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Allzeit bereit
Schon seit Stunden sassen die beiden Pfadfinderrover zehn Meter hoch über dem Waldboden und starrten in die Dunkelheit. Solo, mit richtigem Namen Maximilian, war für sein Alter und einem Meter neunzig bereits ein ganzer Kerl. Panda, der bürgerlich Hans-Ulrich hiess, war eher so das Gegenteil, klein und pummelig. Durchnässt vom Nieselregen, zitternd vor Kälte, warteten die Beiden auf das erste Lichtsignal ihrer Rudelfreunde vom anderen Lagerplatz.
„Wer hat sich eigentlich diese doofe Nachtübung ausgedacht?“, fragte Panda.
„Der lange Lulatsch Ghost“, schnaubte Solo. „Seit der zum Gruppenleiter mutiert ist, spielt er sich immer mit seinen krassen Übungen bei der Lagerleitung auf.“
Panda zog sich die Regenkutte enger und drehte die Petroleumlampe etwas höher.
„Morsen, was für’n veralterter Quatsch. Geht doch viel besser übers Handy.“
„Genau, Punkte und Striche, das kann ja kein Mensch lesen.“
Obwohl sich Panda nicht sicher war, ob Solo überhaupt lesen konnte.
„Ja, und dieses Kurz, Lang, Kurz …“, Solo blinkte mit der Taschenlampe von unten in sein Gesicht und sah aus wie Kayako Saeki aus diesem japanischen Horrorstreifen.
„Mach das Ding aus, du vermasselst sonst noch die Übung.“
„ … wobei ich nicht mal weiss, ob jetzt ein Punkt Kurz oder Lang bedeutet.“
„Kurz, was sonst.“
„Bist du sicher?“
„Hm, ein Strich ist doch auch länger als ein …“
Weiter kam Panda nicht, denn im selben Moment leuchtete es vom anderen Hochsitz hell auf.
„War das jetzt kurz oder lang?“, krächzte Solo, dessen Stimme sich witterungsbedingt bereits ziemlich angeschlagen anhörte.
„Kurz, würde ich sagen.“
„Und was heisst das jetzt?“ Solo konnte klasse Holz spalten und prima Donnerbalken bauen, aber ein paar simple Spielregeln, die konnte er sich einfach nicht merken.
„Ist doch egal, was es bedeutet. In dieser Übung sollen wir das Signal einfach an den nächsten Hochsitz weiterleiten.“
Panda drehte sich um, richtete die Taschenlampe in die Dunkelheit neben sich und schaltete sie kurz ein und wieder aus.
„Erledigt. Hast du die Müsliriegel mit?“ Solo nickte und ein Wassertropfen fiel von seiner Nase auf seinen Parka. Panda ging gerne mit Solo auf Übung, der bunkerte nämlich immer ein paar Extrarationen aus der Küche.
Die nächsten Stunden trafen kurze und lange Lichtsignale ein, die
Panda gelangweilt und eins zu eins nach links weiter gab. Dazu kauten beide schweigend auf Solos Riegeln herum.
Irgendwann war der letzte Müsliriegel aufgegessen und beide, durchnässt bis auf die Unterhose, hatten von der ganzen Übung die Nase gestrichen voll.
Das letzte Signal war wie eine Erlösung.
„Alles klar, Solo“, rief Panda und klatschte ihm auf die Schulter.
„Die Übung ist zu Ende, lass uns von diesem verdammten feuchten Pfahl herabsteigen.“
„Na endlich“, seufzte Solo, stand auf, knickte ein und knallte mit dem Hintern an die Brüstung.
„Mist, meine Beine sind eingeschlafen.“
Es folgte ein langes, ächzendes Knarren, dann ein kurzer Aufprall. Panda leuchtete in den Abgrund.
„Klasse, da liegt jetzt unsere Leiter!“
Solo rappelte sich hoch.
„Du hast nicht zufällig ein Seil dabei?“, fragte Panda.
„Nee, aber eine Schnur, die ist zwar nur neunzig Zentimeter lang, aber ...“
„Klasse, die können wir ja mit meiner Schnur zusammenbinden.“
„Du meinst das geht?“
„Das war ein Witz!“
„Oh“, seufzte Solo und verstaute seine Schnur wieder im Parka.
„Könnten wir nicht einfach, äh, um Hilfe rufen?“, jammerte er.
„Sind wir Wölflinge oder was? Nein, wir sind Rover, und Rover sind clever. Morsen wir also um Hilfe! Schlag doch mal das Alphabet in deinem Notizbuch nach.“
„Öhm, hab ich im Lager gelassen.“
„Wieso das denn?“
„Ich brauchte Platz für die Müsliriegel. Aber was ist mit deinem Buch?“
Panda konnte ja schlecht sagen, dass seine alleinerziehende Mama mitten im Berufs- und Haushaltsstress die Seiten seines in der Tasche vergessenen Notizbüchleins wieder blendend weiss gewaschen hatte.
„Ich kann‘s auswendig!“, log Panda und hatte einen kleinen Anflug von Panik.
„Wow, dann morse doch einfach Erste Hilfe.“
„Man kann nicht Erste Hilfe morsen, Solo. Erste Hilfe ist Atmung kontrollieren, Beatmen und Herzmassage.“
„Oh, aber was ist mit ES-O-ES? Ich habe mal einen Film …“
„Sei still, ich versuche mich zu konzentrieren. Es ist wohl besser, ich setze eine richtige Meldung ab, sieht doch viel professioneller aus, und passt auch besser zur Übung.“ Panda versuchte Zeit zu gewinnen und sich dabei zu erinnern, wie das verdammte Alphabet ging. Nach einer kurzen Pause, in der sogar der Regen aufhörte, zeigte Panda mit seiner Taschenlampe in Richtung Pfadfinderlager. Kurz, lang, lang, …
Es begann bereits zu dämmern, als Gruppenleiter Ghost mit ein paar anderen Rovern aus dem Rudel den Hochsitz fand und die Leiter wieder anstellte. Er kletterte flink nach oben und schaute über die Brüstung. „Ey, wen haben wir denn da? Pünktchen und sein schräger Strich. Durchgeweicht und mit leeren Batterien, nehme ich an. Wusste gar nicht, dass euch die Übung so viel Spass gemacht hat. Klasse Idee übrigens, diese Geheimcodes ins Lager zu übermitteln, die Wölflinge sind bereits daran, sie zu entschlüsseln.“
Wäre Panda nicht so erschöpft gewesen, hätte er am liebsten die Leiter samt dämlich grinsendem Ghost wieder umgestossen.
„Aber jetzt kommt runter, ihr müsst uns unbedingt euren Geheim-Code verraten“, gluckste Ghost. Die Meute am Boden prustete los und Solo warf Panda einen wütenden Blick zu.
„So, so, du kannst also das Morsealphabet auswendig!“, krächzte er und setzte einen Blick auf, als wolle er Panda vom Hochsitz werfen.
„Jetzt mach mal‘n Punkt, Solo?“, keuchte Panda. „Wer hat denn die Leiter umgestossen?“
„Ja, ja. Aber wir hätten ja auch einfach SOS blinken können! Didididahdahdahdididit!“
„Woher weisst du das?“, fragte Panda verdutzt.
„Kino“, knurrte Solo. „Titanic!“
„Bingo, Zeit für Frühstück“, rief Ghost und griff in seine Tasche. „Müsliriegel?“