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Alltag einer Blinden

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22.08.2002
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Alltag einer Blinden

„Jeanine, aufstehen!“ ruft Gerda frühmorgens in das Kinderzimmer hinein. „Los! Waschen, anziehen, dann gibt es Frühstück!“ Jeanine schlägt verschlafen ihre Augen auf. Dann ist da auch noch Michelle im Gitterbett, die zu quengeln beginnt. Eine herzige Bärchenlampe und Sternenvorhänge zieren das schöne Zimmer. Jeanine beachtet weder die Lampe, noch die Vorhänge, sie hat einen ganz normalen Kindergartentag vor sich, begibt sich zum Küchentisch. Gerda greift nach den Tassen, füllt sie mit herrlich duftendem Kakao, schneidet vorsichtig Kuchenstücke, legt diese auf Teller. Für Michelle hat sie ein Fläschchen vorbereitet.
Währenddessen sagt sie: „Was hast du dir denn angezogen, Jeanine? Siehst du ordentlich aus?“, greift nach ihr und streichelt das blonde Haar. Gerda weiß nicht was blond, rot oder schwarz ist. Ein kurzer, intensiver Griff gibt über die Bekleidung des Mädchens Auskunft. „Du siehst aber schön aus!“ sagt sie fröhlich. Jeanine lächelt.
Gerda nimmt Michelle liebevoll aus dem Gitterbett, legt sie auf den Wickeltisch, tastet nach der Windel. „Ach, jetzt ist mir die Creme hinuntergefallen!“ Eine Hand liegt auf Michelle, die andere Hand sucht verzweifelt die Salbe. „Ah, da ist sie ja!“ Gerda überprüft, ob der zarte Babypo auch wirklich sauber ist. Zufrieden wird die kleine Michelle fertig gewickelt und angezogen. Geschickt knöpfen Gerda´s Hände das Hemdchen zu .Sie tastet sich die Wände entlang, bis sie die Küche wieder erreicht, nimmt das Fläschen für Michelle, die sie am anderen Arm trägt. „Bist du schon fertig, Jeanine?“ fragt Gerda, während sie Michelle füttert.
„Ja, Mama! Gehen wir dann?“
Michelle wird in den Kinderwagen gesetzt, Gerda´s Hände suchen die Gurte. Jeanine wartet. „Meinen Stock brauche ich noch!“ ruft Gerda und holt ihn schnell. „Warte Jeanine, ich komme gleich!“ Mit einer Hand zieht Gerda den Kinderwagen nach sich, an der anderen Händ hält sie ihren Blindenstock und Jeanine. Gerda kennt den Weg zur U-Bahn auswendig. „Warte, die Ampel ist rot! Wir dürfen jetzt nicht gehen!“ sagt sie zu Jeanine. Gleichzeitig hört sie auf die Geräusche der Autos. Ein Hund bellt, Gerda zuckt. Sie merkt die vielen Blicke der anderen Menschen nicht, es sind Blicke der Bewunderung und des Staunens über diese junge Frau.

Bei der U-Bahn gibt es zum Glück einen Lift. Am Bahnsteig angekommen, geht Gerda mit ihren Kindern weiter. Jeanine sieht sich eine Taube an, die sich verirrt hat. Alles geht so schnell, irgendwie gerät Gerda mit dem Kinderwagen in eine ungünstige Lage, und sie stürzt zusammen mit Michelle auf die Schienen. Die anderen wartenden Passanten sind geschockt, reagieren aber sofort. Binnen weniger Sekunden werden Gerda und der Kinderwagen zusammen mit der weinenden Michelle hochgezogen, zum Glück bevor die U-Bahn in die Station einfährt.
Gerda hat ein paar kleine Schrammen abbekommen, Michelle bleibt wie durch ein Wunder unverletzt. Gerda weint, die Kinder weinen. Niemand weiß, wie dies geschehen konnte. Der korpulente, verschwitzte Bahnhofwärter, der alles am Bildschirm verfolgt hat, kommt, und sagt unfreundlich“ Ich habe alles gesehen und hole jetzt die Polizei. Ihnen sollte man die Kinder wegnehmen.“ Wut und Angst steigen in Gerda hoch, sie sagt in einem sehr harten Ton: „SIE werden es ganz sicher NICHT schaffen, dass einer alleinerziehenden, blinden Frau die Kinder weggenommen werden!“ Gerda schnappt nach den Kindern und verlässt so schnell sie kann den Bahnsteig. Sie bedankt sich noch bei den Passanten für die Hilfe, keiner sagt etwas.

Wieder zu Hause angekommen beginnt Gerda erneut zu weinen. In diesem Moment verflucht sie ihre Blindheit. „Es gibt kaum Augenblicke, an denen ich das Blindsein hasse“ sagt sie zu mir. „ Aber dieser ist so einer.“
Nach dieser wahren Begebenheit wurden in ihrer Heimatstadt die U-Bahnstationen mit tastbaren Bodenstreifen für Sehbehinderte ausgestattet.

 

Liebe Sonnenfrau !

Alle Achtung !

Ein derart schwieriges Thema gefühlvoll und doch auch wieder emotionslos aus der Realitätssituation heraus zu betrachten ist kein leichtes Unterfangen.

Man bekommt einen Spot hingerichtet auf den Alltag einer Frau die mangels der Sicht auf die Dinge mit ihrem Leben auf ihre eigene Weise fertig werden muss.

Gut gemacht - lieben Gruß - schnee.eule

 

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