eben mehr als nur die Aufarbeitung einer Angstphantasie. Beim Lesen kamen mir Vergleiche mit dem Leben an sich in den Sinn. Wir fragen uns immer wieder: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Warum bin ich hier? Und sind immer wieder frustriert, weil das Universum uns die Antwort schuldig bleibt.
Der menschliche Geist ist aber dazu geschaffen, mit dem zu arbeiten, was er hat. Wenn seine Welt nur aus einem Bett in einem geschlossenen Raum besteht, beschäftigt er sich umso intensiver mit dem Bett und dem Raum, um sich geistig auszulasten. Wenn die einzige andere Person eine körperlose Stimme ist, die ihm emotionslos Informationshäppchen liefert, klammert er sich umso mehr an die Stimme und die Häppchen. Genauso ist es mit uns und dem winzigen Staubkorn in der Unendlichkeit, das wir "Erde" nennen. Wir wissen viel mehr über die Welt als unsere Vorfahren, doch warum überhaupt etwas existiert, wissen wir nicht. Die Wissenschaft liefert uns Informationshäppchen, die uns nicht weiterbringen, aber wir klammern uns an sie, obwohl sie keinen Trost spendet, uns manchmal sogar die Hoffnung auf Wachstum ( z. B. Ausbreitung über das Universum, vollständiges Verständnis des Universums ) nimmt.
An dieser Stelle der Überlegungen frage ich mich: Hätte der Prot seine Existenz anders wahrgenommen, anders gefühlt, wenn er die Kluft zwischen Frage und Antwort spirituell aufgefüllt hätte? Wenn ihm irgendwie das Konzept der Religion geläufig wäre? Wenn die KI sich als Gott vorgestellt, ihn als Sohn bezeichnet und ihm ein Leben nach dem Tod versprochen hätte? Wäre ihm sein Schicksal leichter gefallen? Vermutlich ja. Denke ich.
Interessant wäre deshalb auch der Vergleich: Vielleicht gibt die KI dem Nachfolger des Prots die Religion, um ihn ausgeglichener, stoischer zu machen, und lügt ihn dafür an. Der Leser muss dann entscheiden: Was würde ich bevorzugen? Das wäre natürlich eine Erweiterung der Story auf doppelten Inhalt.

Was die Kritikpunkte angeht, so hat Perdita schon sehr viel Vorarbeit geleistet, und mehr Haare habe ich auch nicht in der Suppe gefunden. ;)
Der Bruch in der Ego-Perspektive des Prots gleich am Anfang stört wirklich ein wenig, und die Verschmelzung der KI mit dem Fremdwesen war nicht nötig. Zudem war der erklärende Einschub ein ähnlicher Perspektivenbruch, und sogar noch schlimmer: Als Leser werde ich vorübergehend aus der Handlung gerissen, um mir einen stinklangweiligen Vortrag anzuhören. So als würde der Erzähler in den Raum rufen: "Wir unterbrechen die Geschichte für einen nachgeschobenen Prolog, damit ihr endlich kapiert, worum es geht, und machen dann weiter".
Das Ganze ließe sich, wenn du den Teil mit der Verschmelzung und den genauen Hergang der Ereignisse weglässt, auch in Dialogform präsentieren. Die KI könnte ja beschließen, die Dinge auszusparen, die der Prot ohnehin nicht verstehen würde.

Wenn du die Story überarbeitet hast, schau ich mir das Ganze noch mal an.

Tschüss, Megabjörnie

 

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