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- 15.03.2008
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Alles ist gut
Priva erwachte, als er gegen eine Mauer taumelte. Eine Gesichtshälfte pochte in dumpfem Schmerz aufs Dasein, aber Priva erinnerte sich an keine Existenz. Die Sonne des mecklenburgischen Hochsommers setzte die Straße in Brand und Priva schritt über glühende Bürgersteigplatten, bereit, das Gottesurteil zu akzeptieren, wie es auch ausgehen wird. Er versuchte, geradeaus zu gehen, stieß aber mit dem Gesicht immer wieder gegen die Mauer rechts von ihm, als hätte er Schlagseite. Doch er war kein Schiff, sondern nur müde und schwach. Kämpfte um jeden Schritt mit einem kleinen Tod, der sich lang machte, aus der Hölle durch die Erdkruste nach Privas Füßen griff und zog.
Jeder seiner Schritte war der Schritt eines frisch Gehbehinderten mit kiloschweren Gewichten an den Füßen. Er kämpfte sich voran, taumelte voraus, dem Ziel entgegen. Spürte dass es Zeit war. Zeit, seine Augen offen zu halten, obwohl er nichts lieber wollte, als die Lider schließen. Er wusste nicht wieso oder woher, hatte kein Wohin und hätte keine Auskunft geben können, wenn ihn jemand nach seinem Namen fragen würde.
Ein klügeres Wesen als Priva hätte nicht behauptet, dass er wach ist. Einem unbeteiligten Beobachter wäre klar gewesen, dass er wach ist, wach sein musste. Mit offenen Augen auf den eigenen Beinen unterwegs. Allerdings auf Beinen, die ihm nicht gehorchten. Nicht so, wie es sich gehörte. Nicht so, wie er es gewohnt war.
Links der glatte Spiegel des Pfaffenteichs, rechts die Mauer des Bolero, gegen die er jeden zweiten oder dritten Schritt prallte. Seine Glieder zitterten und er spannte die Muskeln an, um diese Peinlichkeit zu verbergen. Als die Mauer endete, wollte Priva das Kopfsteinpflaster der alten Straße zum Dom überqueren, eine Straße, die friedlich wirkte wie der stille Don. Doch der Schein trog, die Strömung war zu stark, zog ihn mit, zog ihn runter. Priva wankte nach rechts, wankte weiter, verwechselte seine Beine, verfing sich beim Laufen, stellte sich ein Bein, suchte nach Gleichgewicht, fand aber nur die Straße. Fiel und knallte in vollem Körperkontakt auf das Kopfsteinpflaster. Heidewitzka, hätte er denken können, wenn er wirklich wach gewesen wäre.
Doch da war nur dieses dumpfe Pochen in seinem Schädel. Schmerz, frisch aktualisiert vom Sturz, der seinen Schädel flutete und durch die Kehle in den Magen floss. Wo das Pochen zum Krampf wurde, der seinen Mageninhalt mit der Kraft eines Wasserwerfers auf die Straße pumpte. Es kostete einen unmöglichen Kraftaufwand, den Kopf so weit zu drehen, dass der Strahl des Hochgewürgten von ihm wegspritzte. Priva machte es möglich. Doch danach war alle Kraft erschöpft und er dämmerte weg. Irgendwann weckte ihn ein Hupen.
Priva brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, brauchte noch einen, um zu merken, dass keine Orientierung kommen wird. Offline. Dieses Wort flimmerte auf der Innenseite seiner Augenlider und Priva versuchte erfolglos die Zeichen zu entziffern. Sein Körpergedächtnis signalisierte ihm, dass das Bewusstsein auswärts und gerade niemand zu Hause war. Kein Käptn an Deck. Priva hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit auf Befehle und Weisungen. Doch da war nichts, da kam nichts. Er war führerlos. Keine Priester im Tempel seines Körpers. Trotzdem hievte er sich hoch. Erst Arme und Oberkörper. Abgestützt auf wachsweichen Armen. Als wäre er untrainiert, und hätte gerade dreißig Liegestütze hinter sich. „Ich brauche nur etwas Zeit“, flüsterte er zu niemandem besonderen. Und wie zur Antwort hupte es erneut. Ein zweites, drittes Hupen. Das vierte war lang, unendlich lang, weitete sein Trommelfell, bis es explodierte und vermischt mit den Fragmenten seines Schädels sich wie eine Zumutung im öffentlichen Raum verteilte.
Danach war in ihm nur noch ein hohes Summen. Er arbeitete weiter daran, auf die Beine zu kommen. Übte sich im Aufstehen. Spürte Berührungen. Hände unter den Achseln. Sah Menschen herumstehen. Mit Gesichtern wie Transparenten auf einer Demonstration gegen seine Person. Sorgenvoll oder vorwurfsvoll, schwer zu lesen, kaum unterscheidbar. Sicher sprachen sie davon, dass hier etwas geschah, was so nicht ins Straßenbild gehörte. Lag er auf einem privaten Parkplatz und blockierte das gottgegebene Recht, ein Auto abzustellen? War er auf einem Bahnsteig ohne Bahnsteigkarte? Noch wusste er nicht, was er falsch gemacht hatte, sah aber ein schlechtes Gewissen, das sich anschlich. So was kannte er. Gehörte zur Kategorie der Körperräuber. Parasiten, selbst nicht lebensfähig. Ständig auf der Suche nach einem Wirt. Kurz nicht hingekuckt, schwupps, schlüpft es durch deine Körperöffnung wie ein böser Geist. Schneller, als ein magisches Zeichen gemacht werden kann, das diesem Dämon den Zutritt ins Innere verwehrt. Wo er die Kommandobrücke übernimmt und seinen Wirt Sachen machen lässt, die in keiner Choreographie vorgesehen sind.
Priva fürchtete sich davor, übernommen zu werden, bevor er angekommen war. Nutzte die Furcht als Schubkraft und machte sich gerade, brachte diesen Körper wieder auf die Beine. Sah sich um, sah sich bewegende Münder, vermutete Sprache, hörte aber weiterhin nur dieses hochfrequente Summen. Ahnte aber anhand der Gesten und Gesichter, dass er befragt wurde und Hilfe angeboten bekam.
Der Gedanke daran, sich von jemandem helfen zu lassen, jagte einen Schauer von Peinlichkeit den Rücken hinunter, der über dem Steißbein zu einem Transformator wurde, der am Körperfettreservoir seiner Pobacken saugte und Fett in Energie verwandelte. Genug davon, dass er sich wieder in der gemeinsamen Wirklichkeit zurechtfinden und diesen gefährlichen Ort verlassen konnte. Körperräuber, Gottesurteile, Hilfsangebote.
Was kam als Nächstes? Er musste dem nächsten Zug des Gegenspielers zuvorkommen. Legte dem Nächsten seinen Arm über die Schultern, schüttelte den Kopf, schüttelte den Kopf, schüttelte den Kopf. Sah dem Anderen ins Gesicht. Schüttelte den Kopf. Erkannte einen offenen Blick ohne falsche Fragen und zeigte auf‘s erste Haus auf der anderen Straßenseite.
Ließ sich abschleppen wie eine Karre, deren Batterie schlapp gemacht hatte. Für eine Hand voll Schritte mehr erreichten sie das Haus. I’m hit but I can make it. Dachte er an seinen Gegenspieler adressiert. Priva machte sich wieder frei, brach den Körperkontakt ab und integrierte den Arm wieder in seinen Körper. Der Andere trat zurück in die Dunkelheit des strahlend hellen Tages. Gentleman. Priva wusste mit dem frei gewordenen Arm nichts anzufangen und steckte die Hand in eine Hosentasche. Das Zittern hatte aufgehört. Mit dem anderen Arm stützte er das Haus, ein beunruhigend schiefes Fachwerk. Kein tiefes Durchatmen, kein Augenblick der Ruhe.
Nur weiter, dem Ziel entgegen. Das, was Priva gerade war, was in ihm war und ihn antrieb, brauchte einige Zeit, bevor klar war, dass unklar blieb, was hier geschah. Dass Welt und Menschen trotz gleißenden Lichts in tiefster Dunkelheit verharrten. Sein dystopisches Privatwunder als Vorgeschmack auf Weltuntergang, Weihnachten und Jüngstes Gericht. Priva zwang sich, nicht hin zu sehen, niemanden anzusehen. Schließlich war es unmöglich vorherzusagen, wann ein Gesicht zur Medusa wird und den unverschämten Betrachter zu Stein werden lässt. Priva machte los, machte weiter. Dem Ziel entgegen. Wovon er nicht wusste, was es war, wovon er keine Auskunft hätte geben können, wenn er gefragt worden wäre.
Er ging absolut schnell, relativ sogar schneller. Doch der Schmerz im Schädel holte auf, holte aus und schlug rhythmisch von innen gegen seine Schädeldecke. Im Versuch, sich den Weg ins Draußen frei zu boxen oder Priva wenigstens einen guten Beat als Schrittmacher zu liefern. Der Schmerz intensivierte sich. Glühende Scherben bohrten sich in eine Hirnhälfte und verknüpften ihn Schnitt für Schnitt weiter mit der Wirklichkeit. Und holten ein Stück des Bewusstseins aus dem Safe-Room tief in ihm zurück an die Oberfläche: Priva erwachte.
Und schaffte ein paar souveräne Schritte, bevor er wieder von einer Wand gerammt wurde. Gerammt worden wäre. Denn er streckte die Hand aus, als gehörten seine Gliedmaßen zu einem koordinierbaren Körper. Und hielt die Wand auf Abstand, bevor die seinen Kopf treffen konnte. Er spürte die Oberfläche der Mauer auf seiner Handfläche. Ziegelsteine, ihre Struktur und Beschaffenheit. Tauschte Schritt für Schritt sein Taumeln gegen das konventionellere Gehen. Kam voran. Machte Meter. Der Schmerz in seiner rechten Gesichtshälfte ließ sich nicht abschütteln. Stalkte ihn. Beschattete Priva. Kein Grund zur Sorge, ermunterte der sich, bestimmt nur ein Fan.
Und fragte sich in traumwandlerischer Unbedarftheit, woher dieses dumpfen Pochen stammen mochte. Als wäre irgendwas mit seinem Gesicht nicht in Ordnung. Er stellte eine erste Verbindung zwischen dem betrunkenen Schiff seines heutigen Körpers und dem Rest des Lebens her. Milde Sorge blitzte wie ein fernes Leuchtturmsignal durch die Nebel seiner Wahrnehmung. Erinnerte ihn daran, dass es da etwas gab, was wichtig war, wohin er kommen müsste, ein Ziel. Und als er es vor seinem inneren Augen sah, tauchte es auch in der Wirklichkeit auf : Ja, da war es, stand dort, wie eh und je, in bescheidener Grandezza.
Die Schelfkirche. In der Mitte einer kleinen Wiese, die einst Gottesacker war, umringt von alten Bäumen, würdig und stark. Hartleibige Steher auf ihrem langsamen Lauf durch die Zeit. Stets bereit, dem König in seinem hohen Haus mit Rat beiseite zu stehen. Das Äußere dieser Konstellation hatte er immer gemocht, ohne dass es ihm je aufgefallen wäre. Diese Kirche war anders als alle anderen Kirchen, die er kannte, als er noch Dinge erkannt hatte. Er spürte große Hingerissenheit, starke Hingezogenheit und folgte dem Impuls.
Hinein trat er ins kühle Kirchenschiff. Lehnte sich gegen die Schlagseite auf, um seinen Gleichgewichtsfehler auszugleichen. Gab sich bei jedem Schritt einen Linksdrall, womit er auf den letzten paar hundert Metern sein Krängen nach rechts zunehmend unter Kontrolle bekommen und den Körper auf Kurs gehalten hatte. Doch hier, in der Stille des bescheidenen Kirchenschiffs, hatte er sein Gleichgewicht wieder. So selbstverständlich war es da, als wäre es nie weg gewesen. Und Priva fiel fast wieder hin, diesmal nach links. „Kaum hat man sich auf eine Anomalie eingestellt und die Instrumente nachjustiert, lässt sie einen im Stich wie ein Gott, der von Menschen für tot erklärt wurde“, murmelte Priva, sah auf, sah auf den Körper des Gekreuzigten in seiner sexy Aufmachung und sagte „Pardon“.
Priva stützte sich ab, auf einer Kirchenbank, atmete tief und laut durch, setzte sich, schloss die Augen und schickte einen Dank an etwas, woran er nicht glaubte, wovon er nicht wusste, was es sein könnte.
Öffnete die Augen und betrachtete den Innenraum der Kirche, die ihm immer wieder begegnet war, seitdem er vor drei Jahren das erste Mal an einem Bibelkreis der Gemeinde des guten Pastors Metzger teilgenommen hatte. Erinnerte sich an des Pastors wohlriechende Menschlichkeit. An seinen Glauben, der jedes ihrer Gespräche eingerahmt hatte. Ein Glaube, wirklicher als alle Möbel in der Pastorenwohnung gegenüber der Kirche, die von der Gemeinde gestellt war. Wo sie Tee getrunken und Schach gespielt und geredet hatten, bis ein Leben gerettet worden war.
Er spürte eine Kraft in sich, ein Wollen, das ihn auf die Füße und zu den Kerzen vor dem Altar trieb. Dort nahm er ein paar Münzen aus der Tasche, warf sie in den Spendentopf, hörte das gedämpfte Geräusch des klingenden Metalls. Spürte die Kraft der sakralen Architektur in der Stille des weiten Innenraums vom Kirchenschiff. Zündete zwei Kerzen an. Sah ihnen eine kurze Weile beim Flackern zu. Drehte dann um, entfernte sich geraden Schrittes vom Altar und verließ die Kirche so unwillkürlich, wie er sie betreten hatte. Fast. Denn jetzt hatte er ein Ziel: Zuhause.
Noch tauchten keine konkreten Fragen am Horizont seines Bewusstseins auf. Nur das vage Gefühl, hier falsch zu sein, was auch immer ‚hier‘ war. Sicherlich kein Ort, so viel zumindest war klar. Und dass das, was er hier machte und gemacht hatte, seitdem er an der Wand des Bolero mit Schmerzen im Gesicht erwacht war, falsch war. Nicht das Falsch in der Mathearbeit, mehr ein Falsch wie in lebendig begraben. Als hätte er heute Morgen versehentlich eine der Persönlichkeiten seines Mitbewohners übergestreift, oder als wäre seine Welt einige Millimeter durch die Dimensionen verschoben worden, als er kurz nicht aufgepasst hatte. Solche Dinge passieren andauernd. Deswegen braucht man mindestens drei Augen. Deswegen darf man nichts jemals aus den Augen verlieren. Körperräuber, Dimensionsschieber. Höhere Wesen befahlen die unfriedliche Welt in tiefem Schwarz zu übermalen. Es könnte auch ein Jetlag nach ner Seelenwanderung sein oder schlicht ein besonders schwerer Fall von Irritation nach einem eigentlich harmlosen Körpertausch. Was es auch war. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Trotzdem fühlte er tiefen Frieden, als er den gleichen Weg wieder zurückging. Nun auf dem Weg nach Hause. Bunte Blumen, Vogelflüge. Es war ein herrlicher Frühlingstag und Priva pfiff leise vor sich hin, um in das vielstimmige Gezwitscher einzustimmen, ohne zu stören.
Auf der Höhe vom Bolero traf er Paulo, einen seiner Brüder, der ihm immer wieder alles Mögliche ermöglicht hatte, damit Priva es verunmöglichen konnte. Scheitern, ja, das bringts in diesem Leben, erinnerte er sich an einen Vers seines verlorenen Evangeliums. „Hey, Paulo“, sagte Priva, und sie grüßten sich mit Handschlag und drückten ihre Stirn aneinander. Selbstgängige Bewegungen, die selbstverständlich abliefen, als wären sie geübt. „Wie geht’s?“
„Wollte ich dich gerade fragen“, antwortete der, „ich habe dich vor ner Weile angerufen, versucht, dich auf dem Handy zu erreichen.“ Automatisch griff Priva in die Innentasche seiner Jacke, wo jedes seiner Telefone immer war, wenn er Jacken trug. Es war nicht da. „Keine Ahnung“, sagte er, „muss ich bei mir vergessen haben. Passiert eigentlich nicht. Aber heute ist es eh ein seltsamer Tag.“ Paulo nickte zum Bolero rüber – „frag mal da drin nach.“ Priva musterte Paulos Gesicht einige Sekunden, leicht ratlos auf der Suche nach einer Pointe. Doch Paulos Gesicht blieb ernst, er nahm ihn am Arm und sie gingen die sieben Stufen hoch zum Eingang. Priva wurde es leicht unbehaglich zumute.
Ein Unbehagen, das mit jedem Schritt größer und auf der Türschwelle zur Panik wurde. Als er sich daran erinnerte, dass er heute schon hier gewesen war. Was er getan hatte. Panik wuchs wie ein zweiter Kopf aus seiner Schulter und schrie. Priva sah im Spiegel dass seine Panik das Gesicht von Paulo kopiert hatte und einen Mund öffnete, seinen Mund aufriss wie eine Wunde von Ohr zur Ohr und schrie. Schrillte, bis der Spiegel sprang, bis die Fenster in Scherben auf den Boden klirrten. Priva brach zusammen, als hätte ihn der Schlag getroffen. Konnte die Augen nicht schließen. Sah die Fliesen in High Definition, bis er erwachte.