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Alltag

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03.01.2003
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Alltag

Die Handtücher waren stets ordnungsgemäß gefaltet und die Laken rochen immer frisch. Seine Hosen bügelte sie aus Sicherheit zweimal und hing sie vorsichtig an den Kleiderbügeln auf. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, sperrte sie die Fenster weit auf, um zu lüften und dem grässlichen Gestank zu entfliehen. Glattpolierte Möbel aus Eichenholz, ein Glastisch mit bestickten Servietten, kein Staub, kein Dreck und seine Kragen hatten nie Schmutzränder. Jede Menge prachtvolle Narzissen und farbenfrohe Fensterbilder kleisterten die Gewissheit zu und dekorierten die schöne isolierte Wohnung. Manchmal glaubte sie in dem dämpfenden Duft der Blumen zu ersticken. Jürgen bestand immer auf die Verbreitung eines trügerischen und falschen Duftes um die Nachbarn zu beeindrucken. Nicht einmal ihre Eltern rochen die schleierhafte Dekadenz, wenn sie zu Besuch waren. So oft wollte sie sich jemandem anvertrauen und demjenigen alles über Jürgens raue Hände erzählen, doch sie traute sich nie. Eigentlich war es ihr Wunsch dies nie zu tun, denn die Kinder würden vielleicht dann etwas mitbekommen oder sie würde Jürgen für immer verlieren. Familienglück sollte man nicht zerreissen, wenn es bereits zerbrochen wurde. Auch die Behörden machten ihr Angst. Sie wusste nicht einmal wohin sie dann gehen sollte. Es war das ganze Spektakel einfach nicht wert; solange die Kinder klein waren, müsste sie die schroffen Berührungen von Jürgens Händen wohl oder übel aushalten.
Sie streute jede Woche Futter in das Vogelhaus, welches die Kinder gebaut haben; es kam jedoch nie ein Vogel, der ihr von der trostlosen Welt und ihren Freuden erzählte.
Das Vogelhaus blieb leer.
Ihre Hoffnung auch.
Manchmal konnte Jürgen richtig lieb zu ihr sein. Es war recht selten, dass er wütend wurde. Schließlich war sie es jedes Mal, die seine Laune erhitzte, weil sie einfach nichts richtig machen konnte. Verlässlich blickte sie jeden Morgen in den Spiegel und versuchte an ihrer Maske nicht zu verzweifeln. Als sie sich kennengelernt haben, fand sie Jürgen bildschön.
Auf die Küche war sie besonders stolz. Jürgen überraschte sie eines Tages mit dem Angebot das Heim zu verschönern, damit sie sich wohlfühlte und nicht nach jeder Berührung seiner Hände mit den Kindern weinend weglief. Die blaugesprenkelten Fliesen, der neue Backofen und die graue Granitplatte spendeten ihr Trost. Sie ergötzte sich buchstäblich an den geräumigen Schränken und Schubladen und dem beruhigend glänzendem Geschirr. Hinter dem Nudelsieb und den Suppentellern versteckte sie die kleine Flasche Morphium.
Wenn Jürgen um drei Uhr nach Hause kam, musste sie das störende Spielzeug der Kinder wegräumen, die Zellenfenster schließen, die Haare bürsten, den Kindern den Mund zunähen und das Essen heiß servieren. Am Nachmittag hatte weder sie noch die Kinder Ausgang. Wenn Jürgen fertig war, durfte sie mit den Kindern essen. Das war nicht Routine, denn es kam oft vor, dass Jürgen das Essen nicht schmeckte oder das Geschirr ihm nicht sauber genug war. In dieser Situationen war es auch kein Problem sich anzupassen: Die Kinder gingen dann hungrig ins Bett und sie wurde mit brennender Lava und Messern gestreichelt bis sie am Abend ausgehölt und stumpf ins Bett fiel.
Sie war froh, dass die Kinder nicht mitbekamen, dass sie in einem Gefägnis lebten. Nur beiläufig wunderte sie sich warum sie morgens immer noch verkrampft im Bett lagen und sich mit ihren Kinderhänden die kleinen Ohren zuhielten.

 

Hallo Moni,

einen alptraumhaften Alltag setzt Du mit Deiner Geschichte eindringlich in Szene. Da man nichts über die Motive von Jürgen erfährt und auch nicht weiß, warum sich die Frau nicht mit Hilfe der Eltern aus ihrer Situation befreien kann, bleibt mir auch der gesellschaftliche Bezug verborgen, abgesehen von der Tatsache, daß es solche Zustände in unserer Gesellschaft gibt. Warum will sie Jürgen nicht verlieren?
Es muß wohl heißen: Kennengelernt hatte; was meinst Du mit dämpfendem Duft? Welche Gewissheit wird „zugekleistert“?

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Servus Moni !

Was ich an deiner Geschichte dermaßen erschütternd finde ist der nahezu selbstverständliche Erzählstil. Das Zunähen der Kindermünder, gestreichelt von Lava, brennenden Messern. Ich hab hier schon viele schlimme Geschichten gelesen, aber die ging mir echt nah, weil die Prot. diesen Wahnsinn so einfach hinnimmt. Echt starker Text bei dem mir sofort das Bild "der Schrei" einfällt, man sieht ihn, man hört ihn aber nicht.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo Moni!

Eine sehr eindringliche Geschichte, ich kann mich Wolto und er Schneeeule nur anschließen. Es ist eine Einbahnstraße, kein Ausweichen oder Abbiegen scheint mehr möglichzu sein, die Tatsache wird hijgenommen, ausgehlaten, die Schuld dimmt die Frau auf sich... ein Bild der Abhängigkeit, das Du hier sehr sehr gut darstellst! Es berührt, beklemmt ... Munchs "der Schrei", Eva, da hast Du recht, er passt zu diesem Text!

schöne Grüße...Anne

 

Ich weiß, man sollte nicht schreiben, wenn man nichts Neues hinzufügen kann ... von daher nur ein WAU ! von mir.

Es ist die erste Geschichte, die ich hier gelesen habe ... ich hoffe, die nächste wird ähnlich gut !

Gruß,
Albert

 

Hi Moni,

ich muß mich den anderen anschließen; die Geschichte ist wirklich super. Sie glänzt meiner Meinung nach vor allem durch den sehr metaphorischen Erzählstil ("Kindermünder zunähen" etc.). Die Problematik hast Du ziemlich gut verdeutlicht, ohne wirklich in die Tiefe zu gehen. Das bleibt einem noch 'ne Weile in Erinnerung! :)

Griasle,
stephy

 

Hallo Moni,

Du hast die Brutalität, der "sie" ausgesetzt ist, unheimlich gut herausgearbeitet, ohne dabei aufdringlich auf den Leser einzuwirken. Schritt für Schritt erfährt man während des Lesens selbst, was hier durch Dekadenz, schöne Möbel, eine an und für sich tolle Wohnung und einen großen Bund Narzissen verschleiert werden soll.

Folgende Sätze gefielen mir besonders gut:

...und farbenfrohe Fensterbilder kleisterten die Gewissheit zu
Frage meinerseits: welche Gewissheit meinst Du damit?

...Nicht einmal ihre Eltern rochen die schleierhafte Dekadenz, wenn sie zu Besuch waren.
Anmerkung:Dieser Satz gefiel mir deshalb so gut, weil die Realität beschreibt. Misshandlungen an Familienmitgliedern bleiben meist über sehr lange Zeit hinweg unbemerkt.

...Familienglück sollte man nicht zerreissen, wenn es bereits zerbrochen wurde.
Anmerkung:Das ist eine harte Aussage. Hat mir irgendie einen Schlag in den Magen versetzt. Paßt sehr gut in die Gesamtaussage, die Du damit treffen wolltest.

Besonders heftig empfand ich den Vergleich mit dem Vogelhaus, das trotz regelmäßiger Futterzufuhr, ständig leer blieb. Das gibt der ganzen Geschichte einen ziemlich deprimierenden Zusatzaspekt.

Deine Geschichte hat mich echt beeindruckt.

Liebe Grüße,
AndreaK.

 

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