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Alles nur für einen Stein
[1.Korrektur]
Messerscharfe Zähne blitzten im Rampenlicht auf.
Auf das Gebrüll folgte ein Gewirr aus Schreckensschreien. Dann warfen sich kräftige Pranken und Kiefer auf eine zusammengekrümmte Gestalt. Blut spritzte und zahlreiche Menschen die im Hintergrund auf Bänken gesessen und begeistert zugeschaut hatten, sprangen nun auf. Panisch flohen sie aus dem großen Zelt, während der Mann im Käfig zerfleischt wurde. Das war das Ende des "großen Zirkus Europa”.
“Sie sind unsere Hauptverdächtige, verstehen Sie nicht was das für Sie bedeutet?”
Natürlich wusste Jenny das. Dennoch schwieg sie nur und schmollte weiter vor sich hin, wie sie es in den letzten zwei Stunden im Verhörraum auch getan hatte.
Die brutalen Bilder ihres letzten Arbeitstags gingen ihr nicht aus dem Kopf. Das war mittlerweile fast eine Woche her. Ihr Mentor wurde an dem Tag von seinen Raubkatzen umgebracht und schnell waren Beweise aufgetreten, die eine gezielte Manipulation des Auftritts bestätigt hatten. Jenny hatte nicht im geringsten eine Ahnung davon, welche angeblichen Fakten auf ihre Schuld hinwiesen, noch konnte sie sich vorstellen, dass diese überhaupt einen Mord beweisen konnten.
Das Dezernat hat einfach zu wenig zu tun, dachte sie sich.
“Fräulein, ich sage es Ihnen ein letztes Mal, wenn Sie jetzt ihr Geständnis ablegen wirkt sich das auf Ihren Prozess positiv aus."
Der Beamte vor ihr wurde eindringlich.
“Ich werde nichts sagen, bevor ich mit meinem Anwalt gesprochen habe."
Der Fakt, dass sie mit ihrem Freund kurz nach der Tat versucht hatte zu fliehen, sprach nicht gerade für Jenny. Nach einer spektakulären Verfolgungsjagd wurden beide gestellt und festgenommen. Nachdem Jennys Freund verhört wurde, hatte er sie im Warteraum mit einen vielsagenden Blick abgelöst. Dabei war keiner der beiden in der Lage gewesen ein Wort miteinander auszutauschen.
Mit einem genervten Fluchen verließ der Beamte den Verhörraum und knallte die Tür hinter sich zu. Nachdenklich nahm Jenny einen Schluck kalten Kaffee, aus ihrer fast leeren Tasse.
Kurz vor seiner letzten Aufführung hatte Antonio den Futtereimer für seine Raubkatzen von Jenny entgegengenommen, der vermeintlich mit frischem Fleisch gefüllt war. Sie erinnerte sich noch allzu gut daran, denn an dem Abend war sie äußerst aufgeregt gewesen.
Vor ihrem inneren Auge sah sie noch seinen geschockten Blick, als er in den Eimer griff und nicht das herausholte, was er erwartete hatte. Dabei hatte er sich auch noch an einer Kante in die Finger geschnitten. Sie hörte noch das Fauchen der unruhigen Raubkatzen, die vergebens auf ihre Belohnung warteten. Keiner hatte in diesem Moment reagiert und versucht dem Dompteur zu helfen.
Die Tür öffnete sich und einen junge Frau im dunkelroten Overall und schwarzen Stiefeln betrat den Verhörraum. Um ihre Schulter hing eine schwarze Umhängetasche aus Leder, die sie unter den Tisch legte, als sie zu Jenny trat. Sie setzte sich Jenny gegenüber, kreuzte ihre Beine und wischte sich ihr schulterlanges braunes Haar aus dem Gesicht. Dann richtete sie ihre strahlend blauen Augen auf die Verdächtige und ihr ernster Blick wich einem milden Lächeln.
“Wir wollen Ihnen nur helfen. Fräulein-”, sie brach ab und blickte in die auf dem Tisch liegende Akte: “Jennifer Wiedenbrück.”
“Sagen Sie einfach nur Jenny.”
“Ich bin Hauptkommissarin Sandra Steffens, Leiterin des Morddezernats.”
Sie gab Jenny die Hand und blickte sie vertrauensvoll an.
“Nun gut Jenny, erzählen Sie bitte einfach nur von ihrem Standpunkt aus, was am Abend des 23. Juli passiert ist.”
Jennys Gedanken flogen zurück an jenem verhängnisvollen Abend. “Antonio und ich waren zunächst noch in der Maske...”
“Das wird schon, meine Kleine”, sagte Antonio mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Ein letztes Mal schaute er in den Spiegel und zupfte an seinen fein gezwirbelten Moustache. Jenny betrachtete ihn skeptisch im Spiegel.
“Du solltest diesen nervösen weißen Tiger nicht mit in die Manege nehmen. Er war mal wieder den ganzen Tag sehr schlecht drauf.”
“Ich werde ganz bestimmt nicht auf Tamara verzichten! Sie ist mein Diamant, die Krönung meiner Vorstellung.”
Jennys Mentor unterstrich seine Worte mit einer übertrieben kunstvollen Handbewegung.
Jenny musste lächeln.
“Diese Vorstellung ist dir wirklich dein Leben wert, oder?”
“Da kennst du Tamara nicht. Sie würde mir niemals etwas antun. Sie ist vielleicht ein bisschen nervös, aber vergiss nicht, ich habe sie von Hand mit der Flasche aufgezogen.”
“Deine Tiger sind immer noch Tiere. Mit ihnen kannst du nicht diskutieren.”
Antonio grinste schelmisch und zupfte wieder an seinem Schnurrbart.
“Das macht sie auch so aufregend”
“Also haben Sie schon zuvor Zweifel am Erfolg der Vorstellung gehabt?”
“Ja, eines von Antonios Tieren war noch nicht bereit für diesen Auftritt. Er bestand darauf es vorzuführen, weil es das einzige Weiße war.”
Jenny zögerte.
”Ich wusste von Anfang an, dass er nicht auf mich hören wird.”
Hauptkommissarin Steffens räusperte sich und griff in ihre Tasche. Sie legte eine Mappe und einen Kugelschreiber auf den Tisch vor sich und zog eine Lesebrille an. Sie begann sich etwas zu notieren. Schließlich kratzte sie sich am Kopf und schaute wieder zu Jenny.
“Fahren Sie fort.”
“Beeil dich Antonio, Du bist gleich dran”, ertönte es hinter dem Vorhang, dann steckte die Maskenbildnerin ihren Kopf durch den Vorhang. Mit einem prüfenden Blick auf den Dompteur trat sie ein und holte einen Pinsel und ein Döschen hervor. Hastig korrigierte sie dessen Make-up.
Aus der Manege schallten Applaus und Jubelrufe.
“Danke Maike.”
Antonio blickte zur Maskenbildnerin und strich ihr liebevoll durchs Haar. Dann wandte er sich an Jenny.
”Gib mir den Futtereimer!”
Diese blickte sich im Raum nach dem Blecheimer um und bekam fast einen Schrecken, als sie ihn zunächst nicht fand.
“Dort in der Ecke!”
Die Maskenbildnerin deutete in eine Ecke neben dem Vorhang. Er stand vorbereitet, mit dem purpurroten Samttuch abgedeckt bereit, wie sie ihn zurückgelassen hatte.
“Kennen Sie den vollen Namen der Maskenbildnerin? Da scheint meinem Kollegen ein kleines Detail entgangen zu sein.”
Die Kommissarin zupfte verlegen an ihrem roten Overall. Sie drehte sich nach hinten zum Einwegspiegel um und warf einen strengen Blick darein.
“Ich glaube Maike Hülshoff. Ich bin noch nicht so lange dabei und wir sprechen uns sonst nur mit Vornamen an.”
Sandra Steffens begann wieder zu notieren.
“Können Sie mir mehr zu dieser Person sagen?”
“Sie arbeitet schon sehr lang in diesem Zirkus als Maskenbildnerin in dritter Generation. Antonio war ihre Jugendliebe, aber ihr Vater und Vorgänger in ihrem Beruf war gegen die Beziehung. Ich selber hab kaum was mit ihr zu tun gehabt, ich durfte ja noch nicht auftreten.”
Die Kommissarin warf Jenny einen prüfenden Blick zu und rückte ihre Brille zurecht, dann notierte sie wieder. Ohne aufzublicken fragte sie weiter.
“Das Opfer wurde von seinen Tieren regelrecht aufgefressen, da das Futter im Eimer durch nasse Küchenlappen ausgetauscht wurde. Warum ist ihm das nicht sofort aufgefallen, als er den Eimer entgegengenommen hatte?”
Jenny zuckte mit den Achseln.
“Wir decken den Eimer immer mit einem Tuch ab, damit es feiner aussieht und sich die Tiere nicht sofort darauf stürzen, wenn wir damit in den Käfig gehen.”
”Können Sie sich vorstellen, wie diese Lappen statt dem Fleisch in den Eimer gelangten?”
Die Ermittlerin zog aus ihrer Tasche ein paar blutverschmierte Küchenlappen hervor, welche sich in einer durchsichtigen Plastiktüte befanden.
Jenny nahm die Tüte an sich und tastete sie ab.
Mit ihren aufgezeichneten Muster sahen sie tatsächlich aus wie rohes Rindfleisch.
"Ungewöhnlich schwer für ein paar Lappen. Der Täter muss sich große Mühe gegeben haben, sie wie Fleisch aussehen zu lassen. Demnach war die Tat keine Affekthandlung, sondern sorgfältig durchgeplant. Schauen Sie sich diese Fleisch-ähnliche Struktur an."
Die Ermittlerin sah Jenny prüfend in die Augen.
“Ich habe keine Ahnung, ich habe diese Tücher nie gesehen.”
Jennys Stimme zitterte.
”Ich habe den Eimer kurze Zeit aus den Augen verloren.”
Als ihr Mentor zum Vorhang schritt und sich der Manege zuwandte überreichte Jenny ihm den Eimer.
“Viel Glück”, sagte sie schüchtern, “Sei vorsichtig”.
“Mir passiert nichts, das ist ja nicht mein erstes Mal mit so einem großen Publikum.”
Der Dompteur grinste verschmitzt.
”Aber Tamaras erstes mal”
“Denk dran: Es gibt Nichts, was den großen Antonio überfordert!”
Das waren seine letzten Worte an seine Schülerin. Er berührte sie, zu Jennys Ärger, mal wieder an ihrem Hinterteil. Es lief ihr kalt den Rücken runter. Dann wandte er sich ab und betrat, von Applaus empfangen, die Manege.
“Ihr Mentor hat ihnen an den Hintern gefasst? Hat Sie das nicht gestört?”
Die Beamte blickte Jenny erstaunt an und blätterte in ihrer Mappe, bevor sie eifrig weiter schrieb. Jenny musste lächeln.
“Das war jetzt nicht so schlimm, er hat sowas ständig gemacht.”
“Waren Sie in einer Beziehung mit dem Opfer?”
Frau Steffens blickte wieder zur Verdächtigen auf und zog die Brille aus, um sie an ihrem Overall abzuwischen.
“Nicht wirklich”, sagte Jenny mit einem traurigen Unterton. “Er hatte eigentlich mit fast jeder Frau im Zirkus etwas laufen”.
Sie verdrehte die Augen, dann erstarrte sie plötzlich, als ihr klar wurde, dass sie ein mögliches Motiv für einen Mord preisgegeben hatte.
“Ich habe ja die Beziehung mit, mit ähm, mit...”
Jennys Worte endeten in unbeholfenes Gestotter, während sie mit fuchtelndem Finger dorthin deutete, wo sie ihren Freund vermutete.
“Ist schon gut.”
Die Kommissarin lächelte.
“Möchten Sie noch einen Kaffee?”
“Ja gern," antwortete Jenny mit rauer Stimme.
Ihre Kehle war schon ganz ausgetrocknet, sie hatte auf jeden Fall schon zu viel gesagt. Die Ermittlerin drehte sich wieder zum Fenster um und deutete auf den Tisch.
“Jungs, bringt uns mal bitte zwei Tassen Kaffee.”
Sie drehte sich wieder zu Jenny um.
“Laut den Zeugenaussagen, müssten mehrere Minuten vergangen sein, bis die Tiere das Opfer angegriffen haben. Das wäre genug Zeit für ihn gewesen, den Käfig zu verlassen. Können Sie sich das Verhalten ihres Mentors erklären?”
Jenny zuckte mit den Achseln. Steffens schaute sie prüfend an.
“Was verschweigen Sie mir da? Ich bin sicher der Zirkus hatte einen Notfallplan für derartige Situationen.”
Halbherzig versuchte Jenny dem Blick der Kommissarin auszuweichen.
“Na klar haben wir einen. Aber Antonio hätte ihn niemals befolgt.”
“Wie meinen Sie das?”
“Der Notfallplan hätte vorgeschrieben, die Tiger in diesem Fall zu erschießen. Für eine einfache Betäubung fehlen uns veterinärische Kenntnisse und eine Schulung dafür konnten wir uns nicht leisten. Also hätten wir sie umbringen müssen.”
Steffens blickte sie sie skeptisch an.
“Ein Menschenleben ist das doch allemal wert.”
Jenny geriet in Erklärungsnot.
“Sobald Antonio den Käfig verlassen hätte, hätten die Zirkushelfer auf die Tiere geschossen. Das Leben seiner Tiger war ihm wichtiger als sein eigenes.”
“Das klingt absurd. Wie kommt es eigentlich, dass Sie als Assistentin über so viel Bescheid wissen? Und dann auch noch so genau?”
“Ähm... Ich habe mich immer genau informiert. Meine Sicherheit und auch die meiner Freunde lag mir immer sehr am Herzen. Wissen Sie, gerade weil Antonio so leichtsinnig war, hatte ich das Gefühl, umso mehr um seine Sicherheit zu sorgen.”
Erleichtert beobachtete Jenny, wie sich der skeptische Gesichtsausdruck der Ermittlerin milderte und sich in ein ein vertrauensvolles Lächeln wandelte.
“Verstehe.”
Jenny wurde selbstsicherer. Die Ermittlerin notierte etwas in ihre Unterlagen, danach blickte sie wieder auf.
"Wie kann es sein, dass die Tiere derart aggressiv waren?”
Jenny dachte nach.
“Antonio ließ die Fütterungen immer in den letzten Tagen vor der Aufführung ausfallen. Außerdem ließ er die Käfige, kurz vor dem Auftritt, mit dem Geruch nach Blut einnebeln. Er meinte, dass sie ihm so gehöriger seien. Der reine Selbstmord, wenn Sie mich fragen."
Steffens hob ungläubig die Augenbrauen.
Jenny seufzte.
"Ich glaube eher er wollte die Tiere nur aggressiver machen. Wissen Sie, er liebte diesen Adrenalinstoß und für die Zuschauer waren die Tiger so noch eindrucksvoller. Er ging immer volles Risiko ein. Er fürchtete sich vor nichts.”
Antonios Auftritt hätte nicht in einer größeren Katastrophe enden können. nach den ersten Paar Kunststückchen hatte Antonio in seinen Eimer gegriffen und die Küchenlappen den Tigern hingehalten. Dabei wahr ihm erst auf dem zweiten Blick aufgefallen, dass es sich dabei nicht um Fleisch gehalten hatte. Dazu hatte er die Geduld der Tiere dieses Mal wirklich überreizt.
Antonio hatte gar nicht die Möglichkeit seine aufkommende Panik professionell zu verbergen. Jenny konnte ihn hastig im Eimer wühlen sehen, wobei er sich auch noch an einer Kante geschnitten hatte. Allen voran das weiße Tiger-Weibchen war fauchend auf ihn zu geschlichen und hatte sich zum Sprung bereit geduckt. Mit zittriger Stimme hatte er auf Tamara eingeredet, doch es half alles nicht.
Derweil wurden die Zuschauer lauter, von der Tribüne kamen laute, begeisterte Zurufe. Ein Hagel aus Lichtblitzen schoss auf die Manege, denn jeder wollte mit seinem Smartphone diesen Moment einfangen. Bevor der Dompteur nach Hilfe hätte rufen können war Tamara schon auf ihn gesprungen, die anderen Raubkatzen folgten ihr ins Kampfgetümmel, gelockt vom Duft frischen Blutes. Jenny hatte erstarrt den Blick auf die Manege gerichtet, in ihren Augen spiegelten sich die Lichtblitze von der Tribüne. Während die ersten Zuschauer bereits geschockt nach Luft geschnappt hatten, blieben andere zunächst noch begeistert mit gezückten Smartphones auf das Geschehen fokussiert. Doch als das Blut spritzte und Antonio in Stücke gerissen wurde, entwickelte sich aus dem Schock eine Massenpanik.
Jenny hörte Gewehre nachladen. Erst jetzt begannen Zirkushelfer Antonio zur Hilfe zu kommen, doch es war viel zu spät. Als sie den Käfig voll ausgerüstet betraten, richteten sich einige der Tiere gegen sie. Geschockt durch den Anblick der zerfetzten Leiche Antonios, waren sie unfähig gewesen, die Tiere in Griff zu bekommen. Ihre verzweifelten Zurufe wurden von dem Geschrei der Zuschauer übertönt. Einer der Tiger floh in dem Chaos aus dem Käfig, den die Helfer in ihrem Konzentrationsmangel offen gelassen hatten.
Das förderte die Massenpanik und die Zuschauer flohen durch den engen Ausgang aus dem Zelt. Dabei stießen sie zahlreiche Gegenstände und Zeltstützen um. Stühle flogen durcheinander und Planen wurden zerfetzt. Jenny drehte sich um und versteckte sich hinter dem Vorhang. Einige Menschen waren in dem Tumult hingefallen und durch Andere zertrampelt und schwer verletzt worden. Ihre Hilfeschreie blieben unbeachtet. Das einstürzende Zelt hatte den Käfig teilweise zerstört, wodurch auch die anderen Tiger aus diesem fliehen konnten. Jenny hörte, wie das Getöse langsam abklang. Immer mehr Geräusche drangen nun von draußen ein und wurden durch das Zelt gedämpft, bis schließlich eine gespenstische Stille eintrat. Nun hatten sogar die Zirkushelfer das Weite gesucht. Dutzende Menschen mussten an diesem Abend schwer verletzt worden sein, dachte sich Jenny. Der Kollateralschaden war sicher für den Zirkus unbezahlbar hoch geworden.
Die Maskenbildnerin war schon längst mit den anderen Menschen im Chaos geflüchtet. Nun war Jenny allein in den Trümmern des Zeltes, welches durch die Massenpanik teilweise eingebrochen war. Sie beobachtete das weiße Tiger-Weibchen, wie es an den blutigen Überresten von Antonio knabberte, während die anderen Raubkatzen bereits weggelaufen waren.
Mittlerweile müsste sie sich doch satt gefressen haben, überlegte Jenny. Sie blickte sich um und sicherte einen möglichen Fluchtweg. Langsam bückte sie sich und sammelte die Peitsche ihres Mentors ein. Dann schlich sie vorsichtig näher an die Leiche und ließ Tamara währenddessen nicht aus den Augen.
Als diese das Mädchen bemerkte fauchte sie auf und offenbarte eine blutige Reihe scharfer Zähne.
“Komm schon, hau ab!”, zischte Jenny und ließ die Peitsche schwingen.
Tamara knurrte, riss sich einen Armstumpf aus der Leiche heraus und lief damit davon.
Sandra Steffens wischte sich mit einem Tuch die feuchte Stirn ab.
“Wir sollten wirklich nochmal kontrollieren, dass es sich bei diesen Fall nicht um Selbstmord handelt.”
Sie steckte das Tuch zurück in die Jackentasche und faltete die Hände.
Jenny atmete erleichtert auf, bis ihr der ernste Blick der Kommissarin auffiel.
“Leider haben wir da noch etwas, was sie belastet.”
Sie nahm wieder die Brille in die Hand und hielt sie gegen das Licht. Jenny stöhnte auf. Was war es denn nun schon wieder?
Der unfreundliche Beamte, den Jenny zu Beginn ihres Verhörs kennenlernen musste betrat wieder den Raum, diesmal mit zwei Tassen Kaffee in der Hand. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er sie auf dem Tisch ab und eilte wieder heraus.
“Danke sehr.”
Steffens zupfte am Ausschnitt ihres Overalls, setzte die Brille wieder auf und ging ihre Notizen durch. Jenny schaute besorgt in ihren Kaffee. Nach einer Weile unterbrach die Kommissarin die Stille.
”Der Pathologe hat ihre Haare an diesen Lappen festgestellt. Können Sie sich das erklären, wo Sie diese doch noch nie gesehen haben?”
Jenny kam ins Schwitzen.
“Ich meinte eigentlich noch nie wahrgenommen”, korrigierte sie sich nach einem Zögern.
"So ungewöhnlich gemusterte Lappen sind Ihnen nicht aufgefallen?"
Jenny schluckte.
"Ähm… bevor sie angemalt wurden. Ich meine mich zu erinnern, dass jemand die Lappen am Morgen vor der Aufführung gesucht hatte. Glaube ich zumindest."
Jenny war von ihrer eigenen Antwort nicht überzeugt.
"Vielleicht lagen sie im Zelt oder in einem unserer Wohnwagen herum und ich bin ohne darauf zu achten dagegen gekommen. Ich bin sicher, meine DNA wurde nicht als einzige festgestellt.”
Diese Aussage war sehr gewagt. Jenny schluckte. Sandra Steffens setzte einen ernsten Blick auf.
”Hmm, das stimmt. Wohin, glauben Sie, würde der Täter das Fleisch, dass er durch die Tücher ersetzt hat, so kurz vor der Vorstellung, in seiner Eile räumen?”
“Was weiß ich? Sie sind hier die Ermittlerin!”
Jenny wurde schnippisch. Frau Steffens ging nicht darauf ein, sondern notierte wieder etwas mit strengen Blick in ihre Mappe.
Tamara verschwand mit einem Arm von Antonio zwischen den Zähnen aus den Trümmern des Käfigs hinaus in die Freiheit. Jenny wandte sich von der Katze ab und schaute auf den Toten. Grinsend beugte sie sich vor und betrachtete den völlig verunstalteten Körper ihres Mentors. Die Raubkatzen hatten wirklich nicht mehr viel übrig gelassen: Abgenagte Knochen mit Fleischresten, übersät mit zerstückelten Organ-Resten. Alle Gliedmaßen und der Kopf waren abgetrennt worden. Durch die Fressorgie waren sie völlig zerfetzt und bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet. Doch etwas hatten die Tiere zurückgelassen, etwas von unschätzbarem Wert.
Jenny nahm einen ersten Schluck von ihrem Kaffee. Kommissarin Steffens blickte nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder von ihrer Mappe auf.
“Das Opfer besaß eine umfangreiche Sammlung von Edelsteinen und Mineralien sehr hohen Wertes. Unsere Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchung konnten feststellen, dass ein einzelnes besonders hervorgehobenes Stück in seiner Sammlung zu fehlen scheint, allerdings konnten sie keinerlei Einbruchsspuren und keine fremde DNA auffinden. Können Sie uns darüber etwas sagen?”
Jenny zuckte zusammen, spuckte den Kaffee auf den Tisch und hustete. “Entschuldigung, der Kaffee war noch heiß”, krächzte sie gequält auf und konnte ihr Zittern nicht verbergen.
“Schon gut”, sagte die Ermittlerin misstrauisch und zog ein Taschentuch hervor, mit dem sie den Tisch abwischte.
“Er war Sammler und hat immer einen Stein zu jedem Auftritt mitgenommen. Er glaubte sie bringen ihm Glück.”
Das Misstrauen verschwand aus dem Gesicht der Frau und sie blickte nachdenklich, auf den Kugelschreiber kauend an die Decke. Verunsichert versuchte Jenny zu erkennen, ob sie die Kommissarin überzeugt hatte.
“Wo hat er die Steine immer mit sich getragen?”
Sie warf den Blick auf Jenny, welche den Mund weit aufgerissen hatte, um sich mit den Fingern an die Zunge zu fassen. Sie versuchte so zu wirken, als ob sie sich die Zunge verbrannt hätte.
Das Mädchen zuckte mit den Achseln. Der Blick der Ermittlerin wandelte sich, als ob sie soeben eine Erleuchtung gehabt hätte.
In den Ruinen des Zeltes herrschte Totenstille und Dunkelheit, bis auf einen Scheinwerfer, der überlebt hatte und noch immer auf Antonio gerichtet war. Vor Glück glucksend griff Jenny in ihre Tasche und zog ein reich besticktes Tuch hervor, dann griff sie in den Brustkorb ihres Mentors. Zwischen den zahlreichen gebrochenen Rippen zerrte sie den, durch die Tiere nach oben verschobenen, zerschundenen Magen des Dompteurs hervor. Durch einen großen Riss griff sie angewidert in das Organ und entleerte es.
Unter jede Menge Blut und Essensreste fühlte sie etwas Hartes. Sie las es mit dem Tuch ab und wischte es ab. Der erbsengroße orangene Stein leuchtete und funkelte wie ein geschliffener Diamant in ihrer Hand. Jenny stand auf und steckte sich ihn in die Tasche. Dann verließ sie das Zelt und machte sich auf dem Weg zu ihrem Freund.
“Eine letzte Frage hab ich noch Fräulein Wiedenbrück: Wieso sind Sie und ihr Freund geflohen?”
Jenny zögerte und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
“Mir war sofort nach Antonios Tod klar, dass Sie mich festnehmen lassen werden. Alles spricht gegen mich: Ich war seine Gehilfin und habe ihm den Futtereimer überreicht. Ich habe einfach nur Angst, den Prozess zu verlieren und auf den Knast hab ich echt kein Bock.”
Jenny seufzte.
“Ich habe keine Chance mehr. Zuerst verliere ich meinen Mentor, der wie ein Vater für mich war und meinen Job und jetzt werde ich auch noch dafür festgenommen. Ihr Kollege hat es selbst gesagt: Ich bin Ihre Hauptverdächtige.”
Das Mädchen setzte eine niedergeschlagene Miene auf. Die Ermittlerin schaute sie mitfühlend an und lächelte.
"Sind Sie nicht. Mein Kollege ist nur etwas übereifrig.”
Sie drehte sich wieder zum Polizeispiegel hinter sich um.
“Darüber hinaus haben Sie kein richtiges Motiv. Wir werden dennoch die Fahrweise Ihres Freundes ahnden, aber da bekommen Sie später noch alles zugeschickt. Dafür ist aber das Morddezernat nicht zuständig. Sie können jetzt beide gehen, aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Bei einem weiteren Fluchtversuch müssen wir Sie leider in Untersuchungshaft nehmen.”
Jenny und die Ermittlerin standen auf und reichten sich die Hände, dann wurde das Mädchen hinausgeführt.
Jenny trat zu ihrem Freund und verließ mit ihm das Revier. Schweigend gingen die beiden über den Parkplatz und stiegen ins Auto. Erst als die Türen geschossen waren, fingen sie an zu sprechen.
“Und, haben sie's geschluckt?”
Die Augen von Jennys Freund glitzerten wissbegierig im Licht der Innenbeleuchtung.
“Ich denke schon. Wir haben jetzt noch genau eine Chance zu fliehen.”
Das Mädchen griff in ihre Tasche, zog einen schwarzen Stoffbeutel heraus und öffnete ihn. Jenny entnahm einen kleinen orange leuchtenden Stein aus dem Beutel, dessen Glanz das Auto von innen erstrahlen ließ. “Lass ihn mich noch einmal ansehen”, bettelte ihr Freund.
Sie überreichte ihm den Stein und ließ ihn diesen Bewundern.
“Er ist wunderschön. Und der Alte hatte den wirklich verschluckt?”
Jenny kicherte.
“Ich glaube der war sich selbst über den Wert dieses Steinchens bewusst und hat seinen Magen als einziges sicheres Versteckt gewähnt. Deshalb hat er ihn wohl vor jeder Aufführung verschluckt und danach irgendwie wieder ausgewürgt. Denn das war immer der einzige Zeitpunkt, an dem er diesen Stein länger nicht im Blick behalten konnte. Zu dumm, dass ich ihn genau zum richtigen Augenblick beobachtet habe. Diese Katzen haben gute Arbeit an ihm gelassen!”
Jenny zwinkerte ihrem Freund zu und nahm den Stein wieder an sich.
“Darüber hinaus hat der sich das nicht anders verdient. Hoffentlich erfüllt der Stein auch seinen Zweck!”
Ihr Freund lachte.
“Ja ja, so genau wollte ich das nicht wissen. Mit dem Stein werden wir sowas von reich.”
“Jetzt fahr endlich los”, drängte Jenny.
Dieser naive Junge hatte ja sowas von keine Ahnung. Nie im Leben würde sie zulassen, dass irgendwer diesen Stein zu Geld macht. Das war kein zufällig ausgewählter Glücksbringer aus der Mineralsammlung des Dompteurs. Antonio hatte wohl nicht über dessen magische Kräfte und die gewaltige Macht Bescheid gewusst, die der Stein seinem Besitzer geben konnte. Deshalb hatte er diese Macht niemals nutzen können.
Dennoch musste er den außerordentlichen Wert irgendwie erfahren haben, ansonsten hätte er sich den nicht einverleibt.
Wozu so eine Macht besitzen und bei sich verstecken, wenn man sie nicht einsetzt, fragte sich Jenny. Der Stein hätte Antonio das Leben retten können, zumal dieser ihn einverleibt hatte. Doch war der Dompteur stets zu einfältig gewesen, diese Kräfte zu erlernen. Jenny wollte das besser machen. Sie hatte von Anfang an diese Kräfte gespürt, die sie jedes Mal mit einem Gefühl der Unbesiegbarkeit erfüllten, wenn sie sich dem Stein näherte. Hielt sie ihn erst einmal in der Hand, fühlte sie, wie Energie in sie hineinströmte. Es schien, als flüstere der Stein ihr zu, dass er seine Kraft auf sie und nur auf sie projezieren wollte.
Deswegen hatte Jenny alles dafür getan, ihn an sich zu reißen. Der einzige Zeitpunkt, an dem der Stein von Antonio unbewacht war, war ausgerechnet auch der, an dem er am wenigsten von seinem Besitzer entfernt war: Während der Vorstellungen.
Mit diesem Mineral in sich stünden Jenny alle Türen offen. Theoretisch könnte sie sogar die ganze Welt damit beherrschen.
Die Ermittlerin schaute mit verschränkten Armen zu, wie Jenny von ihrem Freund umarmt wurde und das Gebäude verließ.
“Du lässt sie einfach gehen, Chef?”
Der Beamte trat neben sie und blickte den beiden hinterher. Sandra wischte sich einen Fussel vom dunkelroten Ärmel.
"Wir sind im Vorteil, wenn sie sich in Sicherheit wägen. Schick ihnen eine Streife hinterher. Und finde mehr über diese Mineraliensammlung heraus.”
Der Beamte nickte.
“Mach ich Chef. Sonst noch was?”
“Ach ja, sag bitte dem Pathologen, er möge den Magen des Opfers nochmal genauer untersuchen. Möglicherweise hat niemand einen Edelstein gestohlen, jedenfalls nicht vor seinem Tod.”
“Wie meinen sie das?”
“Wo verstecken Drogenschmuggler gern ihre Ware vor Kontrollen? Ich bin mir ziemlich sicher, wir haben die Täter, wir müssen es ihnen nur noch nachweisen!”
r noch nachweisen!”