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Alles was du über das Leben wissen musst, kannst du beim Lego spielen lernen
Eli saß ruhig vor ihren Legos. Sie wusste noch nicht, was sie bauen sollte. Ihr Onkel hatte ihr eine Packung Legosteine geschenkt. Sofort hatte sie angefangen zu bauen, war aber nicht zufrieden gewesen. Ihr Bruder Leo war zu ihr gekommen: „Das ist ja voll hässlich!“ Mit einem Tritt und einem wilden Schrei hatte er alles niedergerissen. Eli war nicht traurig gewesen, nur sauer auf ihren dummen Bruder. Leo war mit seinen sechs Jahren bereits stärker als sie und legte ihr gegenüber eine Respektlosigkeit an den Tag, auf die sie keine Antwort wusste. Sie hatte sich die Trümmer angesehen und wohl doch ein wenig traurig dabei ausgesehen. Zumindest war ihr Onkel zu ihr gekommen, um sie zu trösten und Leo zu seiner Mutter zu schicken. Er hatte sich neben sie gesetzt und hatte ihr geholfen die Bauklötze wieder auseinanderzubauen. Als Eli gerade wieder anfangen wollte loszubauen, sagte er: „Hast du gewusst, dass Bauklötze bauen viel mit dem Leben zu tun hat?“ Er sah sie ernst an: „Du kannst bauen, was du willst, und wenn dir nicht gefällt, was du gebaut hast, kannst du Teile wieder abnehmen und neu anbauen. Es gibt niemanden, der dir sagen kann, was du bauen sollst. Lass dir von niemandem einreden, dass das, was du gebaut, hast falsch ist. Wenn es dir gefällt, hat es auch einen Sinn. Wenn es dir nicht gefällt, mach es neu. Und wenn du nicht die Bauklötze hast um eine Rakete zu bauen, kannst du aufgeben oder du strengst dich mehr an, bis du eine Rakete hinbekommst. Eigentlich kannst du alles, was du über das Leben wissen musst, beim Lego spielen lernen.“
Naja zugegeben, ihr Onkel hatte sich da vielleicht etwas zu sehr hineingesteigert. Aber den Grundgedanken fand Eli nicht schlecht. „Wenn es mir gefällt, hat es auch einen Sinn.“ Sie mochte das Bild vom Kind, das mit Bauklötzen sein eigenes Leben entwirft. Viel zu oft hatte sie sich schon gefragt, worin der Sinn in ihrem Handeln lag. Und viel zu oft war sie zu der Überzeugung gelangt, dass ihr Leben sinnlos war. Vor kurzem hatte sie sogar beschlossen Selbstmord zu begehen. Nicht sofort, aber spätestens mit 30 Jahren. Genauer gesagt war ihr dieser Gedanke vor zwei Wochen im Urlaub gekommen.
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Auf der langen Fahrt nach Italien hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt.
Ein Mann, seinen Namen hatte sie vergessen, hatte auf vier andere Männer geschossen, ohne diese Männer gekannt zu haben oder irgendein Ziel zu verfolgen. Im Radio sagten sie, er sei „geistig verwirrt“ gewesen. Ihre Eltern schalteten schnell auf die CD um, die ihr kleiner Bruder so mochte. Sicher war er verrückt gewesen - sie wusste, dass es solche Leute gab. Was sie aber wirklich interessierte und über was sie fast die gesamte öde Fahrt nachdenken musste, was sie fast um den Verstand brachte, war der Gedanke, dass man einfach so, ohne Vorwarnung und ohne dass man etwas Böses getan hatte, sterben konnte. Für die Männer war es einfach Pech gewesen an diesem Tag, diesem Verrückten begegnet zu sein. Eines Tages könnte auch jemand kommen und sie erschießen. Sie könnte auch einem Autounfall, einem Hausbrand oder einer schlimmen Krankheit zum Opfer fallen. Was auch immer, irgendetwas würde sie früher oder später umbringen. Sterben musste jeder. Dieser verstörende Gedanke ließ sie nicht mehr los, auch wenn sie sich noch so anstrengte, ihn zu vergessen.
Ihren Urlaub verbrachte sie hauptsächlich am Strand. Während Leo Sandburgen baute und ihre große Schwester Josephine erste Erfahrungen im Küssen von Jungs sammelte, saß sie im Sand, dachte über den Sinn des Lebens nach und beobachtete die Wellen, die unaufhörlich gegen den Strand schlugen. „Das machen die schon wie lange?“ „Seit ein paar Millionen Jahre.“, hatte ihr Vater gesagt, „Lange bevor es Menschen gegeben hat.“ Sie versuchte sich vorzustellen, wie lang eine Millionen Jahre sind. Die Erde muss lange einfach nur dagelegen haben, bevor jemand gekommen war, der etwas mit ihr anfangen konnte. Eli kam sich bei diesem Gedanken sehr klein und unbedeutend vor. Sie war enttäuscht und während sie weiter auf die Wellen schaute, kam sie zu dem Schluss, dass das Leben ein sinnloses Arschloch war. Das Leben wollte nichts von ihr. Es gab keinen Gott und wenn doch, interessierte er sich einfach nicht für sie. Wenn sie sterben würde, würde die Welt sich weiterdrehen, die Wellen weiter brechen und irgendwann würde sich keiner mehr an sie erinnern können. Es gab nichts was sie dagegen tun konnte.
Sie hatte sich früher nicht vorstellen können, dass die Welt; das Leben; die Schönheit der Pflanzen und Tiere; ja komplett Alles; absolut sinnlos und willkürlich war. Daher hatte sie auch gewusst, dass sie unsterblich war. Denn ohne Leben nach dem Tod konnte es auch keinen übergeordneten Sinn geben. Tief in ihrem Inneren hatte sie daher immer an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Nicht an Himmel und Hölle, das wäre dumm gewesen. Auch wenn einige sehr sporadische Kirchenbesuche zu Weihnachten und Ostern eine gewisse Unsicherheit in ihr, in Bezug auf Religion, ausgelöst hatten, war sie sich doch immer sicher gewesen, dass die Hölle nur erfunden worden war, um den Leuten Angst zu machen. Aber Irgendetwas musste da doch noch sein, es konnte doch nicht mit dem Tod einfach Schluss sein.
Sie versuchte sich das Nichts vorzustellen. Keine Gedanken; keine Gefühle; keine Erinnerungen; ja nicht einmal Schwärze. Alles weg. Das zufällige Ende des kleinen Fleischbergs, der Eli hieß. Und irgendwann konnte sie es. Plötzlich fand sie, dass ein abruptes Ende sogar besser zu dieser Welt passte. Man musste nur akzeptieren, dass die Welt zufällig entstanden war und es keinen Gott gab. Alles war damit plötzlich einfacher zu erklären, da die Frage nach dem Grund wegfiel. Demnach gab es aber auch kein Leben nach dem Tod. Das Leben war absolut sinnlos.
Die anderen Menschen hatten diese Sinnlosigkeit anscheinend nicht entdeckt, denn sie verhielten sich dafür viel zu ernst und angstvoll. Sie glaubten demnach immer noch, mehr oder weniger, an den Himmel und waren nur daran interessiert, nichts zu tun, was Gott verärgern könnte. Ihrem Verhalten nach saßen sie ihre Zeit auf der Erde ab und warteten nur, bis sie endlich erlöst würden. Wenn man wusste, dass das Leben keinen Sinn hat, konnte man doch keine Schuldgefühle haben, weil man sein Zimmer nicht aufgeräumt hatte und sich ruhig in der Schule verhalten, während Draußen die Sonne schien. Man musste leben, jede Sekunde tun wozu man Lust hatte und dabei glücklich sein. Sie konnte tun und lassen was sie wollte, solange sie nur keiner dabei erwischte. Die Menschen hatten die Sinnlosigkeit noch nicht entdeckt, weil sie sich das Nichts nicht vorstellen konnten. Vielleicht waren sie auch zu dumm oder einfach zu faul dazu. Diese Menschen wollten ihr Grenzen setzen und sie zu einem Leben nach Gottes Vorstellungen zwingen. Aber es gab keinen Gott. Und die Grenzen waren nicht mehr bindend. Eli beschloss, sich nie wieder etwas von anderen vorschreiben zu lassen und nichts mehr zu tun, was keinen Spaß machte. Dieses Leben gehörte ihr und die Welt war ihr Spielplatz.
„Was hast du gesagt?“
„Nichts.“
„Mama! Eli redet komisches Zeug!“ Josie lachte.
„Was hat sie denn gesagt?“
„Die Welt ist mein Spielplatz! Dabei hat sie so geguckt.“ Als Elis Mutter sich auf dem Beifahrersitz umdrehte, imitierte Josie Elis euphorischen Gesichtsausdruck, bei dem Sie ausgesehen hatte, als hätte sie gerade Gott gesehen. Die Familie war bereits wieder abgereist und auf dem Weg nach Hause, Eli und ihre Geschwister saßen auf dem Rücksitz des Porsche Cayenne.
„Das ist schön, Süße. Genieß deine Kindheit, so lange du noch kannst, zum erwachsen werden wirst du noch genügend Zeit haben.“
„Warum kann ich als Erwachsene nicht weiterspielen?“ Eli musste sich anstrengen sich normal zu verhalten, aber sie hatte Angst vor der Antwort. Ihr Vater sah sie durch den Rückspiegel mit einem ernsten Gesichtsausdruck an, der für ihn sehr typisch war:
„Weil man als Erwachsener niemanden mehr hat, der für einen das Essen besorgt und für ein Dach über dem Kopf sorgt. Dann müsst ihr all die Dinge selber erarbeiten, die ihr Kinder jetzt noch von uns bekommt. Deshalb gehe ich jeden Tag zur Arbeit, und deshalb müsst ihr eines Tages auch arbeiten gehen. Da gibt es keinen Weg dran vorbei. Deshalb müsst ihr euch in der Schule auch anstrengen, denn nur wenn ihr etwas lernt könnt ihr einmal einen guten Job bekommen. Wer als Kind nichts lernt, putzt als Erwachsener Toiletten. So einfach ist das.“
Elis Geschwister hatten während der Predigt des Vaters angefangen sich gegenseitig zu treten. Alle drei hatten sie bereits öfters gehört und hätten sie auch auswendig aufsagen können, wenn die Worte nicht jedes Mal zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr wieder rausgegangen wären. Aber dieses Mal blieben sie bei Eli haften. Sie beunruhigten sie und machten sie traurig. Sie war nicht frei, denn sie musste lernen und später einmal arbeiten. Sie würde sich ihr ganzes Leben anstrengen müssen, um einen akzeptablen Job zu finden. Dann würde sie jeden Tag um acht Uhr aufstehen und den ganzen Tag arbeiten müssen. Das klang nicht nach Spaß. Spätestens mit 30 Jahren würde sie mit einer Arbeit beginnen müssen, für weitere 60 Jahre oder so. Das konnte sie nicht zulassen, nicht nachdem sie jetzt nicht mehr zurück konnte. Selbst wenn sie wollte konnte sie nicht mehr an ihre Unsterblichkeit oder einen Sinn in ihrem Leben glauben. Das einzige was sie tun konnte, war ihr Leben zu genießen. Also musste sie von vornherein sich gegen die Arbeit wehren. Was ist mehr wert? Ein langes, anstrengendes und freudloses Leben, oder ein kurzes Leben mit viel Spaß? Für Eli war die Antwort klar, denn wenn ihr Leben anstrengend und freudlos werden sollte, dann wollte sie lieber sofort sterben. Es war besser kurz zu leben und dafür richtig.
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Eli wusste immer noch nicht was sie bauen sollte. Wenn ihre Gedanken im Urlaub richtig waren, war es sowieso egal was sie jetzt baute. Wen sollte es schon interessieren und welchem Sinn sollte es dienen? Aber ihr Onkel hatte gesagt, der Sinn entstehe dadurch, dass Eli es selber gut findet.
Wenn ich morgen sterbe geht zwar davon nicht die Welt unter, für mich aber irgendwie schon.
Mit diesem Gedanken nahm Eli zwei Legos in die Hand und fing an zu bauen.