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Alles Scheiße
Alles Scheiße.
„Fuck! Erst halb sieben“, zuckte es durch meine müden Gehirnwindungen als der Wecker fröhlich-wach vor sich hin piepste als wäre es schon halb zwölf. Mühsam schälte ich mich aus meiner warmen Bettdecke, und als mein linker Fuß die kalten Kacheln des Fußbodens berührte, schnellte er wie von Zauberhand wieder zurück in das mollig-warme Schlafparadies meines Betts. „Nein, nein, N E I N“, brummelte ich vor mich hin, „nicht noch mal einschlafen.“
Also stand ich auf – widerwillig, mürrisch und noch viel zu müde. „Warum muss auch der verdammte Zug so früh fahren?“ Es war immer das gleiche an diesem beschissenen Montag Morgen: Punkt Eins: halb sieben aufstehen; Punkt Zwei: kurz nach Sieben den Zug nehmen; Punkt Drei: Zehn Minuten vom Bahnhof zur Uni laufen; Und dann Punkt Vier: Eine verpisste, lange halbe Stunde – die ich eigentlich länger schlafen könnte – vor dem verkackten Hörsaal rumstehen und warten bis die Vorlesung anfängt, die noch dazu so langweilig sein wird, dass ich eigentlich gleich weiterschlafen könnte...
Aber ich war ja gerade erst knapp hinter Punkt Eins: Die Toten-Auferstehung. An diesem Morgen passte alles zusammen: Der Kaffee zu heiß weil die Milch, die ihn eigentlich abkühlen sollte, so sauer war, dass sie nicht mehr aus der Packung in den Abfluss floss, sondern klumpte und platschte. Dieser gotterbärmlich stinkende Sauermilch-Brei landete dann natürlich durch chaosartige Spritzvorgänge auf dem frischen Hemd, macht aber nix weil fünf Minuten danach auch noch die Zahnpasta drauftropfte. Frisches Hemd war also angesagt doch der Kleiderschrank zeigte nur gähnende Leere, also drauf mit dem Wasser auf das dreckige Hemd und das Gröbste raus gewaschen.
Als ich die Haustür aufmachte, schlug mir erstmal der stechend-kalte Eiswind ins Gesicht und das teilweise nasse Hemd trug zu Unterkühlung noch bei. Die zehn Minuten zum Bahnhof wurden zur Tortur, die Nase fror ab, die Ohren nahmen eine Farbe irgendwo zwischen Purpur-Rot und Faulgelb an.
Als ich dann endlich im Zug war, triefte die Nase so, dass ich zum Taschentuch greifen musste, das leider mal wieder nicht in der Jackeninnentasche war, sondern auf dem Küchentisch zu Hause. Die Viertelstunde im Zug wird also zur Schnief-Arie, die Leute kuckten schon. Wenigstens war es hier im Zug mollig warm. Plötzlich erhebt sich hinter mir ein schwer schnaufender, dicker Herr aus seinem durchgesessenen Sitz (ich glaube, er locker in zehn Minuten diese Mulde da rein gesessen) und öffnet so resolut das Fenster, dass ich nicht zu widersprechen wagte. Wieder peitschte mir der eisig-kalte Wind ins Gesicht und so langsam glaubte ich zu merken, wie die Nasenschleimbahnen unter meiner Nase zu gefrieren beginnen. „Nix wie raus hier“, dachte ich dann, als der Zug mit quietschenden Bremsen am Bahnhof ankam, „immerhin zieht’s da draußen nicht so wie hier drin.“
In meine viel zu dünne Sommer-Herbst-Übergangsjacke gemummelt will ich aus dem Zug aussteigen, aber natürlich drängen die Leute von draußen als erstes rein. „Verdammte Kacke!“, dachte ich erbost – halb wirklich, halb genervt von diesem herrlichen Scheisstag – und drückte mich unter Schulterremplern und Fußtritten aus dem Zug. Beim Aussteigen riss unter der Überbelastung der Menschenmenge und der damit verbundenen Berührungsintensität zu allem Überfluss auch noch mein Rucksack-Reißverschluss und die Ordner, die sich während des Semesters allmählich füllen sollten, fielen nicht nur auf den Boden, nein, sie fielen zwischen Zug und Bahnsteig, dahin, wo die vielen Zigaretten-Kippen, McDonalds-Tüten und sonstiger Müll lagerte. „Scheiß auf den blöden Ordner, Sascha“, sagte mir ein innerer Schweinehund und ich bahnte mir den Weg Richtung Uni und freute mich ein bisschen auf die Wartezeit im Warmen.
Ich lief also vom Bahnhof gen Innenstadt und plötzlich ... – Zeitlupe. Schritt vor Schritt, durchgelaufene Schuhsohle auf kalten Asphalt. Die Augen schweifen durch die Straße. Da – ein Augenpaar, dunkelbraun wie eine schmackhafte, reife Haselnuss – wie aus dem Gesicht eines Rehs. Es kam mir entgegen, dieses unbeschreiblich warme, wunderschöne Gesicht mit den faszinierenden Augen. Sie war wundervoll – sie hatte ein zartes, fein gezeichnetes Gesicht. Schmale Lippen, die ein befreites Lächeln mit sich trugen. Verträumt ging sie einfach so durch die Straßen, hier, jetzt, auf mich zu. Die große, rote Alarmlampe mit der Aufschrift „ANSPRECHEN!“ blinkte und hupte wie verrückt in meinem Gehirn und ... – sie ging an mir vorüber. Die Frau meiner Träume, die eine einzige Frau, die so viel mehr als irgendeine Frau ist. In wenigen Sekunden war es vorbei. Ihre wunderbaren Augen warfen nun die Blicke in die entgegen gesetzte Richtung wie meine. Sie war weg – verschwunden in der pulsierenden Menschenmenge einer erwachenden Stadt. Doch die Wärme ihrer Blicke trug ich noch den ganzen Tag in meinem Herzen, und noch einige Zeit danach.