Alles was bleibt
Ich heisse Lilian.
Ich bin nichts.
Ich kann nichts.
Und ich will auch nichts können. Und selbst wenn ich etwas könnte, würde ich es nicht berichten. Weder hier noch sonst irgendwo.
Es interessiert auch niemanden.
Ich habe keine richtigen Freunde.
Keine Kameraden.
Ich habe keine Geschwister. Und meine Familie legt keine großen Wert auf mich.
Und somit wisst ihr so gut wie alles über mich.
Mein Leben ist mehr als langweilig. Es ist grausam. Ausserdem deprimierend, weil siehe oben; hart, weil siehe oben; und scheisse, weil siehe oben.
Ich bin so ungefähr 22 Jahre alt, feiere meine Geburtstage allerdings seit ein paar Jahren nicht mehr. Es ist frustierend, jedes Jahr am gleichen Tag in seiner Wohnung zu sitzen, ein Teelicht anzuzünden und sich in voller Hoffnung auf Besserung die Kante zu geben.
Sekt gibt’s bei mir auch nicht, weil es niemanden gibt, der mit mir anstoßen will.
Und wieso ich euch die Ohren voll jammere, weiss ich auch nicht.
Wieso ich das aufschreibe, kann ich euch jedoch sagen: Hallo!!! ICH bin auch noch da!
Der Alltag ist eben Alltag – er ist nichts anderes und gibt auch nicht vor, etwas anderes zu sein. Und der Alltag ist, was ich am allermeisten hasse. Jeden Tag will ich schreien, ich will heulen, ich will Glas durch die Gegend werfen und Kissen zerreissen. Doch stattdessen stehe ich alltäglich auf, mache mein Bett, gehe zur Arbeit und lebe ein ordinäres Leben. Ich kaufe ein, ich mache den Haushalt, hänge Wäsche auf, ich schaue fern. Nur eben allein. Alles.
Ich treffe auf der Arbeit sehr viele Leute, Unmengen an Leuten, und alle reden mit mir. Sie sind freundlich und direkt. Das war’s dann auch. Und sie riechen manchmal widerlich...
Meinen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört. Ich werde entweder mit meinem Nachnamen angesprochen oder mit einem von mir erfundenen Namen. Lilian ist nicht mein richtiger Name. Aber Lilian klingt elegant. Es klingt, als sei wenigstens mein Name etwas wert.
Wollen wir auf den Punkt kommen: Ich habe Bulimie, bin manisch – depressiv und eine Nutte.
Alles, was ich kann, ist mir mit Sex etwas Geld zu verdienen. Nein, ich gebe das Geld nicht für neue Schuhe aus, sondern für meine Tochter. Meine kleine Tochter Marlen. Marlen soll es einmal besser haben, als ich. Sie soll Freunde haben, gesund sein und einen normalen Job beginnen. Um eine Grundlage für das alles zu haben, werde ich sie mit etwas Geld unterstützen. Nur für sie verkaufe und zerstöre ich meinen Körper. Das ekelerregendste, was man sich antun kann, denken Sie, ist seinen Körper an fremde, übelriechende, notgeile Säcke zu verkaufen. Nein, das ist nicht ekelerrenegend. Ekelerregend ist mein Körper selber und das ständige Erbrechen. Ich versuche ihn zu leeren. Und bei jedem Kotzen spüre ich, dass ich schon leer bin.
Änderung, sagen Sie? Nein, keine Chance. Ich bin ganz unten. Allein kann ich mir nicht helfen. Und zu meinem Pech gibt es niemanden, der mir helfen kann.
Mit dem Geld, das ich verdiene, könnte ich mir zwar eine Versicherung oder direkt eine Therapie leisten, aber was täte ich dann mit Marlen? Wo sollte sie hin? Und wer kümmerte sich um sie?
Und ausserdem... angenommen, ich würde die Therapie gegen die Ess – Brecht – Sucht bezahlen und durchmachen ... mit welchem Geld bezahle ich dann den Entzug?
Ich bin ein dreckiger Junkie.
Marlen soll mich so nie sehen. Sie soll denken, ich sei eine gute Mutter gewesen. Sie soll denken, ich hätte alles für sie gegeben. Sie soll denken, ihre Mutter habe nur für sie gelebt und nicht für die scheiss Drogen oder fressen und kotzen.
Marlen ist ein hübsches Mädchen. Sie hat wunderschöne blaue Augen und lange blonde Haare. Und Locken. Sie hat ein wunderschönes Gesicht und das wunderbarste Lächeln der Welt. Sie hat jetzt schon einen Charme wie eine „Große“! Dabei existiert sie noch gar nicht so lang...
Ohne Marlen wüsste ich nicht, was ich tun sollte.
Marlens Vater? Ich weiss nicht, wer. Am Tag schlafe ich mit hunderten von Männern. Und ich kann doch nicht jeden, den ich an diesem Tage befriedigte, bitten, sich einem Vaterschaftstest zu unterziehen. Ja, vielleicht würde ich von ihm Unterstützung bekommen. Unterhalt, Hilfe. Aber die brauche ich nicht und die habe ich nicht verdient. Ich kann selbst für Marlen kämpfen. Einmal wird Marlen stolz auf mich sein. Einmal.
Einmal soll Marlen zur Schule gehen. Eine große Schule, mit vielen Fenster, aus denen sie die Vögel beobachten kann. Sie soll sehen, wie anmutig diese Tiere ihre Freiheit genießen können. Marlen soll in einem gehobeneren Viertel aufwachsen, bei einer guten Familie. Vielleicht lebe ich ja auch dort... Marlen soll viele Freunde haben, gute Freunde. Freunde, die sie von Drogen und Ängsten bewahren und für sie da sind. Marlen wird sich wohl fühlen.
Vielleicht sollte ich sie zu einer besseren Familie geben. Wahrscheinlich bin ich zu untauglich für sie. Sie braucht doch jemanden, der ihr mehr bietet, als Geld, eine Schule und ein einigermaßen gesichtertes Leben. Liebe kann ich ihr niemals geben. Ich kann ihr auch nicht genügend Aufmerksamkeit geben. Sie wird Angst vor mir selbst bekommen, wenn sie mich würgen hört, oder mich mit einer Ladung Koks auf dem Klo erwischt. Und die vielen fremden Männer...
Ja, ich werde Marlen weggeben. Marlen soll nicht so werden wie ich. Marlen soll gut sein, sie soll alle erstaunen, sie soll glücklich sein, sie soll gesichert sein, sie soll IRGENDETWAS sein. Nicht so wie ihre Mutter. Sie soll irgendetwas sein. Und nicht nichts. Marlen ist gut.
Ich heisse Lilian.
Ich bin nichts.
Ich kann nichts. Und ich will auch nichts können. Und selbst wenn ich etwas könnte, würde ich es nicht berichten. Weder hier noch sonst irgendwo.
Es interessiert auch niemanden.
Ich habe keine richtigen Freunde.
Keine Kameraden.
Ich habe keine Geschwister. Und meine Familie legt keine großen Wert auf mich.
Und ich wünschte, Marlen wäre nicht länger nur ein Wunsch.
Ich wünschte, wenigstens Marlen würde existieren.