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Alpha Inkubus
Er lehnte sich ihm Schatten eines Brückenpfeilers an den kühlen Beton und beobachtete, wie der Helikopter der Euro Force zwei Straßen weiter hinter einer dunklen Fassade verschwand. Für einen Moment noch glänzte die schwarze, insektoide Form im Scheinwerferlicht über den Dächern, dann verriet nur noch ein matter Schein hinter den leeren Fensterhöhlen die Anwesenheit der Ordnungskräfte. Sie waren schnell gewesen, schneller als er eigentlich gedacht hatte. Er lächelte in die Dunkelheit, genoss wie sich die Gesichtsmuskulatur spannte. Trotzdem waren sie nicht schnell genug.
Er drehte sich um und sah unter der alten S-Bahnbrücke hindurch nach Süden. Hier gaben nur einige übriggebliebene Solarlaternen, Relikte des alten öffentlichen Stromnetzes, flackernd das Licht ab, das sie am Tag durch den Dunst gespeichert hatten, doch weiter hinten wogte vielversprechend das Lichtermeer des Stadtzentrums. Dort waren die Nächte hell und die Straßen sicher. Dort verkrochen sich die Leute des Nachts nicht in bröckelnde Ruinen. Jetzt kicherte er leise und lauschte neugierig seinen Lauten. Vielleicht hätte er gleich dorthin gehen sollen, dann hätte er jetzt auch kein Geldproblem. Seinen alten Chip konnte er nicht mehr benutzen, damit hätten sie ihn fast gefasst und deshalb war ein Wechsel nötig geworden. Keine Zeit und keine große Auswahl. Er würde sich Geld besorgen müssen, denn er brauchte bald etwas zu Essen. Hunger brannte in ihm, wie jedes Mal und er konnte regelrecht spüren, wie erschöpft die Energiereserven seines Körpers waren.
Während er einen letzten wachsamen Blick zurück warf und sich dann zum Gehen wandte, tastete er mit beiden Händen unter seiner Mantelkapuze nach seinem Nacken. Der Klumpen war nicht mehr feucht, die Gewebereste fühlten sich schorfig an und schmerzten kaum noch. Mit einer einzigen schnellen Bewegung riss er alles Überstehende ab. Er betrachtete kurz die Masse in seinen Händen und überlegte, ob er das Material recyceln sollte.
Nein. Er warf es einem mageren Straßenhund zu, der aus seinem Rohrstück kroch und es leise
winselnd verschlang. Dann straffte er seinen Schritt und lief auf die verlockenden Lichter der Berliner Mitte zu.
Martin sprang aus dem Helikopter, kaum dass die Kufen den Boden berührten.
„Warten sie hier!“, brüllte er dem Piloten zu, der einen schwarzbehandschuhten Daumen zeigte.
Im Scheinwerferlicht der Maschine sah er zwei Wagen des Grünen Bären auf den mit Unkraut und Kakteen zugewucherten Betonplatten stehen, wobei es ihm ein Rätsel blieb, wie die privaten Sicherheitsleute sie auf diesen verfallenen Hof bekommen hatten. Mehrere jung aussehende Männer und Frauen in türkisfarbenen Uniformen mit Bärenwappen standen davor. Ein Blick in die Gesichter der Teddys sagte ihm, dass sie einen Volltreffer gelandet hatten. Der Grüne Bär besaß zwar unter den privaten Sicherheitsorganisationen einen guten Ruf, er wählte seine Leute sorgfältig aus und trainierte sie vernünftig, aber er bezweifelte, dass sie auf diesen Fall vorbereitet waren. Jedenfalls konkurrierte bei einigen von ihnen die Gesichtsfarbe mit der Uniform.
„Unionsgarde.“, sagte er und drückte leicht auf seinen linken Daumennagel, damit die Teddys die Holo-Dienstmarke sehen konnten. „Martin Grenger, Abteilung für Abnormes.“
Das schien einigen Eindruck zu machen. Die Garde hatte zwar wie alle Organisationen der Kontinentalen Union nach dem Rush, Brüssel und dem Alpenabkommen einiges an Prestige eingebüßt, aber sie war immer noch einer der gefürchtetesten staatlichen Sicherheitsdienste der Welt.
„Herr Grenger.“, begrüßte ihn eine rothaarige junge Frau mit einem zusätzlichen Abzeichen am Kragen. Sie wirkte ein wenig gefasster als die anderen. „ Mein Name ist Natasha Jansen. Die Chefin hat uns gesagt, wir würden Verstärkung bekommen.“
Sie äugte stirnrunzelnd an Martin vorbei.
„Unser forensisches Team.“, sagte er nicht ganz wahrheitsgemäß und nickte lächelnd in Richtung des Helikopters. Dort luden drei schwarze Gestalten technische Gerätschaften und eine längliche Kiste mit präzisen Bewegungen aus der Maschine . Sie alle waren von Kopf bis Fuß in hautenges Biomec-Polymer gehüllt. Eine getönte Glasplatte bedeckte ihre Gesichter und verlieh ihnen eine unheimliche Puppenhaftigkeit, aber auf ihren Schultern glänzten die Sterne der Garde. Zusätzlich trugen sie alle einen kleinen griechischen Buchstaben auf der rechten Brustseite: Alpha, Beta und Gamma.
„Es sind ehemalige Armeespezialisten.“, meinte er entschuldigend. „Nach dem Rush haben wir sie übernommen, aber es ist schwer den alten Drill abzulegen.“
Jansen zuckte die Achseln, obwohl Martin nicht glaubte, dass sie ihm das abnahm.
„Wie sie meinen. Ihre Jungs werden auf jeden Fall sehr viel Spaß da drin haben. Ich habe in der C-Zone schon so einiges gesehen, aber so etwas...“
„Haben sie die Leiche gefunden?“
„Ja. Das heißt, ich war dabei.“ Sie zögerte einen Moment und musterte ihn kritisch. „Sie wissen schon, was da drin ist und wie es aussieht, oder?“
„Dazu kann ich keine Angaben machen.“ Er lächelte. „Aber raten sie doch mal. Macht sich die Garde die Mühe, den Grünen Bären zu beauftragen einen einfachen Chipbetrüger in die C-Zone zu verfolgen?“
Die Teddy verzog leicht das Gesicht. „Nein, aber im Allgemeinen hören wir auf das, was die Chefin uns sagt. Wenn ihre schwarzen Männer fertig sind, könnten wir dann.“
Martin winkte seine Schützlinge heran. Alpha und Beta trugen das sargähnliche Konstrukt, während Gamma eine mobile Analyseeinheit in den Händen hielt. Dabei bewegten sie sich leichtfüßig und geschmeidig, als würden sie das Gewicht kaum spüren. Die jungen Sicherheitsleute wichen vor ihnen zurück und machten den Weg frei.
„Okay, Leute!“, rief Jansen in die Runde. „Ihr habt euren Job getan. Die Garde übernimmt jetzt. Koszik und Frieders, ihr bleibt hier unten und passt auf, dass die Absperrung eingehalten wird. Der Rest kann sich beim HQ wieder als verfügbar melden.“
Sie wandte sich wieder Martin zu. „Hier entlang, Herr Grenger.“
Jansen führte sie auf eines der mehrstöckigen Gebäude zu. Im Lichtkegel der Scheinwerfer gähnten Fenster und Türen wie bodenlose Löcher in der gemauerten Fassade. Martin kannte Bilder davon, wie die C-Zone früher, lange vor dem Rush, ausgesehen hatte. Damals, man hatte die Gegend Prenzlauer Berg oder so genannt, waren diese Mietskasernen zwar auch keine Schönheiten gewesen, aber sie hatten bei weitem nicht so trostlos ausgesehen wie jetzt. Kleine, kränklich aussehende Mauergewächse hatten lange alles beseitigt, was an Putz und Stuck erinnerte und altmodische Dachschindeln und Schutt türmten sich vor den Wänden. Das ganze Gebiet war chronisch einsturzgefährdet und Martin hoffte inständig, dass er in dieser Nacht nicht so enden würde, wie es wöchentlich etwa ein Dutzend derer erwischte, die sich in diesen Ruinen verkrochen hatten.
Die Taschenlampe, die Jansen zutage gefördert hatte, leuchtete durch die aufgesperrte Tür hindurch in ein marodes Treppenhaus. Im Inneren des Hauses war es muffig und eigenartig kühl. Es blieb Martin ein Rätsel, wieso das massive Mauerwerk besser mit der mitteleuropäischen Treibhaushitze auszukommen schien als die modernen Ultrakomposittürme der Mitte, bei denen jährlich Unsummen für Klimatisierung ausgegeben wurde.
Die Treppe knirschte bedrohlich unter ihrem Gewicht, aber sie schien zu halten, obwohl sich Martin wohlweislich vom Geländer fernhielt. Schweigend überwanden sie ein Stockwerk nach dem anderen. Einmal wischte ein dunkler Schemen mit zwei glühenden Augen durch den Schein der Taschenlampe.
„Mistviecher.“, brummte Jansen leise. Katzen wurden heute sogar in der Zone seltener.
Schließlich erreichten sie die oberste Treppenplattform. Eine der Wohnungstüren stand offen und mattes Licht drang aus einem hinteren Raum. Im Rahmen zeichnete sich gegen das Licht eine menschliche Gestalt ab. Ihre Züge waren noch nicht zu erkennen, aber dort, wo eigentlich das rechte Auge sein sollte, funkelte es grünlich wie die Augen der streunenden Katze eben.
„Das hat aber lange gedauert.“, sagte eine Frauenstimme, anscheinend an Jansen gerichtet. Martin horchte auf.
„Sorry, Cheffin.“ Jansen wies mit ihrer Taschenlampe hinter sich. Wahrscheinlich war es Absicht, dass sie ihm für eine Sekunde direkt in die Augen strahlte. „Martin Grenger von der Unionsgarde und sein“, sie hob die Stimmlage „forensisches Team.“
Dann leuchtete sie nach vorn auf die Gestalt. Martin fühlte seine Miene erstarren. Wie zum Teufel...?
„Na schön, Tasha. Sie können wieder nach unten, es sei denn, sie wollen es sich unbedingt noch einmal ansehen. Mit der Garde werde ich schon allein fertig.“
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jansen nickte.
„War mir eine Freude, Herr Grenger.“, sagte sie und schob sich an ihm und den drei Maskierten vorbei. Martin wartete, bis ihre Schritte im Erdgeschoss verklungen waren.
Er trat an die Tür und sagte mit rauer Kehle: „Du.“
Es klang wie ein Vorwurf. Es war ein Vorwurf.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Martin.“, gab Iselle Lacourt mit einem nonchalanten Lächeln zurück.
„Was zur niedrigsten Hölle machst du hier? Du hast gesagt, du würdest nach Helsinki gehen!“
„Ich habe mich umentschieden.“
Er biss die Zähne zusammen. Sollte das etwa heißen...?
„Soll das heißen, du hast das Angebot des Nordic Star nie angenommen? Du warst die ganze Zeit hier, in Berlin?“
Sie stieß sich vom Türrahmen ab und richtete einen schwarzlackierten Fingernagel auf ihn. Der grüne Glanz ihres biotechnischen Katzenauges bohrte sich in ihn.
„Vor deiner Nase, Herr Unionsgardist. Chefermittlerin und Tatortspezialistin beim Grünen Bären.“
Martin war nahe dran, die Fassung zu verlieren. Er war zwar im letzten Jahr überall in der Union unterwegs gewesen, aber die meiste Zeit hatte er sich natürlich in der Exilhauptstadt aufgehalten, wo er regelmäßig mit den Teddys zusammengearbeitet hatte. Das war einfach unfair. Abscheulich unfair.
„Und?“, fragte Iselle, bevor er sich zu einer Antwort zusammengerauft hatte. „Willst du dann auch hereinkommen? Ich nehme doch an, du bist dienstlich, wenn du schon drei militärische H-Waffen mitbringst.“
Er zog eine kurze Grimasse und gab seinen Schützlingen über die Schulter ein Zeichen.
„Ist das derart offensichtlich?“, fragte er murmelnd, als er Iselles blondem Haarschweif in die alte Wohnung folgte.
„Ich bitte dich!“, meinte sie, ohne sich umzudrehen. „Das ist so offensichtlich wie der Sattelitencrash. Es wäre kaum deutlicher, wenn du jedem dieser Dinger einen Zettel Human Weapon Construct aufklebst. Darf die Union so was nach dem Alpenabkommen überhaupt noch besitzen?“
„Nein.“, gab Martin zu. „Es ist vollkommen illegal. Und wenn die Afroarabs oder die Amerikaner dahinter kommen, dann wird das Alpenabkommen hinfällig und der Krieg geht wieder los.“
„Oh.“ Sie drehte kurz den Kopf, aber nur um kurz auf den militärischen Klontripel zu blicken, der ameisengleich hinter ihm her schritt. Ihr Katzenauge funkelte. „Sehr gut.“
Das Innere der Wohnung sah kaum besser aus als das Treppenhaus. Im halbdunklen Zwielicht waren Tapetenfetzen, Putzkrümel und Spinnweben kaum zu unterscheiden. Das Wohnzimmer war bis auf eine zerschrammte Schrankwand voller Staub und eine billige, trübe TV-Folie an der Wand fast leer. Auf dem Boden verteilt standen leere Konservendosen, ein kleiner Gaskocher – die C-Zone bekam schon seit Jahrzehnten keinen Strom mehr – und einige leere Bierflaschen. Solche wilden Behausungen gab es zu Tausenden in diesen Gegenden, legal oder illegal, das machte keinen Unterschied mehr. Wer unter eine Einkommensgrenze von einhundert Euro pro Monat sank und damit zum C-Bürger heruntergestuft wurde, verlor neben fast allen Bürgerrechten auch das Recht, eine Wohnung in A- oder B-Gebieten zu beziehen (Wie sollte er das auch bezahlen?). Das bedeutete adios Strom, adios sicherer Netzzugang, adios Wasser und Klo.
Daher kam wohl ein Teil des Geruchs, aber der andere Teil war bedeutend schlimmer. Martin kannte ihn schon jahrelang. Es war nicht der normale Verwesungsgeruch, sondern etwas subtileres, schwächeres. Der Prozess war viel schneller und vor allem gründlicher.
Iselle deutete auf den Durchgang zum Schlafzimmer, von wo der grelle Lichtschein von Halogenstrahlern und der säuerliche Geruch kamen.
„Da drin.“, meinte sie und klang auf einmal sehr ernst. „Ich gebe ehrlich zu, so etwas habe ich noch niemals in meinem Leben gesehen. Aber deshalb bist du ja wahrscheinlich hier.“
Martin nickte und trat an ihr vorbei in den Raum. Iselle folgte ihm. Das einzige Fenster war mit Papier abgedichtet, aber der Raum wurde von mehreren tragbaren Scheinwerfern erleuchtet. An der Wand stand ein antikes Metallbett mit Matratze. Es gab keine Bettwäsche sondern nur einen schmuddeligen Schlafsack und darauf...
„Das Mordopfer.“, sagte Iselle.
„Nein.“ Martin schüttelte den Kopf. „Da genau liegt das Problem. Das hier ist nicht die Leiche des Opfers, sondern die des Mörders.“
Das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos war durch die polarisierte Fensterscheibe kaum noch wahrzunehmen. Er saß allein an einem Tisch und die geschmeidige Oberfläche des Silikonformsessels schmiegte sich eng an seinen Körper. Vor ihm standen die Hinterlassenschaften einer opulenten Mahlzeit. Ein kleiner Spinnenroboter war bereits dabei, Teller und Besteck vom Tisch zu räumen. Er fragte sich, wieso er sich er sich gerade dieses Schickeria-Restaurant in der Friedrichsstraße ausgesucht hatte. Natürlich würde ihn hier keiner vermuten, aber trotzdem fiel er in dieser Umgebung aus dem Rahmen. Geld hatte er sich besorgt – ein kleiner aber wirkungsvoller Raubüberfall in der B-Zone am Senefelderplatz, er hatte seinem Opfer risikolos und schnell das Genick gebrochen, bevor es auch nur den Taser heben konnte – aber noch hatte er sich keine neue Kleidung besorgt. Die aktuelle Mode in der Union orientierte sich zur Zeit an hautengen, Tierhäute imitierenden Klimapolymerstoffen, über denen man weite ,halbdurchsichtige Tuniken gegen die sommerliche Treibhaushitze trug. An der Bar (Das Restaurant hatte sich sogar einen echten Barkeeper geleistet) saß eine ganze Meute von angetrunkenen Jugendlichen aus gutem Hause, die auf lächerliche Art und Weise an eine Kreuzung zwischen menschlichem Leopard und römischen Senator erinnerten. Seine zerschrammter Mantel aus Synthobaumwolle passte hier nicht herein. Glücklicherweise waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um wirklich Notiz von ihm zu nehmen. Er war fertig, deshalb strich er mit dem neuen Bankchip über den Tischprozessor und verschwand nach draußen in die nichtklimatisierte Nacht.
Auf der Friedrichstraße war Tag und Nacht Betrieb. Als angesagteste Einkaufsmeile der Hauptstadt war zum größten Teil sogar die historische Fassade aus der Zeit der Jahrtausendwende erhalten geblieben, man hatte sogar erwogen, den Grünen Bären zu bitten, nur noch berittene Streifen hier her zu schicken. Nur die allgegenwärtigen Holo-Reklamen und die silberne Nadel des Finnlux-Towers im Hintergrund störten das Bild. Über den frisch gesetzten Palmen des Grünstreifens zwischen Fahrbahn und Fußweg schwebte ein News-Globe, der gerade Bilder einer startenden Iduna-Trägerrakete zeigte, die neuesten Bemühungen der CUSA das gecrashte globale Sattelitennetz wiederaufzubauen.
Er musste nicht lange nach einem Kleidungsgeschäft suchen und nach einem kurzen Besuch in einer öffentlichen Hygienezelle sah er nicht mehr wie ein Eindringling in einer fremden Welt aus. Er trug jetzt eine jetzt eine hellgraue Kombination, die einerseits genug Faltenwurf besaß, um nicht vollkommen aus der Mode zu fallen, und andererseits durch einen hohen Kragen die verheilende Narbe in seinem Nacken zu verdecken. So würde sein Geld zwar nicht allzu lange reichen, aber er war trotzdem guter Dinge, während er zwischen all den Menschen durch die Innenstadt streifte. Er war satt und besaß nun genug Reserven, um den Wechsel zu vervollkommnen. Mit jeder Minute fühlte er sich wohler in seiner Haut und er spürte, dass der Körper bereits begann, spezielle Drüsen und Erweiterungen zu produzieren. Außerdem waren seine Verfolger weit entfernt und die Chancen standen gut, dass sie seine Spur bereits verloren hatten.
Man konnte den Anblick der Leiche nur ekelerregend nennen. Der Körper sah aus, als wäre er aus schmelzendem Wachs gemacht, unter dem ständig eine Flamme brannte. Die Haut hatte sich bereits fast vollständig zersetzt und auch das Fleisch schien sich aufzulösen. Besonders das Gesicht bot einen Anblick des Grauens. Die ehemals menschlichen Züge zerliefen über den Schädelknochen und tropften als trüber, klumpiger Schleim auf den Schlafsack und das Bett. Die Reste der Augäpfel dümpelten eitrig in dunklen Höhlen und aus dem halboffenen Mund, kaum noch mehr als Zähne und grotesk verdrehte Kieferknochen, troff es rötlich. Sogar die Haare schienen sich zu zersetzen. Durch das durchfeuchtete Hemd zeichneten sich schon die Konturen der Rippen an und aus der Hose liefen rotzähnlich verflüssigte Organe. Ein Arm ragte über die Bettkante hinaus. Er war bereits skelettiert, nur noch wenige Reste durchscheinenden Gewebes hing daran. Noch während Martin hinsah, fiel ein Fingerknochen ab und platschte weich in die klebrige, säuerlich riechende Pfütze von Proteinplasma, die sich unter dem Bett gebildet hatte.
Er wandte sich ab und sah zu Iselle, die zwar bleich wirkte, sich aber trotzdem unter Kontrolle hatte. Sie blickte noch immer auf die Leiche. Martin wusste, dass sie mit ihrem Katzenauge noch viel mehr von dem pervers beschleunigten Zersetzungsprozess mitbekam und er beneidete sie nicht dafür. Unfreiwillig fing er wieder an, sie für ihre Kaltblütigkeit vorne an der Tür zu bewundern immerhin hatte sie schon vorher, das hier gesehen. Er hatte in einer Ecke des Raumes einen Haufen Erbrochenes gesehen, der von den Teddys stammen musste, die zuerst hier gewesen waren. Vielleicht war es ja sogar von Jansen.
Iselle blickte zu ihm aus. „Und deshalb bist du hier.“, sagte sie ruhig.
Martin nickte. Sie ließ es zu, dass er sie an der Schulter fasste und zurück ins Wohnzimmer ging, wo die drei Klone warteten.
„An die Arbeit!“, befahl er. „ Ich möchte ein vollständiges Screening und Scanning. Wenn ihr einen Profilvergleich und eine Radiogenanalyse gemacht habt, stoppt ihr die Zersetzung und räumt den Schlamassel weg. Und beseitigt alle Spuren.“ Er bemerkte Iselles Blick und ignorierte ihn. „Zwanzig Minuten, maximal. Und Gamma, lass mir den DNA-Scanner hier! Also los.“
„Jawohl, Sir.“, schnarrten die schwarzen Klone aus den Lautsprechern ihrer Gesichtsplatten. Gamma stellte einen Koffer vor Martin ab und sie verschwanden im Nebenzimmer.
„Mon dieu, sie können ja sprechen!“, bemerkte Iselle ironisch.
„Ja.“, meinte Martin düster. „Sie tun es nicht oft und sie sind keine guten Sänger, aber sie können sprechen.“
„Als du vorhin sagtest, es sollten alle Spuren beseitigt werden...“
Er winkte ab. „Meinte ich weder dich noch jemanden von deinen Leuten. Für sie wird es eine glaubhafte Erklärung geben und du wirst hiermit der Garde bestätigen, dass du dich der Unionsverordnung Zweiunddreißig Strich Acht Absatz Fünf unterwirfst und mit niemandem außer uns über das sprechen wirst, was ich dir jetzt erzähle.“
Sie kniff das grüne Auge mit der geschlitzten Pupille zusammen und presste nach kurzem Zögern ihren Daumen auf die Datenfolie, die Martin ihr hinhielt.
„Ich habe den Verdacht, es wird mir nicht gefallen, was ich gleich höre.“
Martin öffnete die Kiste und entnahm ihr einen tragbaren DNA-Scanner. Er stöpselte dessen Kabel in den Netzkontakt hinter seinem Ohr ein und schaltete das Gerät in den Trace-Modus. Ein grelles Falschfarbenbild legte sich über sein Sichtfeld und virtuelle Schemen zuckten über die Zimmerwände, als der Scanner begann, nach brauchbaren Gewebespuren zu suchen.
„Ist dir das Wort Inkubus ein Begriff.“
„Ein Dämon aus dem Mittelalter, wieso?“
„Weißt du, was er tut?“
„Was soll er tun? Er ergreift des Nachts Besitz von den Träumen schwindsüchtiger Frauen in langen weißen Nachthemden oder so. Was hat das...“
„...Mit dem Mord zu tun? Ziemlich viel. Nein, warte, ich bin über die Jahre nicht abergläubisch geworden. Inkubus ist der Codename für eine H-Waffe.“
Sie schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. Martin machte sich daran, das Kochbesteck zu untersuchen.
„Sie wurde während des Rush entwickelt, in Brüssel, als der Zweite Mahdi schon an der Donau stand und man in der Union nervös wurde. Inkubus ist ein biotechnisches Konstrukt auf der Basis menschlicher DNA. Ein mobiles, invasives Nervennetz mit erweiterten RNA-Komponenten. Es sollte auf den Zweiten Mahdi und seine arabischen Bundesgenossen losgelassen werden.“
„Inoffizielle Attentäter.“, murmelte Iselle.
„Nein.“, widersprach Martin. Er legte gerade die Gabel beiseite. Es waren keine ausreichenden Speichelreste vorhanden. Wie hatte der Kerl so etwas angestellt, ohne Wasser? „Kurz gesagt, es übernimmt den gesamten Körper einer Person. Es betäubt sein Opfer mit organischen Giftpfeilen und beginnt mit dem Transfer. Hast du den Hals der Leiche gesehen? Es ist noch der Rest der bioneuralen Brücke zu sehen. Sie wird dem neuen Wirt in den Nacken injiziert, direkt in das Rückenmark. In knapp einer Stunde ersetzt Inkubus dann das gesamte zentrale Nervensystem und lässt nur das vegetative System unangetastet. Das heißt, Inkubus transferiert sich vollständig in einen neuen Körper. Ist das getan, stirbt der alte Wirt innerhalb von einer Minute. Damit keine Leiche zurückbleibt, wird im gesamten Körper ein Hyperenzym freigesetzt, das sämtliches Körpergewebe in weniger als drei Stunden vollständig verflüssigt.“
„Willst du damit sagen, dass genau das mit dem Kerl da drin passiert?“
„Ja, Genau.“ Der Scanner piepte und ein vergrößerter Umriss blinkte auf. Martin brummte befriedigt und schaltete auf Scan. Er presste das Gerät auf einen schmutzigen Teller. „Noch anderthalb Stunden und das, was wir gefunden hätten, wäre nicht mehr zu gebrauchen gewesen.“
Iselle hob die Hände und nickte langsam. „Okay. Okay. Du, das heißt die Garde, ihr sucht eine außer Kontrolle geratene H-Waffe, die frei in der Welt herumläuft? Kannst du mir auch erklären, wie zum Teufel so etwas passieren kann?“
„Brüssel. Die Bombe. Es ging einiges drunter und drüber am Ende des Rush. Das Labor wurde zerstört und mehrere Inkuben kamen frei. Das ist natürlich nie publik geworden. Die verantwortlichen Politiker und die meisten beteiligten Wissenschaftler sind zwar verdampft, aber die übrigen Großmächte wären wahrscheinlich trotzdem nicht sehr erbaut darüber, dass die Union nicht nur eine menschliche Superwaffe entwickelt, sondern obendrein noch die Kontrolle darüber verliert.“
Der DNA-Scanner gab erneut einen Piepton von sich. Er suchte jetzt nach dem nächsten verfügbaren Netzknoten, um einen Vergleich mit dem Archiv des Innenministeriums und der Garde anzustellen. Via Sattelit hätte er das Ergebnis in wenigen Sekunden gehabt, aber für die wenigen neuen Kapazitäten, die man wieder in den Orbit geschossen hatte, war die Priorität nicht hoch genug.
„Moment mal.“ Iselle runzelte die Stirn und trat einen Schritt näher an ihn heran. Aus dem Schlafzimmer waren feucht schmatzende Geräusche zu vernehmen. Die Klone mussten dabei sein, die Reste der Leiche einzupacken. „Hast du eben gesagt, es gibt mehrere von diesen Dingern? Die frei herumlaufen?“
Martin schloss eine Datenfolie an den Scanner an und trommelte ungeduldig auf dessen Gehäuse.
„Das ist ein wenig komplizierter.“, sagte er ohne aufzusehen. „Im Brüsseler Labor waren zehn Exemplare gezüchtet worden. Eingefangen haben wir in den vier Jahren insgesamt sechsunddreißig.“
„Was?“
„Sie vermehren sich und wir haben keine Ahnung wie. So weit wir wissen, war das in ihrem genetischen Plan nicht vorgesehen. Und keins von den gefangenen Exemplaren besaß Anlagen, die es dazu befähigen würden.“ Er stockte und blickte auf die Datenfolie. „Scheiße.“
Iselle trat hinter ihn und schaute ihm über die Schulter. Er spürte ihren Atem an seinem Ohr.
„Du willst die Identität des neuen Wirtes feststellen, bekommst aber keine Daten.“
Auf der Folie blinkten rote Buchstaben. Datei nicht gefunden. DNA unbekannt. In Crash und Rush verlorengegangen und nicht wieder hergestellt, wie bei so vielen Bewohnern der Zone. Sie waren noch nicht mal mehr als Bürger der Kontinentalen Union registriert. Nicht dass es für den Betreffenden einen großen Unterschied gemacht hätte, aber jetzt hatte Martin ein echtes Problem.
„Verdammt, verdammt.“, knurrte er und schmiss den Scanner zurück in den Koffer. „Ich war so nah dran! Aber wenn ich nicht weiß, mit wessen Gesicht er durch die Gegend läuft, nutzen mir alle Überwachungskameras der ganzen Union weniger als ein feuchter Furz.“
Es gab ein Geräusch aus Richtung der Schlafzimmertür. Martin wirbelte missmutig herum und sah, wie die Klone die Kiste mit der Leiche und die übrige Ausrüstung hinausschleppten. Sie stellten den Fast-Sarg inmitten der Scheinwerfer ab. Gamma drehte sich im Rahmen um, zog eine kleine Flammenkapsel aus dem Gürtel und warf sie in den Raum zurück. Ein dumpfes Zischen und ein greller Blitz, gefolgt von einem heißen Windhauch, dann hatte der druckwellenarme Feuerball sein Werk getan. Spezielle Chemikalien sorgten dafür, dass die kreisförmig um das geschwärzte Bettgestell züngelnden Flammen binnen weniger Sekunden verlöschten.
Alpha hielt Martin ein Datenfolie hin. „Wir sind fertig, Sir. Ihr Bericht.“
Er brummte und überflog kurz die Ergebnisse.
„Genrückstände mit der Signatur von Nummer 8. Eines von den Originalen. Und dieselbe DNA wie bei dem Chipbetrug. Tja, jetzt wissen wir wenigstens, dass wir auch den Richtigen fast bekommen hätten. Nicht wahr, Iselle?“
Erst jetzt bemerkte er, dass sie sich überhaupt nicht für das Geschehen interessierte. Sie richtete einen der Scheinwerfer auf die alte Schrankwand und beugte ihren Kopf über eines der Fächer. Sie untersuchte mit ihrem Katzenauge die Haufen von Dreck und Staub, die sich dort angesammelt hatten.
„Was machst du da eigentlich?“, wollte er wissen.
Wie zur Antwort streckte Iselle eine Hand aus und griff ein staubiges Etwas. Sie pustete kräftig und verursachte einen Mini-Staubwirbel, der sich durch die Lichtstrahlen wälzte. Das Etwas in ihrer Hand glänzte jetzt metallisch.
„Vielleicht ist heute dein Glückstag, Herr Unionsgardist.“, sagte sie und ihr Lächeln strahlte fast mehr als ihr grüner Blick.
Der Tiergarten war eine der wenigen stillen Ecken in der Berliner Innenstadt geblieben. Und trotzdem seine Fläche in den letzten fünfzig Jahren um beinahe die Hälfte geschrumpft war, kostete er die Stadt stetig mehr und mehr Geld. Um die ursprünglichen mitteleuropäischen Pflanzen zu erhalten musste das ganze Jahr über zusätzliches Wasser aus der neuen Spree entnommen werden. Wegen der Nähe zum Regierungsviertel wurde das zwar von der Unionsregierung als Vorzeigeprojekt bezuschusst, aber im Stadtrat mehrten sich die Stimmen, die meinten, dass Dattelpalmen und Aloebüsche doch auch wunderschöne Pflanzen waren.
Er saß allein auf einer Parkbank gegenüber einer großen Kastanie, die sich als mächtiger Schatten gegen die diffusen Lichter des Potsdamer Platz abzeichnete, und dachte nach, was er weiter tun sollte. Die Anpassung an diesen Körper war schon fast perfekt, seine Reflexzeit war auf ihren Normalwert gesunken und seine biologischen Extras befanden sich in der fortgeschrittenen Wachstumsphase. Bald würde er andere Menschen mit mikroskopischen, vergifteten Knochenpfeilen aus seinen Handrücken schachmatt setzen können. Damit könnte er sich auf absehbare Zeit recht gut als Dieb durchschlagen. Aber selbst in der heutigen Zeit, wenn sich solche Fälle häuften, dann würden früher oder später die Behörden oder ein Sicherheitsdienst aufmerksam werden.
Zwei schemenhafte Figuren schlurften in der Dunkelheit vorbei. Im Licht der Laterne erkannte er eine zerlumpte Frau mit mehreren Plastiktüten auf dem Rücken und an der Hand ein vielleicht sechsjähriges Kind mit großen Augen und von der Dunkelheit geweiteten Pupillen. Als sie ihn erblickte, stieß die Frau einen erstickten Schrei aus und zog das Kind raschelnd in das nächste Gebüsch. Der Tiergarten war als Übernachtungsplatz für C-Bürger nicht zugelassen. Sie hatte wohl Angst, er würde eine Streife verständigen.
Beim nächsten Wechsel würde er sich nicht mehr mit jemanden aus der Gosse begnügen. Beim letzten Mal hatte er keine Wahl gehabt, aber auf lange Sicht musste er versuchen, sich eine sichere und einflussreichere Position zu verschaffen. Er kicherte bei dem Gedanken, den Hochkommissar des Kontinentalen Konzils oder ein Mitglied der Unionsregierung zu übernehmen. Wunschdenken, sie wurden zu gut bewacht. Aber an einen mittleren Beamten sollte schon heranzukommen sein.
Hinter seinem rechten Ohr juckte es leicht. Er rieb mit einem Finger hinter der Muschel. Er wusste, dass bestimmte Teile seines Innenohrs sich veränderten, um sein Gehör zu verbessern, aber davon hatte er bisher kein einziges Mal ein Jucken verspürt. Er tastete an der Haut und fand eine winzige Auswölbung, irgend etwas zwischen Knochen, Knorpel und Haut. Vielleicht war dieser Körper schlechter in Schuss, als er gedacht hatte. Wer weiß schon genau, was für Parasiten sich in den Ruinen herumtrieben. In der nächsten Hygienezelle würde er genauer nachschauen.
Er stand auf und folgte dem nächsten Weg.
Der schwarze Helikopter jagte durch den nächtlichen Himmel über der Stadt. Durch die offenen Seiten waren die bunten Lichter und Schemen Berlins zu erkennen, Straßenschluchten glitten unter ihnen hinweg wie die glitzernden Wellenkämme eines Ozeans. Südlich waren die altehrwürdigen Mauern der Museumsinsel angestrahlt, dahinter der weiße, kreuzförmige Palazzo des Exilvatikans und der alte Fernsehturm. Die Maschine legte sich in eine weite, anmutige Kurve. Das Schwirren der Rotoren bildete eine beachtliche Geräuschkulisse, die Martin verzweifelt zu übertönen versuchte.
„Jawohl Sir, eine Sattelitenortung!“, brüllte er in sein Helmmikrofon.
Auf der Datenfolie seines Handys blickte ihn ein schnauzbärtiges Gesicht entgegen, die Augen in leichter Missbilligung des Lärms zusammengekniffen.
„Wie soll ich das denn verstehen?“, erklang die leicht nasale Stimme von Abteilungsleiter Vladislav Hertzen in seinen Ohren. Das Bild dazu zeigte, dass Martins Vorgesetzter die rechte Seite seines Mundes beim Sprechen mehr bewegte, als die linke. Niemand hatte bis jetzt herausgefunden, wieso. „Das zivile EPS wird frühestens in drei Jahren wieder einsatzbereit sein, Grenger. Selbst wenn ich will, kann ich ihren Inkubus nicht orten lassen.“
„Doch, das können sie!“, widersprach Martin. Er zog die zerkratzte, aber mittlerweile staubfreie Marke, die Iselle in der Wohnung gefunden hatte aus der Tasche und hielt sie in den Kamerabereich des Handys. „Francesco Viattore, der aktuelle Wirt von Nummer 8, war bei der Euro Force, Fallschirmjägerdivision 97. Er hat an der Sizilien-Operation teilgenommen und überlebt.“
In der frühen Phase des Rush hatten die Streitkräfte der Union versucht, in einer überraschenden Gegenoffensive den Brückenkopf der Afrikaner zurückzuerobern. Da es sich dabei um ehemaliges Uniongebiet handelte, musste man sich dabei auf konventionelle Angriffe beschränken, auch Vergeltungsschläge gegen afrikanisches oder arabisches Territorium wären sinnlos gewesen – dort war nicht mehr viel kaputt zu machen, außer den Klimakuppeln einiger durchgeknallter Scheichs, welche die NASA eigentlich für den Mond konzipiert hatte – also kamen Haufenweise Fallschirmjäger zum Einsatz. Das Unternehmen scheiterte kläglich. Der Zweite Mahdi feierte einen seiner größten Siege, denn nicht mal die Hälfte der europäischen Soldaten konnten sich von der Insel retten.
„Er war einer von fünf Überlebenden seiner Division. Sie wurde aufgelöst und er wurde wegen eines Traumas entlassen. Seine Daten haben sich mit der gesamten Invalidendatei in Brüssel verabschiedet und er wurde bei der Zwangsabrüstung nicht wieder erfasst, deshalb war für uns nichts verfügbar.
Was aber wichtiger ist, Sizilien war vor dem Crash. Damals bekam noch jeder Soldat eine Ortungsmarke für das Sattelitensystem hinter das Ohr. Wenn er die noch hat und die Chancen stehen ganz gut dafür, dann kriegen wir ihn. Die Euro Force hat doch kein Jahr nach dem Abkommen ein provisorisches Militärsystem nach oben geschossen.“
Hertzen zupfte an seinem Schnauzbart.
„Das geht eigentlich über meine Befugnisse. Dazu müsste ich den Verteidigungsminister erst bitten...“
„Sir, bitte.“, fiel ihm Martin ins Wort und dachte zähneknirschend an die Folgen, sich bei seinem Chef unbeliebt zu machen. Er konnte diesen Mann, der als erster darauf bestanden hatte, dass seine Mitarbeiter bei der Anrede das in einer Unionsrichtlinie eingeführte englische Sir benutzten, auf den Tod nicht leiden. Aber es ließ sich nun mal nicht vermeiden. „Je länger wir warten, desto wahrscheinlicher wird es, dass er uns mit einer neuen Übernahme zuvorkommt. Oder er entdeckt das Implantat. Kennen sie keinen schnelleren Weg?“
Der Abteilungsleiter schwieg einen Moment. Nur das Geräusch des Helikopters klang in Martins Ohren. Er schaute kurz auf die gegenüberliegende Sitzbank, wo Iselle mit gebührenden Abstand neben den drei schwarzen Klonen saß. Sie hatte schon vor dem Start mit dem Hauptquartier des Grünen Bären gesprochen. Die Teddys warteten nur noch auf einen Ort. Unter dem Helm, der ihr etwas zu groß war, blickte sie ihn fragend an. Er zuckte die Schultern.
„Na schön, Grenger.“, tönte es auf einmal aus seinem Helmlautsprecher. Auf der Folie richtete Hetzen einen Finger in seinen Richtung. „Auf ihre Verantwortung. Wehe, es wird nichts. Dann komme ich nämlich in Erklärungsnöte und das hieße, dass sie ein ziemliches Problem hätten. Nach welchem Code sollen wir suchen?“
Martin seufzte erleichtert. „Danke, Sir.“ Er gab Hertzen den zehnstelligen Code der Marke durch. Dann bereitete er sein Handy für den Datenempfang vor und sprach kurz mit dem Piloten. Als er damit fertig war, lehnte er sich an die Rückwand. Er zeigte Iselle einen nach oben gerichteten Daumen. Sie lächelte. Im Fahrtwind hatte sich eine blonde Haarsträhne unter dem Helm hevorgestohlen und wehte über ihr Gesicht. Martin bedauerte, dass dies kein Umfeld für ein Gespräch war. Er hatte diesen Anblick vermisst.
Am Großen Stern tummelten sich auch spät des Nachts noch Touristengruppen. Sogar ein Paar spanische Mullahs standen andächtig vor der fünfzig Meter hohen Säule aus Polykristall in der Mitte des großen, runden Platzes. Die Säule wurde von allen Seiten mit Flutlicht angeleuchtet und man konnte deutlicher als bei Tage die angesengten Fahnenreste und verbogenen Stangen erkennen, die in das verstärkte Glas eingegossen waren wie Insekten in Bernstein. Diese dicke Glasschicht schützte zugleich auch die Besucher vor der Reststrahlung der offiziellen Insignien der Union, die man aus dem radioaktiven Krater von Brüssel gezogen hatte. Auch einige Brocken des Denkmals zum zehnjährigen Bestehen der Kontinentalen Union waren dabei. Auf halber Höhe bildeten glimmende, goldene Ziffern die anklagende Zahl 649 374.
Er schlenderte langsam über die weite freie Fläche, der Große Stern war schon seit Ewigkeiten eine Fußgängerzone. Sein Ziel waren die Hygienezellen auf der gegenüberliegenden Seite. In der Luft nahm er das Geräusch eines Helikopters wahr, eigentlich noch unter der menschlichen Hörschwelle. Die Tourismuskonzerne bekamen wohl nie den Hals voll, auch in der Nacht noch Sightseeingflüge zu veranstalten. Gemächlich ging er einigen Japanern aus dem Weg, die eifrig mit ihren Holo-Kameras zu Gange waren.
Das Rotorgeräusch kam näher. Auf einmal fühlte er sich nicht mehr sicher, ein mulmiges Gefühl in seinem Inneren. Er wusste nicht, ob es in seinen Genen lag, aber Intuition hatte ihn mehr als einmal gerettet. Er sah zum Himmel, konnte aber keine Positionslichter sondern nur einen größer werdenden Schatten erkennen. Das war nicht gut. Er beschleunigte seine Schritte. Auf einmal bemerkte er die Scheinwerfer der Autos, die aus mehreren Richtungen auf den Platz zufuhren. Seine verbessertes Augenlicht erkannte sie sofort. Grüner Bär. Sie hatten ihn in der Falle. Sie wollten ihn einkesseln.
Er wirbelte herum und rannte auf die dunklen Bäume des Tiergartens zu. Der Helikopter war nun sehr deutlich zu hören. Er spürte schon einen Luftzug im Nacken und hörte erstaunte Ausrufe von den Touristen.
Wie hatten sie ihn gefunden? Er warf einen hastigen Blick über die Schulter. Die Autos der Teddys fuhren mit quietschenden Reifen auf den Platz und drehten sofort in seine Richtung, als wüssten sie augenblicklich, wo er war. Er sprintete über ein Blumenbeet und warf sich gegen das Unterholz. Äste und Zweige schabten an seiner Kleidung und zerkratzten sein Gesicht, aber er achtete nicht darauf. Er schob sich vorwärts und wich tiefhängenden Blättern aus. In der Luft war nur noch der Lärm des Helikopters, übermächtig und bedrohlich, deshalb war er sich nicht sicher, ob er hinter sich Verfolger durch das Gebüsch krachen hörte. Die Blätter der Bäume raschelten wild von der Luft, die auf sie herabgesaugt wurde.
Abrupt brach er auf eine Lichtung hinaus. In der Dunkelheit erkannte er eine weite Rasenfläche mit einer absurden Skulptur in der Mitte. Er sog Luft in seine Lungen, schlug einen Haken und rannte aus Leibeskräften. Dem Sturmwind nach zu urteilen, der versuchte ihn zu Boden zu drücken, musste die Maschine jetzt direkt über ihm sein.
Scheinwerfer flammten auf und blendeten seine Nachtsicht. Die wenigen Zehntelsekunden, die seine Augen benötigten, um sich an die Helligkeit anzupassen rannte er blind und orientierte sich nur an dem Bild in seiner Erinnerung. Der nächste Waldrand war noch etwa fünfzig Meter entfernt. Viel zu weit. Eine Stimme von oben schrie ein Kommando und kurz darauf vernahm er drei dumpfe Aufschläge rechts und links von ihm. Schwarze Schemen rollten geschmeidig auf dem Boden ab und kamen unglaublich schnell auf die Beine, nur wenige Meter hinter ihm. In ihm begann ein Nerv zu kribbeln. Das waren keine normalen Menschen.
Er warf die Arme nach hinten und krampfte die Hände zu Fäusten zusammen. Ohne an Geschwindigkeit zu verlieren drehte er leicht den Kopf und peilte aus den Augenwinkeln. Aus seinen Handrücken zuckten winzige Giftnadeln auf zwei der Gestalten zu. Als sie zwei Sekunden später noch nicht einmal langsamer geworden waren, wusste er, dass es nicht funktioniert hatte. Anstatt sich in Muskelkrämpfen zu winden, hatten sie ihn fast eingeholt.
Wenn sie auf einen Kampf aus waren, konnten sie den auch haben. Seine Zusatzadrenalindrüsen schütteten eine volle Dosis in sein Blut aus. Gleichzeitig spannte er zehn kleine, modifizierte Muskeln in den Fingerspitzen an und unter seinen Nägeln traten skalpellartige, gehärtete Klauen hervor. An ihnen klebte ebenfalls ein Nervengift. Er scherte nach rechts aus und wollte sich auf den schwarzen Schatten stürzen, aber der wehrte den unmenschlich schnellen Angriff genauso unmenschlich schnell ab und seine Krallen kratzten nur noch zaghaft über eine glatte Biomec-Membran. Er brüllte vor Enttäuschung und Zorn. Das nächste, was er sah, war dass die Gestalt einen taschenlampengroßen Zylinder in der Hand hielt, die Mündung auf seine Brust gerichtet. Er versuchte auszuweichen, aber es war zu spät. Ein weißer Strahl schoss aus dem Ding und der unglaublich harte Schlag hätte ihn bestimmt umgeworfen, wären nicht zwei identische aus anderen Richtungen gekommen. Der Strahl löste sich in eine vieltausendköpfige Hydra auf, die ihn von allen Seiten umschlang. Er konnte seinen Oberkörper nicht mehr bewegen. Benommen setzte er noch mechanisch einen Fuß vor den anderen, bis die weißen Fäden ihm auch die Beine wegriss. Er schrammte hart mit der Wange auf das Gras und rutschte noch einige Meter. Er war imstande, den Schmerz auszublenden, aber er spürte trotzdem, wie sich sein Mund mit Blut füllte. Überall lastete ein lähmender Druck auf seinem Körper. Hilflos sah aus dem Augenwinkel, wie einer seiner Bezwinger – auf seiner Brust prangte ein kleines Alpha – sich zu ihm herunterbeugte und ihm etwas kaltes an den Hals drückte.
Ein Brennen, ein Wirbel, dann Dunkelheit.
Das grelle Scheinwerferlicht spiegelte sich als funkelnder Reflex des Triumphs in Martins Augen. Gerade hatte er Hertzen die frohe Botschaft mitgeteilt und beobachtete nun mit erschöpfter Genugtuung, wie die drei Gardeklone den Inkubus herbeitrugen.
„Ich gebe zu das war beeindruckend.“, rief Iselle über das auslaufende Rotorengeheul. „Ihr setzt H-Waffen gegen H-Waffen ein. Wie viele von diesen Klontripeln besitzt die Garde denn noch?“
„Europaweit? Sechsundvierzig, glaube ich.“
„Es ist wirklich ein Wunder, dass wir den Krieg verloren haben.“
Mehrere Leute des Grünen Bären standen mit gezogenen Taschenlampen nicht unweit der gelandeten Maschine und sperrten den Bereich gegen unangemeldete Besucher ab. Ihre Waffen hatten sie wieder weggesteckt, kurz nachdem sie schwitzend aus dem Tiergarten gekommen waren. Die Lage schien unter Kontrolle. Selbst Jansen hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten und auf bissige Bemerkungen wie „Da hat ihr forensisches Team aber gute Arbeit geleistet“ verzichtet. Wenn sie, wenn auch sicherlich nur kurzzeitig, eingeschüchtert war, dann sollte Martin das nur recht sein.
Der Inkubus sah aus, als wäre eine tollwütige Monsterspinne über ihn hergefallen – ein dichter Kokon aus Fangfasern umhüllte ihn von Kopf bis Fuß. Das Material war ursprünglich zur Erstabdichtung größerer Hüllenbrüche in der Raumfahrt entwickelt und, wie so vieles nach den jüngsten Ereignissen, zweckentfremdet worden. Die verkrustete Gestalt wurde vor Martin abgelegt wie der Sarkophag einer ägyptischen Königsmumie. Tatsächlich wirkte das Gesicht unter dem wuschligen dunklen Haar leichenhaft blass und eingefallen. Das Gesicht, dass sich der Inkubus gestohlen hatte, sah viel zu harmlos aus.
„Was habt ihr ihm gegeben?“, fragte Iselle die griechischen Buchstaben. Es war das erste Mal, dass sie diese direkt ansprach.
„Das kannst du vergessen.“, grinste Martin. „Sie sind ausschließlich auf meinen Sprachinput und den von ein paar anderen Gardisten konditioniert. Eine Frage der Sicherheit.“ Er wandte sich an seine Schützlinge. „Alpha, was hast du dem Ziel injiziert?“
Der Klon neigte fast unmerklich den Kopf. „NN 04. Drei Mikrogramm.“
„Das steht doch wahrscheinlich nicht im offiziellen Betäubungsmittelkatalog, oder?“
„No Nightmares Surrogat vier”, sagte Martin nicht ohne stolz. „Aus militärischen Beständen. Das Zeug ist überaus praktisch und außerdem stark genug um auf einen Inkubus zu wirken. Das heißt, der Kerl wird noch eine ganze Weile friedlich schlafen.“ Er sah seine Klone an. „Ihr könnt ihn jetzt transportfähig machen!“
„Ja Sir.“
Während die drei Sprühflaschen mit speziellen Chemikalien zur Auflösung des Fangfasergeflechts aus dem Helikopter holten, stapfte Martin los und hielt Ausschau nach Natasha Jansen. Er fand sie im Halbschatten neben der Skulptur, einem verzerrten metallischen Etwas, das schon an einigen Stellen Rost ansetzte. Sie sprach mit einem ihrer Untergebenen.
„... Ahnung, was seine Befugnisse angeht. Aber er scheint wichtig zu sein. Hast du noch gesehen, wie seine Schwarzen Männer diesen Typ geschnappt haben? Gespenstisch. Ich finde, wir sollten die Chefin...“ Sie brach ab, als sie ihn entdeckte. Martin hatte die Scheinwerfer des Helikopters im Rücken, deshalb musste sie gegen das Licht blinzeln. Sie gab dem Teddy neben ihr, der Martin respektvoll betrachtete einen Wink. „Ist gut, Frieders, ich werde mich darum kümmern.
Martin verfolgte aus den Augenwinkeln wie der Mann an ihm vorbeiging.
„Nun, Herr Grenger? Sie sind zufrieden?“ Jansen schenkte ihm ein Raubtierlächeln und wirkte trotz ihrer betont lockeren Haltung auf einmal genauso katzengleich wie Iselle manchmal.
„Ich bin zufrieden.“, rief Martin. „Der Grüne Bär hat so professionell gearbeitet wie immer. Ich bin eigentlich nur gekommen, um ihnen zu sagen, dass sie und ihre Leute Feierabend machen können. Die Lage ist vollständig unter Kontrolle. Wir haben unseren Bösen Jungen und kümmern uns auch gut um ihn.“
„Sie fliegen hier also ab, ohne uns zu verraten, wen wir hier eigentlich gefasst haben. Ich habe mich mal bei der Zentrale erkundigt und jemand, dessen Namen ich jetzt nicht nennen werde, hat für mich herausgefunden, dass es in Berlin in letzter Zeit mehrere von diesen perversen Morden gegeben hat. Der Typ dort“ – sie deutete in Richtung des Helikopters – „tatsächlich einiges mehr ist, als ein einfacher Chipbetrüger. Ich mag zwar noch kein alter Hase sein, aber ich habe trotzdem gelernt, meiner Nase zu vertrauen. Und die sagt mir, dass das hier ein ganz großer ist.“
Was du nicht sagst, dachte Martin. Wieso mussten selbst private Polizisten immer so neugierig sein? Konnte sie nicht einfach die Arbeit machen, die man von ihnen erwartete? Um neugierig zu sein war schließlich die Unionsgarde da. Und sie wachte recht eifersüchtig über dieses Privileg.
„Hören sie, Frau Jansen.“, sagte Martin. „Wenn ich mich vorhin nicht ganz klar ausgedrückt haben sollte, dann möchte ich das jetzt nachholen: Dieser Fall interessiert den Grünen Bären nicht mehr.“
Jansen verschränkte trotzig die Arme. „Ich finde, das sollte die Chefin entscheiden.“
Jetzt war es an Martin gehässig zu grinsen. „So, finden sie?“
Fünf Minuten später zog Jansen wortlos ab. Martin und Iselle beobachteten, wie die Teddys zwischen den dunklen Büschen verschwanden. Iselle machte keinen besonders glücklichen Eindruck.
„Ich sollte dich dafür hassen, dass du mich dazu überredet hast dieses Ermächtigungsgesetz Zweiunddreißig-was-auch-immer zu unterschreiben. Das wird mir Tasha nie verzeihen.“
„Wenn sie so weiter macht, dann hat Jansen sowieso keine große Zukunft vor sich. Du solltest deine Schäfchen ein bisschen besser behüten.“
Sie fuhr zu ihm herum und durchbohrte ihn mit einem grünen Blick.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr Unionsgardist.“, zischte sie und drehte sich zum Helikopter um. Die Klone hatten den Inkubus bis auf einige hartnäckige Krümel von den Fangfasern befreit und ihn auf einen der hinteren Sitze verfrachtet. Obwohl er in tiefer Bewusstlosigkeit schlaff auf dem Polster hing, waren seine Hände mit Handschellen gefesselt – nur zur Sicherheit. Iselle ging einige Schritte auf die Maschine zu, dann stoppte sie und blickte mit immer noch zusammengekniffenen Brauen zu Martin zurück.
„Was zum Teufel soll ich eigentlich noch hier? Wozu braucht die Garde mich?“
„Ganz einfach: Wir können es nicht ausschließen, dass noch weitere Exemplare in der Hauptstadt herumlaufen. Das heißt, es wäre sinnvoll für die Garde, eine Verbindungsfrau beim Grünen Bären zu haben, die über die Sache bescheid weiß. Und du weißt bescheid, deshalb...“ Er zuckte entschuldigend die Schultern und hoffte, dass es für sie einigermaßen plausibel klang. Und dass es für Hertzen einigermaßen plausibel klingen würde.
Iselle stemmte die Hände in die Hüften. „Aha. Und wohin soll denn die Reise gehen. Ich habe mir schon immer gewünscht, mit meinem Ex-Freund und vier H-Waffen, von denen eine ein Serienmörder ist zu Peter Pan ins Neverland zu fliegen.“
Martin seufzte. „Da bin ich mir sicher. Steig ein, darüber können wir während des Fluges reden.“
...
Dunkelheit.
Träge. Schwindelig.
Passiert? Lange? Wo?
Lärm. Summen. Heulen. Wind.
Verdammter Schmerz. Ganzer Körper. Hände gefesselt.
Musste nur warten. Gedanken wurden klarer. Hörte Stimmen über den Lärm.
Er war betäubt worden. Sie hatten ihn geschnappt und in einen Helikopter gesteckt, das Rotorengeräusch war unverwechselbar. Seine Nervenfasern fühlten sich noch immer an, als ob sie langsam in würziger Soße weichgekocht werden würden. Ganz abgesehen davon drückten ihm die Metallfesseln in die Handgelenke.
Langsam ließ das Brennen hinter seinen Augäpfeln nach. Er überlegte, ob er es riskieren konnte, die Augen zu öffnen. Irgendetwas stimmte nicht. Wieso waren nur seine Hände gefesselt? Anscheinend wussten sie doch, dass er gefährlich war. Vorsichtig, ohne den Kopf zu bewegen, hob das rechte Augenlid einen Spalt weit und wartete geduldig, bis sich die bunten Schlieren verzogen. Wahrscheinlich sah er jetzt das Innere derselben Euro Force-Maschine, die er in dieser Nacht schon zweimal gesehen hatte. Aller guten Dinge wahren schließlich drei. Verdammt.
Passend dazu saßen ihm gegenüber ein Mann in der Dienstuniform der Unionsgarde, eine Frau mit dem Grünen Bärenwappen und einer von diesen unheimlichen, schwarzbehelmten Typen, die in ihm dieses merkwürdige Kribbeln auslösten. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die beiden anderen links und rechts neben ihm saßen. Dahinter trennte ein blassrosafarbener Horizont die Lichter der Stadt vom dunstigen Himmel. Ein neuer Morgen begann durch den Berliner Smog zu dämmern.
Der Mann und die Frau unterhielten sich. Es war nicht einfach, sie zu verstehen, zumal auch das Summen in seinem Schädel nur langsam nachließ. Er strengte sein verbessertes Gehör an.
„Zut, Martin, ich würde mir ja sehr wünschen, dass das ein Scherz sein soll, aber dafür kenne ich dich leider zu gut.“
„Es war kein Scherz.“
„Das Pentagramm! Verdammt, ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal dort enden würde.“
„Du übertreibst schon wieder.“
Oh ja, die Frau mochte übertreiben, was sie selbst anging, aber für ihn war jetzt an der Zeit, sich die allergrößten Sorgen zu machen. Wodurch das Hauptquartier der Unionsgarde zu seinem prägnanten Namen gekommen war, würde wahrscheinlich ebenso ungeklärt bleiben, wie die letztendliche Antwort auf die Frage, wer die Bombe in Brüssel gezündet hatte. Manche sprachen von einem Vergleich mit der Machtposition des amerikanischen Pentagons, obwohl das originale Hauptquartier in der verpufften Hauptstadt eine gänzlich andere Form gehabt hatte. Eine der plausibelsten Theorien bezog sich auf einen Artikel eines Journalisten im Neuen Europa, in dem davon die Rede war, dass hinter den Toren der Garde das polizeiliche Äquivalent von Schwarzer Magie praktiziert wurde. Das war in einer der letzten Ausgaben dieser Zeitung gewesen, bevor sie trotz ihres hohen Netzanteils verboten worden war. Es gab wenige Orte, vor denen ein Bürger der Kontinentalen Union, egal welcher Klasse, mehr Angst hatte als vor dem Pentagramm. Für ihn konnte das nur eines bedeuten...
„Schön und gut, es gibst ja sowieso nichts, was ich jetzt noch tun kann.“
Der Mann seufzte. „Du solltest aufhören, die Garde als deinen Feind anzusehen. Du solltest mich nicht als deinen Feind betrachten.“
„Hah.“ Es folgte eine lange Pause. Dann: „Und was passiert mit ihm?“ Sie deutete in seine Richtung.
„Der Inkubus? Nun, er wird, äh... eingelagert. Wie die anderen auch.“
„Und das heißt?“
„Er bekommt ein Hormon, dass ihn zum Körperwechsel zwingt. Nur dass er keine Gelegenheit bekommt, einen Menschen zu übernehmen, er wird von einem hübschen kleinen Tank aus Panzerglas aufgefangen, gefüllt mit einer Nährsuspension. Noch ein paar bioelektrische Kontakte und fertig. Dann kann er keinen Schaden mehr anrichten.“
Die Frau schnaubte verächtlich. „Eingeweckt für schlechte Zeiten. Oder wieso macht ihr euch die Mühe? Wieso entsorgt ihr sie nicht einfach, wie es die H-Waffensperrklausel verlangt?“
Der Gardist versuchte sein Unbehagen zu verbergen, aber er sah es und er war sich ziemlich sicher, dass es die Frau auch sah. „Darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Anordnung von oben. Ich weiß nicht mal, ob Hetzten den Grund kennt. Ich meine, das Projekt war ziemlich aufwendig und teuer, soweit ich weiß und so was ließe sich heute kaum vor der restlichen Welt verheimlichen. Vielleicht denkt man, dass sie noch nützlich sein könnten, wenn es noch einmal zu so einer Sache wie dem Rush kommt.“
Er hatte genug gehört. Scheiße. Das neue Pentagramm war gleich nach dem Rush in einem Sperrgebiet hinter Belzig direkt aus dem märkischen Sand gestampft worden. Nicht mehr als eine halbe Stunde Flugzeit und dann war alles aus. Schluss. Ende. Eingeweckt für schlechte Zeiten, nachdem er sich nur ein paar Stunden zuvor noch zu der eigenen Gerissenheit gratuliert hatte. In solch einer Situation fiel es zunehmend schwerer an die eigene Überlegenheit zu glauben.
Doch da war noch etwas anderes. Der Schwarze Mann gegenüber sah ihn an. Seine Haltung war unbewegt wie die der beiden anderen auch, aber irgendetwas an ihm verriet, dass er ihn ansah.
Ich weiß, dass du wach bist.
Und auf einmal fühlte er sich nicht mehr so allein. Diese unheimliche Kreatur hatte seine Betäubung falsch dosiert. Es war Zeit herauszufinden ob sie auch seine Handschellen manipuliert hatte.
„Das glaube ich einfach nicht!“, rief Iselle und warf ihren Kopf gegen das Polster. „Diese Dinger sind schon einmal außer Kontrolle geraten, sie laufen in der Welt herum und vermehren sich sogar irgendwie. Und ihr, ihr habt, wenn ihr sie gefangen habt, nichts besseres zu tun als sie illegal für einen späteren Einsatz aufzubewahren?“
Martin seufzte leise und fragte sich, wieso ein Gespräch mit ihr nie so ablief, wie er es sich wünschte. Das war schon früher so gewesen und das war auch heute noch nicht anders.
Er hob kapitulierend die Hände. „Hör zu, ich weiß, dir wird diese Antwort nicht gefallen, aber ich tue hier auch nur meine Arbeit. Polizeiarbeit.“
Sie schnaubte und starrte in die Dämmerung hinaus. Unter ihnen breitete sich dunkel und verkrüppelt märkischer Wald aus. Martin atmete tief durch und legte eine Hand auf ihre Schulter und spürte wie sie einen Moment lang zusammenzuckte. Sie sah ihm kurz in die Augen, dann sah sie wieder nach draußen, aber sie machte auch keine Anstalten ihn abzuschütteln.
„Iselle, ich...“ Er stockte, verfluchte sein ungehorsames Sprachzentrum und erwischte sich auf einmal dabei, dämlich zu kichern. Zumindest sah sie ihn jetzt wieder an, eher neugierig als verärgert.
Er verpasste sich einen geistigen Arschtritt und sagte leise: „Weißt du, ich habe mir unser Wiedersehen eigentlich ganz anders vorgestellt als wir vor einem Jahr auseinander gegangen sind. Ich hatte eher an Kerzenlicht und eine Flasche des letzten Jahrgangs Spanischen Weins oder so etwas gedacht.“
Iselle nickte. „Irgendwie hattest du schon immer eine hoffnungslos romantische Ader.“
„Schon möglich. Aber du musst doch zugeben, dass du es mir wirklich nicht leicht gemacht hast.“
Sie antwortete ihm mit Schweigen. Das hochgeschobene Helmvisier hielt das Streulicht von ihrem Gesicht fern, ihr Katzenauge war dunkel und matt. Dadurch wirkte ihr echtes, rehbraunes Auge verletzlicher und hilfloser als sonst. Sein Griff wurde eine Spur fester.
„Warum?“, flüsterte er. „Warum habe ich ein halbes Jahr versucht, dich in Skandinavien zu erreichen? Ich möchte wissen warum, ich möchte verstehen warum du das getan hast. Wir haben uns doch nicht im Streit getrennt. Du hast mir von der Straße noch zugewinkt. Ich möchte nur eine Antwort.“
Diese Antwort war ihm nicht vergönnt.
Eben fragte er sich noch, ob er da ein feuchtes Glitzern in ihren Augen gesehen hatte, als sie auf einmal ruckartig den Kopf verdrehte und leise aufschrie. Es geschah so schnell, dass Martin erst einige Sekunden später begriff, was passiert war. Mit unmenschlicher Geschwindigkeit sprang der Inkubus in sein Blickfeld, riss Iselle an sich und sprang mit ihr aus der offenen Seite der Maschine. Er würde wohl nie das irre Grinsen auf seinem Gesicht vergessen. Alpha, der neben ihm gesessen hatte, folgte ihnen beinahe ohne Zeitverzögerung, Beta und Gamma nur unmerklich später. Sie alle stürzten sich mit der Eleganz professioneller Fallschirmspringer in die Tiefe, so als hätten sie nie etwas anderes getan. Von einem Moment auf den anderen war Martin allein in der Kabine. Als er endlich den Schock abschüttelte und sich an den Griff neben der Seitenöffnung klammerte, um ungläubig nach unten zu starren, konnte er nicht mal mehr die vier Punkte im Zwielicht ausmachen.
Hilflos brüllte er einen Befehl in sein Helmmikrofon
Der freie Fall erweckte ein Gefühl von Schwerelosigkeit, wäre da nicht der beißende Wind gewesen, der ihn ständig daran erinnerte, dass sich in dem Dunkel darunter der ihm entgegenrasende Boden versteckte. Er hätte den Boden sehen können, wenn er es gewollt hätte, aber es gab sowieso nichts, was er gegen die Schwerkraft unternehmen konnte. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr und eine andere Wahl hatte er ohnehin nicht mehr gehabt. Die Frau in seinem Armen machte keine Scherereien mehr, er hatte ihr einen Giftpfeil verpasst, kaum dass er sich von der Kante der Kabine abgestoßen hatte. Er blickte nach oben. Über ihm fielen drei Schatten durch die Dämmerung, der nächste war nur wenige Meter von ihm entfernt und er konnte nur hoffen, dass es der richtige war. Jedenfalls kam er von Sekunde zu Sekunde näher. Nun, wenn es ein Fehler gewesen sein sollte einer wagen Ahnung zu vertrauen, dann war es doch immerhin besser als entkörpert und von der Welt abgeschottet in einem Nährtank zu versauern.
Die Gestalt, auf deren Brust Alpha stand, schloss zu ihm auf. Wieder schien der Blick hinter der Maske etwas vertrautes zu haben. Er ließ ohne jegliche Gegenwehr zu, dass sie die rechte Hand ausstreckte und ihn im Nacken packte. Er spürte wie sich die kühle, glatte Membran von seiner Handfläche zurückzog. Sie fühlte sich warm und feucht an und schien sich in der Mitte auszustülpen. Sein Nacken kribbelte, aber er zuckte nicht zusammen als der Stich die gerade verheilte Narbe traf und sich brennend in seinen Hals fraß.
„Hab keine Angst, Nummer 8.“ Die Stimme erklang klar und deutlich in seinem Gehirn. Die fremden Nervenfasern mussten sich mit seinem Sprachzentrum verbunden haben. Das hieß, dass sie in ihrer invasiven Wirkung mindestens genauso stark waren wie seine eigenen.
„Wer oder was bist du? Und wieso hilfst du mir?“, fragte er lautlos.
„Ich bin einer wie du und ich bin ein wenig mehr als du. Es gibt mehr von uns, als du vielleicht denkst. Aber nur wenige sind so wie ich.“
„Was soll das heißen?“ Verwirrung und Erstaunen machten sich in ihm breit.
„Zu einem Teil bin ich Alpha. Zu einem Teil bin ich Inkubus Nummer 3. Zusammen bin ich eine überaus nützliche Mutation.“
„Wie hast du es geschafft diesen Gardeklon zu übernehmen?“
„Das spielt keine Rolle. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Mit einem schwarzen Handschuh deutete er nach unten. Der Boden schien bereits sehr viel näher. Dann zeigte er nach oben, wo sich schon die Silhouetten ihrer Verfolger ausmachen ließen. „Ich habe den beiden anderen gesagt, dass ich dich überwältigt hätte. Bis zum Boden sind wir sicher. Halte die Frau gut fest!“
Der andere Inkubus klammerte sich an ihn. Sein Griff im Nacken und um die Hüfte wurde fest wie ein Schraubstock und war kaum noch zu ertragen. Als nächstes verspürte er einen heftigen Ruck, dann ließ das Heulen des Windes allmählich nach. Die Fallgeschwindigkeit hatte sich eben drastisch reduziert und ein weiterer Blick nach oben verriet ihm auch wieso. Der Garde-Biomec-Anzug hatte sich vom Körper des Klons bis auf ein stabiles Traggeschirr um Brust und Schultern zurückgezogen. Das halbintelligente Material hatte sich nach hinten ausgestülpt und einen primitiven, aber wirkungsvollen Fallschirm gebildet, der sich wie ein Paar überdimensionaler schwarzer Fledermausschwingen über ihnen spannte.
Bis auf den Helm war der Klon nun vollkommen nackt. Neugierig betrachtete er ihn aus den Augenwinkeln. Seine Haut war glatt und von einer makellosen Blässe als wäre er aus Porzellan modelliert und der Körper ähnelte dem einer durchtrainierten Kinderpuppe. Er war vollkommen unbehaart und es ließen sich keine Brustwarzen oder äußere Geschlechtsorgane erkennen. Wieder fragte er sich, wie es der andere Inkubus geschafft hatte vollkommen unbemerkt dieses perfekte militärische Biokonstrukt zu übernehmen. Noch viel drängender war die Frage, wie er ihm helfen wollte.
„Pass auf.“ Die Gedankenstimme von Nummer 3 klang vollkommen emotionslos. „Dich selbst kann ich nicht retten. Die beiden anderen sind zu nah, als dass ich dich entkommen lassen könnte, ohne Verdacht zu erregen, außerdem würden sie dich ohnehin wieder kriegen. In die Frau kannst du auch nicht wechseln, dafür reicht die Zeit nicht und sie würden sofort misstrauisch werden, wenn sich dieser Körper zersetzt. Aber du kannst einen Teil von dir erhalten, ihn an ein neues Wesen weitergeben“
„Was meinst du?“
Anstatt einer Antwort nahm der Klon abrupt die Hand von seinem Hals. Das hatte ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Nacken zur Folge, aber viel schockierender war der Anblick des schleimigen, glitzernden Nervenstranges, der sich aus der Hand zog.
„Ich habe dir doch gesagt, ich bin eine nützliche Mutation. Ich kann Kinder zeugen. Der Frau einen Keim einsetzen, der in wenigen Stunden zu einem lebensfähigen Inkubus heranreift. Ein Teil von dir wird auch darin sein. Willst du das?“
Und erst jetzt begriff er, was ihm angeboten wurde: Fortpflanzung. Für einen Menschen mochte allein die Möglichkeit etwas alltägliches sein, aber er wusste, es war im Programm eines Inkubus nicht vorgesehen. Und trotzdem, was hatte er zu verlieren? Es war ein merkwürdiges Gefühl und trotzdem irgendwie tröstlich. Er blickte auf die bewusstlose Frau und zum ersten Mal seit seiner Gefangennahme lächelte er.
„Ja.“, antwortete er. „Ja, das will ich.“
Diffuse rote Schatten und Interferenzmuster glitten durch Martins Blickfeld und verzerrten den Blick aus dem Cockpitfenster. Er war via Netzimplantat direkt in die elektronischen Sensoren des Helikopters eingeklinkt und suchte in dem Chaos aus Kiefernkronen und Störstrahlen nach einem Hinweis auf die Positionssignale des Klontripels. Es war wieder eine dieser Ironien des Schicksals: Sie befanden sich bereits in der dreißig Kilometer durchmessenden Schutzzone um das Pentagramm, in der durch elektronische Störsender jeder Netzkontakt auf Bodenniveau unmöglich gemacht wurde. Das war eine jener paranoiden Maßnahmen, mit denen sich die Garde gegen Spione, Abenteurer und radikale Aktivisten absichern wollte. Schon bei hundertsiebzig Metern war der Kontakt mir Alpha, Beta und Gamma abgerissen.
„Grenger, was zur Hölle treiben sie da?“, schnauzte es aus den Lautsprechern seines Helmes. Anscheinend war seine Anfrage endlich bis zu Hertzen durchgedrungen. Martin war froh, dass er diesmal wenigstens nicht auch noch das Gesicht dieses Kerls ertragen musste.
„Es gab einen Unfall, Sir. Der Inkubus konnte sich befreien und ist mit einer Geisel aus der Maschine gesprungen.“ Er schluckte. Allein der Gedanke an das, was mit Iselle geschehen sein konnte, machte ihn fast wahnsinnig.
„Eine Geisel? Was für eine Geisel.“
„Ich... Eine Spezialistin vom Grünen Bären. Iselle Lacourt. Ich hielt es für notwendig sie einzuweihen und als Verbindungsfrau zu behalten.“
Hertzen knurrte leise und es war förmlich zu hören, wie er rot anlief. „Darüber reden wir noch.“, grunzte er. „Ausführlich. Jetzt will ich von ihnen wissen, wie die Lage ist.“
„Meine Klone verfolgen ihn, aber wir haben ihr Signal wegen der Sperrzone verloren. Die letzte Nachricht kam von Gamma und war schon ziemlich verstümmelt, aber es sieht so aus, als ob Alpha den Inkubus unter Kontrolle hätte. Sir, es wäre für uns sehr hilfreich, wenn die Störmaßnahmen in Sektor zwölf abgeschaltet werden könnten. Dann könnten wir sie viel einfacher anpeilen.“
„Nein. Sie bleiben dort wo sie sind und warten auf Verstärkung. Ich schicke ein Team los. Es sollte in wenigen Minuten da sein. Hören sie Grenger? Sie bleiben wo sie sind!“
In diesem Moment rief der Pilot: „Chef! Da sind sie!“
„Ich sehe es Bergmann. Nichts wie hin.“ Martin hatte es auch bemerkt. Für einen kurzen Moment hatte die Maschine ein Gardesingnal aufgefangen. Ein Blinkender roter Fleck markierte das Ziel in seiner Sicht. Der Pilot kippte den Helikopter zur Seite und ging langsam tiefer.
„Was geht...“ Hertzens Stimme verschwand in einem Schauer aus Statik. „...ammt noch mal...“
Martin schaltete auf die Kamerasensoren um. Die Sonne war zwar schon über den dunstigen Horizont gestiegen, aber es war trotzdem nicht einfach, etwas zwischen den gelbgrünen Nadelbäumen zu erkennen. Die märkischen Kiefernwälder stemmten sich bis heute hartnäckig dem Klimawandel entgegen, auch wenn die Landschaft um Berlin teilweise schon so trocken geworden war, dass die Stadt im Sommer schon vereinzelt mit Sand- und Staubstürmen zu kämpfen hatte.
Verbissen ließ er seinen Blick über den Wald gleiten, nur halb bewusst, dass er gerade seine komplette berufliche Zukunft aufs Spiel setzte.
Dort! Eine Bewegung auf einer kleinen Lichtung. Eine schwarze Gestalt, die mit ausgestreckten Armen winkte. Und noch eine zweite.
„Stopp!“, brüllte er und stemmte sich aus seinem Sitz. Mit dem Gleichgewicht kämpfend stürzte er zurück in die Kabine.
„Gehen sie runter so weit sie können und halten sie das Ding dann ruhig! Ich seile mich ab. Danach können sie der Verstärkung den Weg zeigen.“
Bergmann widersprach nicht, wahrscheinlich ahnte er, dass es keinen Zweck haben würde. Er tat wie befohlen. Martin ließ den Haken der Abseilvorrichtung in seinem Beckengurt einrasten und klemmte sich eine Fernsteuerung an den Anzug. Dann klappte er den Schwenkarm aus und fixierte ihn über dem Abgrund. Er blickte nach unten; es waren noch etwa zwanzig Meter bis zum Boden. Eigentlich hätte ihm das Angst machen müssen, aber er stand bereits so unter Adrenalin, dass er die zweithöchste Abseilgeschwindigkeit einstellte und rückwärts über die Kante sprang.
Im Prinzip war es nichts anderes als ein langsamer Fall und er war gerade dabei, sich zu wundern, wie einfach es doch war, da kam er unsanft auf dem Boden auf. Er hatte die Aufprallgeschwindigkeit wohl doch unterschätz, denn es riss ihm seine Beine weg und ließ ihn unsanft auf den Hintern plumpsen. Das war bestimmt einen ansehnlichen blauen Fleck wert, aber er nahm sich nicht die Zeit, das zu bedauern. Als er sich aufrappelte sah er Gamma auf sich zukommen.
„Wo ist sie?“, schleuderte er dem Klon entgegen.
Gamma legte den Kopf leicht schief deutete auf einen umgestürzten Baumstamm und schaute Martin nach als dieser an ihm vorbei rannte. Iselle lehnte an dem toten Holz, blass, das blonde Haar zerzaust. Aber sie hob die Lider als er auf sie zu lief und ihr Katzenauge glühte ihn an. Martin war, als wäre ihm ein zentnerschweres Gewicht von den Schulter genommen worden. Er bemerkte, dass er feuchte Augen hatte. Sie lächelte müde. Er kniete neben ihr nieder und streichelte ihr Haar.
„Mein Gott, Iselle...“ Seine Stimme versagte fast. „Ich habe schon befürchtet...“ Er umarmte sie, worauf sie schmerzerfüllt zusammenzuckte.
„Martin, pass bitte auf. Ein gebrochenes Bein ist zwar nicht die Welt, aber es tut doch ziemlich weh.“
„Oh.“ Doch auch das schmälerte seine Erleichterung kaum.
„Sie ist erst vor wenigen Minuten aufgewacht, Sir.“
Martins Kopf fuhr herum. Er hatte bis eben gar nicht bemerkt, dass Alpha gleich neben Iselle stand.
„Der Inkubus hatte sie betäubt.“, sagte die schwarze Gestalt so emotionslos, als wäre nie etwas aufregendes passiert. „Sie kann sich an nichts erinnern.“
„Und ich habe den dumpfen Verdacht, dass das auch ganz gut so ist.“, murmelte Iselle und lehnte sich an seinen Arm. „Aber ich glaube, ich muss deinen H-Waffen dafür danken, dass sie mir das Leben gerettet haben.“
Nur sehr ungern wollte sich Martin auch nur einen einzigen Meter von Iselle entfernen, aber es blieb noch eine wichtige Sache offen. Alpha führte ihn in den Wald hinein. Tote Zweige knackten unter ihren Füßen. Hinter einer Ansammlung von Büschen wartete Beta auf sie. Zu seinen Füßen fand sich das Fehlende.
Der Inkubus lag auf dem Rücken, den Kopf in einem unnatürlichen rechten Winkel abgeknickt, so dass auf einer Seite zertrümmerte Halswirbel bloßlagen. So eine Verletzung konnte auch eine maßgeschneiderte H-Waffe nicht verkraften. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel und seine Augen blickten starr in den Himmel. Natürlich war der Geist seines Wirts schon bei der Übernahme gestorben, aber jetzt, da auch sein Körper in Trümmern lag, tat Martin der arme Kerl wieder leid. Jedenfalls zeigte die Leiche kein Anzeichen unnatürlichen Zerfalls, das Hyperenzym war nicht freigesetzt worden. Der Mörder war im Körper seines Opfers gestorben.
„Ich konnte ihn erreichen, noch bevor er einen Wechsel einleiten konnte.“, berichtete Alpha auf Martins Nachfrage. „Er war noch geschwächt vom NN 04, deshalb konnte ich ihn überwältigen. Aber als ich mit der Rettung von Frau Lacourt beschäftigt war, ist es ihm gelungen, sich loszureißen. Er zog wohl den Tod einer Festnahme vor.“
Martin betrachtete erneut das tote Gesicht. Es lag so etwas wie der Anflug eines Lächelns auf den toten Lippen.
„Vielleicht.“, murmelte er. Dann wandte er sich ab.
Er kehrte auf die Lichtung zurück und setzte sich neben Iselle an den Baumstamm. Sie sah ihn an.
„Und was geschieht jetzt?“, fragte sie leise.
Martin seufzte, dann grinste er. „Wir werden abgeholt, da brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich werde ziemlichen Ärger bekommen, wegen der Sache. Das Ziel ist tot und eine Unbeteiligte, die ich ohne Absprache mit hineingezogen habe ist verletzt, ganz davon abgesehen, dass ich einen klaren Befehl meines Vorgesetzten ignoriert habe.“ Er kicherte. „Aber weißt du was? Das ist mir irgendwie alles scheißegal. Allein dafür, dass ich jetzt hier neben dir sitzen kann und du noch nicht mal vor mir davonlaufen kannst, hat sich die Aktion gelohnt.“
Iselle zog die Brauen zusammen und versuchte offensichtlich verärgert zu schauen, aber brach sie in helles Gelächter aus. „Du gibst wohl niemals auf.“
„Nein.“, sagte Martin entschieden und legte seine Hand auf ihre. „Das habe ich nicht vor. Nenn es Schicksalsfügung, was heute geschehen ist, aber ich werde dich jetzt nicht einfach wieder gehen lassen. Zumindest nicht, bevor ich nicht noch wenigstens einmal für dich gekocht habe.“
„War das eine Einladung?“
„Jawohl. Der nächste Sonntag. Und wenn du etwas besseres vorhast, dann sag es lieber schnell ab.“
Iselle wiegte schelmisch den Kopf. Sie entzog ihm ihre Hand und kratzte sich geistesabwesend im Nacken. Dann legte sie den Zeigefinger an die Unterlippe und lächelte ihn an.
„Na gut, Herr Noch-Unionsgardist. Aber glaube nicht, dass es einfach für dich wird.“
Über ihnen näherten sich Rotorengeräusche.