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Allzeit bereit
Von allen Pfadfindern war Ronald der schlechteste. Er benahm sich rücksichtslos, aggressiv und unzuverlässig. Das Pfadfindergesetz war ihm völlig schnuppe. Als Leiter war er eine absolute Katastrophe. Kein Wunder! Denn Ronald war ein Zombie.
Bis vor kurzem hatte er uns gezeigt, wie man mit Feuerstein und Zunder ein Feuer entfacht. Er hatte uns erklärt, wie man mit Kohtenblättern, Seilen und Stangen ein Zelt aufbaut. Er hatte uns den Verhaltenskodex näher gebracht. Danach handelten wir. Selbst dann noch, als Ronald als Vorbild genauso viel taugte wie ein Schwein zum Fliegen.
Wir hatten im Wald Monsterjagd gespielt und schnell gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Eine Gruppe von Jungpfadfindern hatte sich zusammengetan, um das Monster – Ronald – aufzuspüren. Als Waffe hatte es einen magischen Pfiff von sich geben können, um alles Lebende um sich herum zu lähmen. Aber Ronald hatte nicht gepfiffen, sondern gefaucht und gegrunzt. Aus seinem verzogenen Mundwinkel war auf einmal ein glänzender Speichelfaden geronnen. Wir hatten ihn gejagt, jetzt jagte er uns. Wir waren gelähmt vor Schreck.
Ronald packte Marie am Arm, zog sie zu sich heran und machte Anstalten, ihr in die linke Schulter zu beißen. Gerade noch rechtzeitig riss sie sich von ihm los und floh in Richtung Pfadfinderlager. Ronald folgte ihr.
»Hilfe! Hilfe!«, schrie Marie so laut sie konnte. Sie erreichte das Zeltlager, stolperte über eine Wurzel und schlug der Länge nach hin. Im selben Moment brach Ronald aus dem Gebüsch. Er bleckte die Zähne, seine Augen stierten hasserfüllt. Panische Schreie ertönten. Plötzlich herrschte helle Aufruhr im Pfadfinderlager.
Nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hatte, führte ich mir die Pfadfindertechniken vor Augen, die Ronald mir beigebracht hatte, seit ich der Gruppe vor neun Jahren beigetreten war. Jetzt bloß die Nerven behalten, schoss es mir durch den Kopf. Ein Pfadfinder weicht Schwierigkeiten nicht aus.
Ronald erreichte die Zelte und fiel über die Wölflinge her, wie ein Raubtier über seine Beute. Bevor er die Sieben- bis Zehnjährigen zu Hackfleisch verarbeiten konnte, griff ich nach meinem Takelmesser, das ich im Gürtel trug, und rammte es ihm mit voller Wucht in die Brust. Er geriet ins Straucheln. Die Wölflinge, auf deren Hemden orangefarbene Wolfsköpfe als Rudelabzeichen prangten, konnten sich aus der Gefahrenzone bringen.
Blut quoll aus der Fleischwunde und durchtränkte meine Kluft rot. Obwohl ich Ronald ernsthaft verletzt hatte, sah ich aus seiner Miene, dass er keine Schmerzen empfand. Ich hätte mich genauso gut mit dem Terminator anlegen können. Mit einem lauten Grunzen schnappte er nach mir.
»Du musst ihm mit dem Beil den Schädel spalten!«, rief Ralph. »Nur so können Zombies getötet werden!«
Ich machte ein entsetztes Gesicht. »Nein! Wir sind Pfadfinder! Wir schützen alles Leben!«
Pfadfinder achten alle Menschen. Herkunft, Religion und Weltanschauung spielen dabei keine Rolle. So wurde es mir beigebracht. Wir durften Ronald nicht umbringen.
Ralph sah das anders. »Schaust du denn keine Zombiefilme? Er ist hirntot! Er hat genauso viel Grips wie ein ausgehöhlter Baumstamm!«
»Aber irgendwie lebt er noch!«
»Irgendwie aber auch nicht!«
Wir hatten keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Ronja machte ein entsetztes Gesicht. »Oh nein! Ronald hat es auf die Zelte abgesehen! Schnell, haltet ihn auf!«
Wir reagierten prompt. Simon schnappte sich das Desinfektionsspray aus dem Erste-Hilfe-Koffer und sprühte es Ronald in die Augen. Richard holte aus und schmetterte ihm die gusseiserne Bratpfanne ins Gesicht, bis der Kopf eingedellt war. Tamara rammte ihm die Zeltheringe der Reihe nach ins Bein. Ronald grunzte und ächzte. Doch egal, mit was wir gegen ihn vorgingen, er war nicht zu stoppen.
Ronja hatte schließlich die rettende Idee. Sie schlug zwei Topfdeckel aneinander, dass es nur so durch den Wald schepperte. Ronald hielt inne. Vom Krach angelockt, ging er auf Ronja zu und folgte ihr zur nahegelegenen Holzhütte, die uns bei Regen zum Unterstellen diente. Ich ahnte, was sie vorhatte. An der offenen Tür angelangt, stieß ich Ronald hinein. Hastig warf ich die Tür ins Schloss und verriegelte sie von außen. Geschafft! Erst einmal konnten wir durchatmen.
Lena versorgte Maries Wunden. Sie hatte sich beim Sturz den Knöchel verstaucht und die Knie aufgeschlagen. Das Desinfektionsspray war komplett aufgebraucht, also nahm sie Wodka. Ein Glück, dass Alan und Richard die Flasche für feuchtfröhliche Abende mitgeschmuggelt hatten!
Der Alkohol brannte auf Maries Haut und sie brüllte wie am Spieß. »Alles okay?«, fragte ich.
Sie zog eine Grimasse. »Nein, ich schreie aus Spaß. Aber ein Indianer kennt keinen Schmerz.«
Ich schaute sie an. »Du bist ein Pfadfinder.«
»Fuck!«
»Hat jemand ein Handy dabei?«, fragte Simon. »Ronald ist völlig durchgeknallt. Wir müssen Hilfe rufen!«
Ralph schüttelte den Kopf. »Es gibt ein Notfall-Handy. Aber kein Netz. Wir haben erst wieder Kontakt zur Außenwelt, wenn in einer Woche der Bus kommt, um uns abzuholen.«
»Na klasse«, stöhnte Simon. »Wir haben keinen Dunst, was mit Ronald passiert ist. Womöglich laufen da draußen noch mehr Zombies frei im Wald herum. Wenn wir nicht höllisch aufpassen, könnte es uns bald genauso ergehen wie ihm!«
»Vielleicht hat ein Supervirus Ronald infiziert«, überlegte Ronja.
»Eine Pflanze könnte sein Gehirn vergiftet haben.«
»Er könnte vom Blitz getroffen worden sein.«
»Eine Überdosis Radioaktivität könnte ihn verstrahlt haben.«
»Aliens könnten ihn entführt und medizinische Experimente an ihm durchgeführt haben.«
»Eine fiese Voodoo-Hexe könnte ihn verwandelt haben.«
»Blödsinn«, meinte Simon. »Das ist völliger Blödsinn! Es gibt weder Zombies noch Voodoo-Hexen!«
Marie schaute zur Holzhütte hinüber. »Ich schätze, Ronald sieht das anders.«
Ich fröstelte. »Ab sofort halten wir Wache! Keiner geht mehr allein in den Wald!«
Allmählich kroch die Dämmerung über den Zeltplatz und wir versammelten uns an der Feuerstelle. Richard legte Scheite nach und entzündete das Feuer. Die Flammen loderten, das Holz knackte. Je dunkler es wurde, desto unheimlicher wurde der Wald.
»Was machen wir jetzt mit Ronald?«, fragte Richard in die Runde. »Die Tür wird nicht ewig halten. Früher oder später wird sie nachgeben, dann müssen wir schnell handeln. Töten wir Ronald, verstoßen wir gegen den Kodex. Töten wir ihn nicht, riskieren wir unser Leben.«
»›Allzeit bereit‹, lautet unser Motto«, erinnerte ich. »Als Pfadfinder müssen wir immer bereit sein, pfadfinderisch zu handeln.« Ich hob die rechte Hand mit der Handfläche nach vorne bis in die Schulterhöhe und legte den Daumen auf den gebeugten kleinen Finger. Nach der symbolischen Geste beschützt der Starke den Schwachen.
Ronja blätterte im Handbuch. »›Ein Pfadfinder ist Freund zu allen, egal zu welcher gesellschaftlichen Klasse der Andere gehört.‹ Ich schätze, das schließt Zombies mit ein.«
Somit war die Entscheidung gefallen.
Mit einem Zombie zu kampieren, das ist in etwa so, als würde man als Dompteur im Zirkus einen Löwen bändigen. Man musste ständig auf der Hut sein, um nicht zerfleischt zu werden. Getrieben von der Gier, seine Opfer zu beißen, war Ronald unberechenbar.
Trotzdem fühlten wir uns irgendwie mit ihm verbunden. Jahrelang hatte er als Vorbild unsere Gruppe geleitet und sich um uns gekümmert. Jetzt kümmerten wir uns um ihn.
Ronald warf sich mit aller Gewalt gegen die Tür, die nachzugeben drohte. Bevor das Holz splitterte, befreiten wir ihn daher aus der Hütte und legten ihm eine Metallkette um den Hals, die wir für eine Baumschaukel vorgesehen hatten. Das Ende der Kette befestigten wir an einer Eiche. Wir fesselten Ronald die Hände hinter dem Rücken, stopften ihm ein Halstuch in den Mund und wickelten eine Mullbinde um Mund und Kiefer. Jetzt konnte er sich frei bewegen, ohne dass wir gleich befürchten mussten, als menschliche Mahlzeit erlegt zu werden. Auch eine Teilnahme an unseren Ausflügen durch den Wald war nun möglich, indem wir ihn an der Kette mit uns führten. Auf dem Zeltplatz war er ein ausgezeichneter Spielgefährte.
»Wir bilden einen Kreis, Ronald steht in der Mitte«, sagte ich. »Wer es als Erster schafft, ihn anzulocken, hat gewonnen.« Kurz darauf begann ein wildes Rufen und Pfeifen. Alle versuchten, sich gegenseitig zu übertönen.
Ronald trottete unschlüssig hin und her. Doch dann kramte Simon eine Trillerpfeife hervor und pfiff so laut, dass wir uns die Ohren zuhalten mussten. Ronald lief so schnell auf ihn zu, dass einige Pfadfinder ängstlich beiseite wichen. Das Spiel war entschieden.
Die Verlierer straften Simon mit vorwurfsvollen Blicken.
»Was ist? Es hat keiner gesagt, dass Hilfsmittel nicht erlaubt sind!«
Am Fluss rannten wir um die Wette. Aber es war hoffnungslos! Ronald schaffte es kaum, auf der Startposition stillzustehen. Nur einmal schlurfte er nach dem »3-2-1-LOS!« in die richtige Richtung. Jeder Schritt schien ihm schwerzufallen. Wenigstens Steffen freute sich. Er war diesmal nicht Letzter.
Mit seinem Verhalten sorgte Ronald immer wieder für Entsetzen. Als wir im Wald einen toten Hirsch fanden, verschlang er Hirn und Gedärme. Als er Tamara auf einen Abgrund zudrängte und sie in die Tiefe stürzte, stieß er ein triumphierendes Grunzen aus. Als er Richards Brille zertrat, juckte ihn das nicht die Bohne. Eines war sicher: Seiner Haftpflichtversicherung würde er den Schaden garantiert nicht melden. Mitleid, Reue und Gehorsam waren Fremdwörter für ihn.
Wir erzählten uns gegenseitig Gruselgeschichten über Ronald. Vor allem Ronja hatte eine blühende Fantasie und konnte lebhaft schildern. Einige Jungpfadfinder verbrachten die Nächte mit Sicherheit schlaflos.
Gegen Mitternacht holte Marie ihre Gitarre hervor und wir sangen Lieder. Wir wickelten die Mullbinde ab und Ronald durfte mitgrölen. Aus meiner Sicht hatte er genug Talent, um als Frontmann einer Heavy-Metal-Band sein Publikum zu begeistern.
Als Nachtwache war er unschlagbar. Ab sofort brauchten wir keine Angst mehr zu haben, von wilden Tieren angegriffen zu werden. Ronald verscheuchte sie alle.
Vielleicht taugte er als Vorbild doch noch. Indem er mit schlechtem Beispiel voranging, zeigte er uns, wie sich ein Pfadfinder nicht verhalten sollte. Wir lernten, Verantwortung zu übernehmen. Nur der Verwesungsgestank wurde mit der Zeit unerträglich. Wir bewarfen Ronald daher regelmäßig mit Wasserbomben, das wirkte Wunder.
Am Vorabend unserer Abreise setzten wir ihn einige Kilometer vom Zeltplatz entfernt auf der anderen Flussseite aus. »Müssen wir Ronald denn wirklich zurücklassen?«, fragte Ronja, während sie in ihr Kanu stieg. Das Wasser plätscherte gegen das Boot, ein kalter Wind wehte uns um die Ohren.
»Sieh ihn dir doch an«, sagte ich. »In seinem Zustand gewinnt er weder einen Preis in einem Schönheitswettbewerb, noch in einer Quizshow. Wir wollen doch kein Entsetzen in Harry auslösen.«
Busfahrer Harry war am nächsten Morgen trotzdem entsetzt.
»Wo ist Ronald?«, fragte er, nachdem er uns begrüßt hatte.
»Er ist weg«, erklärte ich.
»Weg? Was meinst du mit ›weg‹? Sammelt er im Wald Beeren oder musste er mal für kleine Jungs?«
Ich rückte mein Halstuch zurecht. »Falls er im Wald Beeren sammelt, sind wir für die nächsten Jahrzehnte mit Marmelade versorgt. Er ist schon ziemlich lange weg.«
»Ist er etwa verschwunden?«
»So kann man es auch sagen.«
»Heilige Scheiße!« Harry schlug die Hände über den Kopf zusammen. Er musste die Nachricht erst mal sacken lassen und hockte sich auf einen Baumstumpf. Am liebsten hätte er den ganzen Wald nach Ronald abgesucht. »Wann ist das passiert? Wo habt ihr ihn zuletzt gesehen? Erzählt mir alles, was ihr wisst!«
»Sicher«, sagte ich. »Aber Sie glauben uns bestimmt kein Wort.«
»Erzählt mir trotzdem alles!«, verlangte er.
Also erzählte ich Harry alles.
Ich sollte Recht behalten. Am Ende glotzte er mich an, als wenn ich nicht ganz bei Trost wäre. Er machte ein Gesicht, als hätte ich ihm einen Bären aufgebunden.
Egal! Pfadfinder sprechen die Wahrheit.