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Alltag
Die Handtücher waren stets ordnungsgemäß gefaltet und die Laken rochen immer frisch. Seine Hosen bügelte sie aus Sicherheit zweimal und hing sie vorsichtig an den Kleiderbügeln auf. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, sperrte sie die Fenster weit auf, um zu lüften und dem grässlichen Gestank zu entfliehen. Glattpolierte Möbel aus Eichenholz, ein Glastisch mit bestickten Servietten, kein Staub, kein Dreck und seine Kragen hatten nie Schmutzränder. Jede Menge prachtvolle Narzissen und farbenfrohe Fensterbilder kleisterten die Gewissheit zu und dekorierten die schöne isolierte Wohnung. Manchmal glaubte sie in dem dämpfenden Duft der Blumen zu ersticken. Jürgen bestand immer auf die Verbreitung eines trügerischen und falschen Duftes um die Nachbarn zu beeindrucken. Nicht einmal ihre Eltern rochen die schleierhafte Dekadenz, wenn sie zu Besuch waren. So oft wollte sie sich jemandem anvertrauen und demjenigen alles über Jürgens raue Hände erzählen, doch sie traute sich nie. Eigentlich war es ihr Wunsch dies nie zu tun, denn die Kinder würden vielleicht dann etwas mitbekommen oder sie würde Jürgen für immer verlieren. Familienglück sollte man nicht zerreissen, wenn es bereits zerbrochen wurde. Auch die Behörden machten ihr Angst. Sie wusste nicht einmal wohin sie dann gehen sollte. Es war das ganze Spektakel einfach nicht wert; solange die Kinder klein waren, müsste sie die schroffen Berührungen von Jürgens Händen wohl oder übel aushalten.
Sie streute jede Woche Futter in das Vogelhaus, welches die Kinder gebaut haben; es kam jedoch nie ein Vogel, der ihr von der trostlosen Welt und ihren Freuden erzählte.
Das Vogelhaus blieb leer.
Ihre Hoffnung auch.
Manchmal konnte Jürgen richtig lieb zu ihr sein. Es war recht selten, dass er wütend wurde. Schließlich war sie es jedes Mal, die seine Laune erhitzte, weil sie einfach nichts richtig machen konnte. Verlässlich blickte sie jeden Morgen in den Spiegel und versuchte an ihrer Maske nicht zu verzweifeln. Als sie sich kennengelernt haben, fand sie Jürgen bildschön.
Auf die Küche war sie besonders stolz. Jürgen überraschte sie eines Tages mit dem Angebot das Heim zu verschönern, damit sie sich wohlfühlte und nicht nach jeder Berührung seiner Hände mit den Kindern weinend weglief. Die blaugesprenkelten Fliesen, der neue Backofen und die graue Granitplatte spendeten ihr Trost. Sie ergötzte sich buchstäblich an den geräumigen Schränken und Schubladen und dem beruhigend glänzendem Geschirr. Hinter dem Nudelsieb und den Suppentellern versteckte sie die kleine Flasche Morphium.
Wenn Jürgen um drei Uhr nach Hause kam, musste sie das störende Spielzeug der Kinder wegräumen, die Zellenfenster schließen, die Haare bürsten, den Kindern den Mund zunähen und das Essen heiß servieren. Am Nachmittag hatte weder sie noch die Kinder Ausgang. Wenn Jürgen fertig war, durfte sie mit den Kindern essen. Das war nicht Routine, denn es kam oft vor, dass Jürgen das Essen nicht schmeckte oder das Geschirr ihm nicht sauber genug war. In dieser Situationen war es auch kein Problem sich anzupassen: Die Kinder gingen dann hungrig ins Bett und sie wurde mit brennender Lava und Messern gestreichelt bis sie am Abend ausgehölt und stumpf ins Bett fiel.
Sie war froh, dass die Kinder nicht mitbekamen, dass sie in einem Gefägnis lebten. Nur beiläufig wunderte sie sich warum sie morgens immer noch verkrampft im Bett lagen und sich mit ihren Kinderhänden die kleinen Ohren zuhielten.