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Alles wird gut
Der kleine Junge hält sich die Ohren zu, doch er hat die Schreie seiner Eltern so oft gehört, dass sie inzwischen tief in seinem Kopf sind. Es fängt immer an, wenn er schon im Bett ist und am Anfang versuchen sich Mutter und Vater noch leise zu streiten, sodass der Junge nicht versteht, was gesprochen wird. Doch mit jedem Satz steigern sich die Erwachsenen mehr rein und es wird lauter und Türen fliegen und Dinge gehen zu Bruch. Doch verstehen kann es der Junge auch dann nicht.
Er verkriecht sich unter seine Bettdecke und hofft, dass irgendwann alles vorbei ist und sie wieder eine richtige Familie sind. Dass der Vater morgens mit ihnen Frühstück isst und nicht nur kommt, wenn das Abendessen schon kalt ist. Dass sie gemeinsam in den Zoo gehen und nicht mehr nur mit großem Abstand das Haus verlassen. Dass sich Mama und Papa wieder so liebhaben, wie er die beiden liebhat. „Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut.“ Wie ein Mantra wiederholt er den Satz im Kopf und versucht, es sich selbst zu glauben.
Manchmal steht er auf und schlurft in seinem Astronautenschlafanzug ins Wohnzimmer. Meist vergehen dann einige Minuten, bis einer der beiden Erwachsenen ihn überhaupt bemerkt, so sehr sind sie damit beschäftigt, sich gegenseitig Worte an den Kopf zu werfen die dort abprallen wie an einem verbeulten Stahlhelm. Irgendwann sehen sie dann aber, wie der Junge verloren und traurig im Türrahmen steht und dann wird es schlagartig still und es ist so, als hätte nicht vor wenigen Sekunden noch eine riesige Gewitterwolke im Zimmer gehangen. Dann wird er ins Bett gebracht und für den Rest des Abends ist Ruhe, oder zumindest bis er irgendwann erschöpft einschläft.
Heute ist es aber so schlimm, dass er sich nicht traut, das Zimmer zu verlassen. Und auch nach mehreren Minuten ist nicht wieder alles gut, selbst wenn er es sich so sehr wünscht. Er will irgendwas tun, doch er ist hilflos. Er fühlt sich zu klein, um gegen die großen Probleme der Erwachsenen anzukommen. Da kommt ihm eine Idee. Er geht zu seinem Schreibtisch und nimmt seine Bastelschere und ein Blatt von dem schwarzen Papier. Etwas ungelenk schneidet er eine Form aus, die wohl eine Fledermaus sein soll, aber auch mit viel Fantasie nur schwer als solche zu erkennen ist. Dann nimmt er sich die Taschenlampe, die für den Notfall neben dem Bett steht, wenn er mal wieder das Gefühl hat, dass sich ihm Monster im Schutze der Nacht nähern. Und er legt das Stück Papier in den Lichtschein und leuchtet zum Fenster und hofft, dass irgendjemand dort draußen sein Notsignal erkennt und ihn rettet.
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Die Taxifahrerin hat bald Feierabend. Was für ein Tag. Stau auf der Stadtautobahn, das ewige Stop and Go, dass ihr niemand bezahlt. Dann der Geschäftsmann, der sie fünf Minuten vor dem Bürogebäude in Mitte hat warten lassen und es dann nicht mal fertiggekriegt hat, sich zu entschuldigen. Über das Trinkgeld brauchen wir gar nicht zu sprechen.
Überhaupt, denkt sie, geben immer die am meisten Trinkgeld, die es sich wahrscheinlich nicht mal leisten können. Die Menschen, für die ihre Dienstleistung immer noch ein Luxus ist. So wie die Studentin, die sich nicht anders zu helfen wusste, weil ihr Fahrrad geklaut wurde und sie dringend zu einer wichtigen Klausur musste. Sie war kaum ansprechbar und fertig mit den Nerven, aber sie hat trotzdem noch dran gedacht, zehn Euro Trinkgeld zu geben, obwohl die Fahrt nur zwanzig kostete. „Ich hab es nicht kleiner, aber ich weiß, dass Sie auf das Trinkgeld angewiesen sind. Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal und dann können Sie mich umsonst mitnehmen.“ Und sie würde es tun.
Die letzte Fahrt heute führt sie nach Moabit, dort war sie aufgewachsen und kannte jede Straße auswendig. Sie weiß noch, wie sie sich immer heimlich mit ihrer Freundin am Kanal getroffen hat und sie dann verliebt Händchen gehalten und auch das erste Mal geküsst haben. Sie lächelt, als sie daran zurückdenkt. Wie es ihr wohl heute geht? Immer, wenn sie an der Stelle vorbeifährt, nimmt sie sich vor, ihre Nummer rauszusuchen und sie mal anzurufen. Doch entweder vergisst sie es oder es fehlt dann Zuhause doch der Mut. Alles wird gut – das haben sie mit orangener Farbe an die Wand geschrieben, nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen haben und so voller Euphorie waren, dass sie er der ganzen Welt oder zumindest einem kleinen Teil von Moabit mitteilen wollten.
Auch heute, 30 Jahre später, hat dieses Denkmal überdauert und noch immer schreit die Wand am Kanal, dass alles gut wird. Auch wenn es mit den beiden nicht gut gegangen ist, würde sie doch alles noch einmal genau so machen. Sie stellt das Taxi vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses ab. Ihr letzter Fahrgast lässt sie warten, typisch. Als sie auf ihrem Smartphone gerade einen Frauennamen eingibt, sieht sie in einem der Fenster einen kleinen Jungen. Er sieht traurig aus und hält eine Taschenlampe, auf der ein Stück Papier liegt, in den Nachthimmel.
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Wir wollen beide nicht loslassen, aber wir wissen, dass es nicht anders geht. Sie weint und auch ich kämpfe mit den Tränen. Den ganzen Abend haben wir diesen Moment aufgeschoben, immer wieder verhandelt, gekämpft und uns an Strohhalmen festgeklammert, die unter dem Gewicht der Emotionen nachgegeben haben. Ich wünsche mir so sehr, dass sie bleibt und auch sie will nicht, dass ich gehe. Aber wir zwei kommen einfach nicht zusammen.
Es war einfach der falsche Zeitpunkt, zu dem wir uns getroffen haben. Ich wollte eine Beziehung, sie wollte sich selbst finden. Ich dachte, ich hätte sie gefunden und sie war froh jemanden gefunden zu haben, mit dem es schön und entspannt und leicht war. Alles wird gut habe ich damals meinem besten Freund geschrieben, nachdem wir uns zum ersten Mal getroffen haben und die ganze Nacht durchgeredet haben. Alles war gut, auch beim zweiten und dritten Treffen, bei dem wir uns mehr und mehr kennengelernt und uns unsere Lebensgeschichten anvertraut haben. Und irgendwann ging es mir zu gut mit ihr und sie ging auf Abstand und dann war nichts mehr so richtig gut.
Ich bin komplett hilflos und weiß nicht wohin mit meinen Armen und Händen, die sich verkrampft an der zehnten Zigarette festkrallen. Ich will sie halten und ganz nah bei mir haben, aber gleichzeitig brauche ich den Abstand, um mich nicht selbst zu verlieren. Und dadurch werde ich sie verlieren, was mich innerlich zerreißt. Am schlimmsten war, als sie die ersten Tränen flossen. Das hat mich komplett zerstört. Da steht jemand vor dir und will stark sein und du weißt, dass ihr beide nicht stark genug seid und dann geht es los. Erst ein leichtes Schluchzen, dann versagt die Stimme und dann dreht sie sich weg und ich weiß genau, was gerade in ihrem Gesicht passiert. Und ich traue mich trotzdem nicht, sie einfach zu nehmen und all das wegzuwischen, was ihre Schminke gerade komplett verwischt.
Wir brauchen diese Pause und ich weiß, dass das, was wir haben, besonders ist. Zu einzigartig, um einfach so zu verschwinden. Zu schön für dieses tränenreiche Dramenende. „Wann sehen wir uns wieder?“ fragt sie mich mit zittriger Stimme und es ist eine von den vielen Fragen, die ich mir selbst schon hundertfach gestellt habe und auf die ich einfach keine Antwort weiß. Ich bleibe stumm und zucke mit den Schultern und sie hat mit keiner anderen Antwort gerechnet und hat auf eine ganz andere Antwort gehofft.
Ich rufe mir ein Taxi und wir stehen lange, viel zu lange, auf dem Flur der kleinen Wohnung. Wir ringen nach Atem und Worten und uns fällt nichts ein. Im Hollywoodfilm würden wir uns jetzt küssen und das Taxi müsste ohne Fahrgast wieder fahren. Aber wir sind nicht in Hollywood, sondern in Moabit und so atme ich noch einmal tief aus und hoffe, dass ein bisschen was von meiner Luft noch lange in diesem Flur bleibt und sie immer, wenn sie in die Küche geht ein bisschen was von mir bei sich hat. Und dann gehe ich und lösche noch im Flur die Nummer aus dem Handy. Und nichts fiel mir je schwerer, ich kann durch das Wasser in meinen Augen kaum etwas auf dem Display erkennen. Ich bemerke auch nicht, dass sie im selben Moment unsere Facebook-Freundschaft aufgelöst hat.
In meinem Kopf hallt noch ihre Stimme nach: Warum kann nicht alles gut sein und das ist viel lauter als alles um mich herum. Viel lauter als der Lärm der Stadt, viel lauter als die vorbeifahrende S-Bahn, viel lauter als das streitende Paar in der Nachbarwohnung. Ich sehe das Taxi und die Fahrerin schaut zu einem der Fenster nach oben, in dem ein schwaches Licht leuchtet. Ich mache mir noch schnell eine Zigarette an, um irgendwas zu tun. Und auch wenn wir uns geschworen haben, dass wir uns wiedersehen, fühlt es sich doch wie ein Ende an.