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Almfrieden
Es lag der typische Geruch von Regen in der Luft und Erhard ging von der Alm nach Hause zu seiner Hütte. Er musste sich beeilen. Der Marsch dauerte mindestens noch eine Stunde und durch das Wasser konnte das ohnehin schon unsichere Gelände zum tödlichen Verhängnis werden. Kali lief, unbeeindruckt von dem steilen Abhang neben Ihnen, einige Meter vor ihm her. Er musste lächeln. Die alte Hundedame ließ es sich, trotz des gehobenen Alters und ihrer Sehschwäche, nicht nehmen den Weg abzusichern.
„Ach Scheiße…“ schnaubte er, als die ersten Regentropfen, schwer wie kleine Wasserbomben, auf dem Boden aufschlugen. Zuerst nur vereinzelt, doch die Frequenz erhöhte sich schnell. Der Himmel verfinsterte sich und bald fand er sich in einem gewaltigen Unwetter wieder. Innerhalb weniger Minuten war seine Kleidung vollkommen durchnässt und triefte. Er entschied sich, in einer naheliegenden Höhle Unterschlupf zu suchen, um dort den Rest des Gewitters abzuwarten. Der Weg nach Hause war zwar nicht mehr weit, aber er hielt es dennoch für die bessere Idee. Bei der Höhle angekommen, setzte er sich auf einen Felsen und lehnte sich gegen die Wand. Kali legte sich neben ihm auf den Boden und beide blickten hinaus in das verregnete Grün des Waldes. Es hatte etwas Beruhigendes an sich. Das dämmrige Licht und seine Erschöpfung trugen ihr Übriges dazu bei und Erhard verlor den Kampf gegen seine immer schwerer werdenden Augenlider innerhalb weniger Minuten.
Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte, doch dass Kali verschwunden war merkte er sofort. „Verdammt! Wo ist sie?!“
Er hatte ein mulmiges Gefühl im Magen, also machte er sich auf den Weg, die Hündin zu suchen. Schnellen Schrittes ging er zu seiner Hütte, da er vermutete sie könnte vor Angst ins vertraute Heim geflüchtet sein und plötzlich … ein Bellen! Es war zweifelsfrei Kali. Sofort rannte er in die Richtung aus der er das Geräusch vermutete. Er hatte Mühe auf dem rutschigen Boden das Gleichgewicht nicht zu verlieren, doch dann sah er sie. Sie war nicht alleine. Er konnte nicht glauben was da gerade vor seinen Augen passierte. Schwanzwedelnd und freudig bellend stand sie vor einer Gestalt, die unbeholfen versuchte, sich mit Hilfe eines Kleidungsstücks, das definitiv über keine wasserabweisenden Eigenschaften verfügte, vor dem Regen zu schützen, indem sie es sich über den Kopf hielt. Er war verunsichert. Sein Hund hatte normalerweise eine unglaubliche Scheu vor fremden Menschen, doch es war ohne jeden Zweifel Kali. Es war die kleine, braune Mischlingshündin mit den trüben Augen und der graumelierten Schnauze. Er ging auf die beiden zu. Die Gestalt hatte sich gerade zu dem Hund hinuntergebeugt um sie zu streicheln. Als sie aufsah erkannte er eine Frau, ungefähr in seinem Alter. Sie lächelte ihn breit an. Als erstes fiel ihm der graublonde Pony auf, der ihre braunen, großen Augen gerade nicht bedeckte.
„Gott sei Dank!“ sagte sie merklich außer Atem.
„Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier in der Umgebung eine Hütte oder so etwas in der Art finden kann? Ich befürchte ich hab mich verlaufen.“
Sie sah aus, als wäre sie schon einige Zeit hier draußen. Erhard blickte skeptisch auf sie hinab.
„Was wollen Sie hier oben?“
„Tja… ich wollte meinen freien Tag im Grünen verbringen. Wär wohl schlau gewesen den Wetterbericht zu lesen…“, antwortete die Unbekannte.
„Das hätten sie allerdings tun sollen. Sie sind doch wahnsinnig, bei diesem Sauwetter hier raufzukommen!“
„Danke für die Blumen! Wären Sie jetzt so freundlich mir zu verraten wo ich hier ein trockenes Plätzchen finden kann?“
Sie ließ sich von Erhards schroffer Art nicht aus der Ruhe bringen und lächelte unentwegt, während ihr der Regen in das Gesicht peitschte. Erhard war die Sache zuwider. Er konnte Besuch nicht leiden, doch ihm wollte partout keine Ausrede einfallen.
„Gut, kommen Sie mit.“
Ihr schien sein offensichtlicher Missmut nichts auszumachen. Bereitwillig folgte sie ihm und sie kämpften sich schweigend den schmalen Weg entlang.
Kurze Zeit später betraten sie seine Hütte. Es war eine kleine Almhütte. Die Vorbesitzer betrieben eine Herberge, doch daran war Erhard eindeutig nicht interessiert. Sie setzten sich auf die rustikale Esszimmergarnitur in der Ecke, von der aus Erhard aus dem Fenster blickte.
„Das Wetter wird wohl noch eine Weile so bleiben befürchte ich.“
„Nun ja, Gott sei Dank wurde ich gerettet.“
Ihr erleichtertes Lächeln von zuvor war einem neckischen Grinsen gewichen, das sehr sympathisch wirkte.
„Haben Sie trockene Sachen mit?“, fragte Erhard.
„Ich befürchte nichts dass ich mithabe ist noch trocken.“
Nach einer kurzen Phase des Überlegens stand Erhard auf und verschwand kurz hinter der Tür bei der Küche. Man konnte ihn in Schubladen kramen hören. Zurück kam er mit einem dunkelblauen Sommerkleid mit weißen Punkten.
„Hier. Das können Sie anziehen.“
Er hielt es ihr hin.
„Gehört das Ihrer Frau?“ fragte sie.
„Es gehörte ihr. Wir leben nicht mehr zusammen.“
Die Frau hielt das Kleid in ihren Händen und sah es an.
„Das tut mir Leid.“
Sie sah nicht auf. Kali lag zu ihren Füßen.
Sogar der Hund mag sie. Sie muss wohl in Ordnung sein…
Sein Hund konnte fremde Menschen genauso gut leiden wie er selbst. Eine weitere Eigenschaft, die er sehr an ihr schätzte.
„Wie heißen Sie?“, fragte er. Die Frau sah von dem Kleid auf und wirkte kurz so, als hätte Erhard sie aus einem Traum gerissen.
„Oh, entschuldigen Sie vielmals! Mein Name ist Elfi. Verraten Sie mir auch Ihren?“
„Erhard.“
„Wirklich nett haben Sie’s hier, Erhard.“, merkte sie an.
Sie erhielt nur ein zustimmendes Nicken als Antwort.
Wider Erwarten taute Erhard, und damit die Stimmung, auf. Sie unterhielten sich über sein Leben am Berg, über den Hund und wie man auf die Idee kommen konnte eine Wanderung zu unternehmen, ohne zuvor den Wetterbericht zu lesen. Er genoss ihre Gesellschaft. Es war schon sehr lange her, dass er sich mit einer Frau richtig unterhalten hatte. Nach einiger Zeit lenkte sie das Thema der Unterhaltung jedoch in eine Richtung, die Erhard gerne gemieden hätte.
„Wo ist Ihre Frau jetzt?“
Sie konnte über die Ernsthaftigkeit des Themas nicht Bescheid wissen, doch er fand die Frage dennoch unangebracht. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet.
„Ach kommen Sie schon. Es tut Ihnen bestimmt gut darüber zur reden.“
Ihre Hartnäckigkeit verunsicherte ihn. Sie musste doch merken, dass ihm das Thema unangenehm war und doch lächelte sie ihn unbeirrt an. Vielleicht hatte sie Recht? Eine Weile verging, doch Erhard rang sich durch und begann zu erzählen.
„Wir lebten gemeinsam in der Stadt, in einer schönen Wohnung. Wir waren seit ca. 20 Jahren verheiratet. Ich war Bauleiter und Karin blieb zu Hause. Wenn ich so darüber nachdenke, war unsere Ehe wohl nie perfekt. Ich hab‘s mit der Treue nie zu ernst genommen und wenn ich getrunken hatte wurde ich zu einem richtigen Arsch. Als ich dann auch noch meinen Job verlor, machte das die Situation nicht besser. Ich trank wie ein Loch und merkte nicht wie sie sich Tag für Tag veränderte. Sie wurde emotionslos, wie ein Roboter. Eines Tages fand ich Pillen in einer unserer Schubladen. Ich hab sie zur Rede gestellt. Als sie mir sagte, dass es Pillen gegen Depression wären, rastete ich vollkommen aus.“
Er warf einen kurzen Blick auf Elfi, die ihn ohne jede Regung ansah. Es war unmöglich ihre Emotionen zu deuten. Seine eigenen Gefühle hingegen, vernahm er mehr als deutlich. Nach all der Zeit konnte er mit den Dämonen seiner Vergangenheit immer noch nicht umgehen. Bei dem Gedanken daran verspürte er nichts als Scham und Reue. Nicht zuletzt deswegen entschloss er sich, die besonders pikanten Details zu verschweigen.
„Ein paar Tage später kam ich von einem der vielen gescheiterten Vorstellungsgespräche nach Hause und fand – wenig überraschend – einen Abschiedsbrief. Erst später merkte ich, dass sie schon morgens das Haus verlassen hatte. Ich hatte einfach nicht bemerkt, dass sie fort war. In dem Brief stand unter anderem, dass sie zu ihrer älteren Schwester gezogen war. Ich kenne ihre Schwester heute noch nicht. Ich weiß nur, dass sie eine hat und sie direkt nach ihrer Hochzeit nach Deutschland gezogen ist. Karin fuhr sie öfters besuchen, doch ich kam nie mit.“
Erhard dachte daran, wie beschreibend alleine diese Tatsache für ihre Beziehung war.
„Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen, oder etwas von ihr gehört. Nach ein paar Jahren der Einsamkeit beschloss ich mein Leben zu ändern. Ich wollte aufhören zu trinken und da mich nichts in der Stadt hielt, zog ich hier rauf.“
Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, fühlte er sich seltsam erleichtert. Elfi hatte Recht damit gehabt.
„Das einzige was mich an diese Zeit erinnert, ist Kali. Sie war unser gemeinsamer Hund. Karin nahm sie mit, als sie mich verließ, doch letztes Jahr passierte etwas Seltsames. Als ich nach Hause kam, saß Kali angebunden vor meiner Haustür. Ich dachte ich hätte den Verstand verloren. Ich kann mir heute noch nicht erklären wie Karin mich finden konnte und warum sie mir den Hund brachte.“
Erhard lächelte und sah auf den Hund hinab. Wie auch schon zuvor verriet Elfis Blick nicht was sie dachte, doch sie wirkte weder geschockt, noch angewidert. Erhard wartete gespannt auf ihre Reaktion. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie lächelte und sagte
„Unsere Vergangenheit könne wir zwar nicht ändern, aber dafür unsere Zukunft.“, und legte dabei ihre Hand auf seine. Erhard trieb seine Erleichterung fast Tränen in die Augen. Sie redeten noch ein paar Minuten, bis Elfi bat, ein Nickerchen machen zu dürfen. Erhard führte sie in ein kleines Zimmer mit einem schmalen Bett aus Fichtenholz, gab ihr Bettzeug und wünschte ihr einen erholsamen Schlaf. Er ging zurück in die Küche und setzte sich auf die auf die Eckbank. Kali legte sich, wie gehabt, zu seinen Füßen und er kraulte sie hinter dem Ohr. Als sein Blick durch den Raum schweifte, bemerkte er ihren Rucksack, den sie anscheinend nicht mit in das Zimmer genommen hatte. Hätte es sich um jemand anderen gehandelt, hätte Erhard die privaten Sachen nicht angerührt, doch Elfi faszinierte ihn und er konnte nicht widerstehen mehr über sie zu erfahren.
Als er den Zippverschluss öffnete, merkte er zuerst, dass sie nicht gelogen hatte was ihre Kleidung betraf. Alles war tropfnass. Kurz überlegte er, ob er die Sachen zum Trocknen aufhängen sollte, doch sie würde es wahrscheinlich nicht gutheißen, wenn sie wüsste, dass er in ihrem Rucksack herumgeschnüffelt hatte. Also legte er alles wieder zurück und wollte das Fach gerade schließen, als ihm etwas ins Auge stach. Es war eine durchsichtige Plastiktüte. Er nahm sie heraus und konnte sich nicht erklären, warum sich ein mulmiges Gefühl in seinen Eingeweiden breit machte.
In der Tüte befand sich eine Mappe. Als er die Mappe öffnete blieb sein Herz für einen Moment stehen. Wie ein Stromschlag durchfuhr der Schreck seinen Körper und er wusste nicht wie ihm geschah. Er las den weißen Zettel mit schwarzen Rand ungefähr zehnmal. Die obersten Zeilen lauteten:
Mit Traurigkeit im Herzen, aber mit dem Gedanken an ein Wiedersehen nehmen wir Abschied von Karin Lehnerheim.
Er hielt die Parte seiner Frau in den Händen. War das ein übler Scherz? Er blätterte um. Die nächste Seite war eine Klarsichtfolie, die ein kleines Stück einer Zeitung beinhaltete. Es war ein kurzer Zeitungsartikel mit dem Titel:
Selbstmord-Drama: 54-jährige erschießt sich in Kölner Wohnung
Wie in Trance blätterte er ein weiteres Mal um. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sein Blut schien zu Eis gefroren zu sein und sein Herz wollte ihm aus der Brust springen. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Auf der dritten und letzten Seite war ein Foto, auf dem 2 Frauen abgebildet waren. Sie waren in einem hübschen Garten, hatten sich die Arme um die Schultern gelegt und lachten herzlich. Erst jetzt merkte er wie ähnlich sich Elfi und seine Frau sahen. Auf der Wiese im Hintergrund lag Kali und schlief. Er starrte das Bild minutenlang an, als plötzlich … Klick. Erhard schreckte zwar auf, sah sich jedoch nicht um. Er erkannte das metallische Geräusch eines Abzugs sofort. Er flüsterte leise zu sich selbst
„Der Hund… Der Hund kannte sie …“
Die Stille der Erkenntnis wurde unterbrochen von einem lauten Knall.