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Alles ist gut
Als ich aus dem Büro nach Hause komme ist es kurz vor Acht. An einem Samstag wohlgemerkt. Unter der Woche würde ich mir eine solche Nachlässigkeit natürlich niemals leisten. Aber selbst heute ist es mir schwer gefallen, meine wunderbar minimalistisch eingerichtete, übersichtliche, eigene kleine Welt im sechsten Stock des Verlagsgebäudes zu verlassen, in der ich seit meiner Beförderung zum Personalchef vor drei Jahren den Großteil meiner Zeit verbringe. Irgendjemand hat mir das mal zum Vorwurf gemacht. Während ich die Fertignudeln in das kochende Wasser kippe, versuche ich mich seinen, vielleicht auch ihren, Namen zu erinnern. Ich weiß ihn nicht mehr. In letzter Zeit bringe ich solche Dinge häufiger durcheinander. Ist ja nur Name denke ich. Wäre er wichtiger, hätte ich ihn mir bestimmt behalten. Auf dem Weg von der Küche zum Wohnzimmer streift mein Blick den Kalender. Der 25.11. ist mit einer Notiz versehen. „19:15, Stadthalle, Beatrice“ steht dort. Genervt stöhne ich auf. Keine Chance mehr noch rechtzeitig zu kommen und was genau meine Schwester in diesem trüben Winter groß zu feiern hat erschließt sich mir auch nicht. Vor fünf Jahren hätte ich es bestimmt gewusst, aber mittlerweile überfliege ich ihre Einladungen nur noch flüchtig. Keine Ahnung, warum es für meine Schwester immer einen Grund zum feiern gibt. Es ist einfach unmöglich da noch den Überblick zu behalten. Mein Leben ist ein verdammtes Wasserglas und das ist bis zum Rand voll. Nicht meine Schuld, wenn da das ein oder andere überschwappt. Natürlich wird Beatrice davon nichts hören wollen. Für sie kommt es jedes mal einer Tragödie gleich, wenn ich eine ihrer Einladungen ignoriere. Mit einem kurzen Seufzer beschließe ich also zu gehen. Schließlich weiß ich nicht mal mehr, ob ich nicht vielleicht sogar zugesagt habe. Eventuell ist das ganze sogar wichtig. Innerlich verfluche ich mich dafür, dass ich die Einladung nicht gut sichtbar auf dem Tisch habe liegen lassen. Sie jetzt noch zu suchen wäre zwecklos, immerhin sieht es hier chaotisch aus wie auf einer Müllkippe. Das Geschirr stapelt sich bereits, der letzte Abwasch könnte gut und gerne zwei Wochen, das letzte mal Aufräumen einen Monat her sein. Aus irgendeinem Grund habe ich damit aufgehört. Er schien mir wichtig zu sein, deswegen habe ich noch nicht wieder angefangen. Während ich mein Jackett anziehe, die Wohnung verlasse und die Tür hinter mir schließe, sinniere ich über die beste Besetzung für den vakanten Geschäftsführerposten der Zweigstelle in Cleveland. Alles ist gut.
Um wenigstens halbwegs zeitig anzukommen nehme ich das Auto. Ich drehe den Schlüssel und der Motor beginnt geschmeidig zu arbeiten. Der mattschwarze Mercedes war eine meiner ersten Anschaffungen nach der Beförderung. Laute Motoren habe ich schon immer gehasst. Die Erinnerung an das grauenhafte Gebrumme des alten Van meiner Eltern lässt mich jedes mal wieder erschauern, wenn ich daran zurückdenke. Das Drecksteil war eines der Erbstücke gewesen, die ich Beatrice nach dem Tod unserer Mutter liebend gerne abgetreten hatte. „So sentimental wie sie ist fährt sie den wahrscheinlich immer noch.“, denke ich und muss kurz lächeln. Überhaupt steigert sich jetzt allmählich tatsächlich meine Stimmung. „Vielleicht ist es ja doch gar keine so blöde Idee gewesen der Einladung zu folgen“, überlege ich kurz, während ich den Druck aufs Gaspedal steigere und der Wagen elegant die Hauptstraße entlang gleitet. Eigentlich habe ich sie ja auch alle eine Weile schon nicht mehr gesehen: Beatrice, ihren Mann Gunnar und den kleinen Lukas, dessen Patenonkel ich bin. So klein ist er wahrscheinlich gar nicht mehr. Unser letztes Treffen ist schließlich schon drei Jahre her und bereits damals reichte mir der schlaksige Junge bis zur Schulter. Vielleicht hätte ich ihm ein Geschenk mitbringen sollen, irgendeine kleine Aufmerksamkeit. Drei Jahre ist schließlich eine ziemlich lange Zeit. „Jetzt ist es eh zu spät.“, sage ich mir und verwerfe den Gedanken noch kurz beim nächsten Elektronikladen vorbeizuschauen. Ich weiß schließlich nicht, ob er überhaupt noch gerne spielt. Ich selbst habe schon vor Ewigkeiten mit dem Zocken aufgehört: Kein Platz mehr im Glas. „Sie haben ihr Ziel erreicht!“, die Roboterstimme meines Navis reißt mich aus meinen Gedanken. Leicht verwirrt quetsche ich mich in einen der wenigen noch freien Parkplätze, zwänge mich aus dem Auto und steige die Treppen zu dem öden Betonklotz, den sie hier Stadthalle nennen empor. Ein eisiger Wind schlägt mir entgegen und ich beschleunige meine Schritte, bis ich endlich den Eingang erreicht habe.
Wir befinden uns in einem schmucklosen Zimmer. Es ist spät Abends. Wir können aus erhöhter Position schräg nach unten, auf einen dünnen Jungen in kariertem Hemd und Jeans blicken, der ruhig auf seinem Bett sitzt. Sein Gesicht ist so geneigt, dass es uns nicht möglich ist viel von seinem Ausdruck wahrzunehmen, nur die wuchtige Brille die er trägt ist gut sichtbar. Der Junge hält ein Handy in der Hand, auf dem er einige Nummern wählt, diese manchmal anruft, es sich manchmal anders überlegt, schließlich aber aber immer eine neue Nummer eintippt. Er redet selten, die meisten Telefonate legt er bereits nach kurzer Zeit wieder auf. Wenn er spricht, tut er das zu leise als das wir etwas verstehen könnten. Wahrscheinlich sagt er, dass alles gut ist.
Das innere der Stadthalle ist hell ausgeleuchtet. Mehrere längliche Deckenlampen verbreiten ein warmes, orangefarbenes Licht. An den vereinzelt, scheinbar willkürlich im Raum verteilten runden Holztischen sind Beatrices Freunde und Verwandte versammelt. Überrascht schweift mein Blick durch den prall gefüllten Raum. Mehr Leute als erwartet. „Bitte lass es nicht ihren Geburtstag sein!“, denke ich, während ich mich weiter in die Halle hineinbewege. Rechts von mir erkenne ich meinen Bruder Matthias, mit ihm an einem Tisch sitzen seine Kleinen, fünfzehn und zwölf Jahre alt, der Ältere schiebt sich abwesend eine Strähne aus den dunkelbraunen Haaren, die Platte mit dem Fingerfood vor ihm ist unberührt. Ich nicke ihnen kurz zu, dann fällt mir der Tisch dahinter auf. Dort scheinen Beatrice und ihre Freundinnen zu sitzen. Der Großteil der Gesellschaft hat mir den Rücken zugewendet, aber ich meine ihr Kleid erkennen zu können. Es ist ein ein schwarzes, teuer aussehendes Stück. Sie ist dünn geworden, es hängt an ihrem Körper herab wie zu große Lumpen. Überhaut ist sie zu blass, auch wenn es vielleicht nur durch das Schwarz so wirkt. „Alles in Ordnung?“,spricht mich eine hübsche Brünette an, die neben meiner Schwester sitzt. Sie muss sich umgedreht haben während ich in Gedanken versunken war. „Ja...äh klar.“, stammele ich mir auf dem falschen Fuß erwischt zusammen. „Ich wollte nur gerade...“, weiter komme ich nicht, denn ich spüre den strengen Blick eines kalten, eisblauen Augenpaares auf mir. „Du bist zu spät!“, Beatrice ist aufgestanden. Aus der Nähe betrachtet sieht sie ernsthaft krank aus. Wie ein grimmiges Skelett steht sie da und fixiert mich mit diesem merkwürdigen Ausdruck, der irgendwo zwischen Wut und Enttäuschung schwankt. „Du hättest um Viertel nach Sieben oben an der Kirche sein sollen.“ Ich ziehe verwirrt eine Augenbraue nach oben. Beatrice ist nicht besonders religiös, das letzte Mal, das ich sie bei einer Kirche gesehen habe war bei Lukas Taufe vor mehr als Zehn Jahren. „Ja klar tut mir leid. Ich … hatte einen … ähm Termin.“, lüge ich. „Einen Termin?“, sie wirkt perplex, verständnislos, “Ein Termin war dir wichtiger als das hier?“ „Naja um genau zu sein... Weißt du ich war mir nicht mehr ganz sicher wo ich überhaupt hin sollte.“,ich fühle mich in meiner momentanen Position nicht wohl und beschließe in die Offensive zu gehen: „Warum überhaupt bei der Kirche? Da gehst du sonst nicht mal zu Weihnachten hin! Schon klar, dass man da ein kleines bisschen durcheinander kommt, oder?“ Schon während die Worte meinen Mund verlassen, merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Die beiden Frauen vor mir sehen mich entgeistert an, Beatrices vorher schon ungläubiger Blick entgleist vollkommen und sie bricht in eine Art hysterisches Gelächter von einer solchen Lautstärke aus, dass sich einige Gäste von den anderen Tischen nach uns umdrehen. Jetzt betrachte ich die bisher gesichtslose Menge das Erste mal genauer und wundere mich, warum sich alle so in Schale geworfen haben. Sie tragen Anzüge und feine Kleider,alle sind sie schwarz, als wäre das hier eine Art traurige Mottoparty. Beunruhigt wende ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Tisch vor mir zu und nehme erstmals wirklich die anderen Sitznachbarn meiner Schwester war. Nicht nur Beatrices Freundinnen sitzen hier, sondern auch ihr Mann, der im Moment, im Kontrast zu seinem sonst ruhigen Gemüt und der stets dicklichen Statur, aussieht als ob er mir am liebsten einen Schlag ins Gesicht verpassen würde, nur eine Person fehlt. Jetzt beginnt meine Schwester zu schreien, manisch kreischt sie immer wieder, als könnte sie es nicht glauben: „Er weiß es nicht! Er hat es tatsächlich vergessen!“ Aber ich kann sie nicht verstehen. Wie ein Taubstummer stehe ich vor ihr, unfähig weiter irgendetwas wahrzunehmen. Mein Gehirn arbeitet nicht mehr, aber meine Füße fangen gerade erst an. Sie tragen mich mich mit ungeahnter Geschwindigkeit fort von der Trauerfeier und während ich mich immer weiter von Beatrice entferne, stelle ich mir vor sie riefe „Alles ist gut!“, in endloser Dauerschleife.
Jetzt befinden wir uns in einem ordentlichen, geradezu zwanghaft zweckmäßig eingerichteten Wohnzimmer. Auf einem einzelnen Sessel sitzt ein mittelgroßer, blasser Mann im Anzug und betrachtet nachdenklich den übergroßen Fernseher vor sich. Die Nachrichten laufen. Es ist der 18.11., irgendwo auf dem Land hat es gebrannt, in Berlin sind zwei Menschen erschossen worden, an der Börse hat sich nichts getan. Kurz vor den Lottozahlen schaltet der Mann den Fernseher aus und macht Anstalten, dass Zimmer zu verlassen. Gerade als er die Tür erreicht hat, klingelt das Telefon auf dem Esstisch weiter links. Der Mann zögert kurz. Er wirkt hektisch; als ob es ihm an Zeit mangeln würde. Dann verlässt er den Raum.
Wir befinden und immer noch in dem selben Raum, als der Mann zurückkehrt. Nachdem er sein Jackett ausgezogen hat, geht er zum Anrufbeantworter und hört ihn ab. Er beginnt zu weinen. Kurze Zeit später ist er in Ohnmacht gefallen. Als er seine Augen wieder öffnet, schweben wir direkt über ihm. Sein Gesicht ist angespannt. Er richtet sich auf, beugt sich erneut über den Anrufbeantworter. Er drückt einen Knopf. Es piepst kurz. „Eine Nachricht wurde gelöscht“, die Stimme ist künstlich und blechern. Wir sind ganz nah an dem Mann dran, können jede einzelne,glänzende Pore auf seiner Haut wahrnehmen. Sein Mund kräuselt sich zu einem Lächeln. Alles ist Gut.