- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Alles ist gut
Sechs Jahre war ich nicht im Freibad gewesen. Sechs Jahre nicht im Wasser, sechs Jahre hatte ich dieses nasse Element gemieden, und nun wusste ich wieder warum. Die vielen lärmenden Jungs, die vielen Eindrücke, Dutzende, vielleicht sogar über hundert, zu viele, um sie zu zählen. Aber alle auf ihre Art süß, mit strahlenden Gesichtern, grinsend, lächelnd, lachend, kichernd. Alle leicht bekleidet, mit diesen modernen knielangen Badehosen, die es damals noch kaum gab. Ich hatte mir zwei Tage zuvor auch so eine gekauft, mit meiner alten, knapp geschnittenen Hose konnte ich mich ja nicht mehr blicken lassen.
Ich machte einen Bogen um die kalte Dusche, die das Schwimmbecken von der Liegewiese trennte. Ich sprang vom Beckenrand ins Wasser, das mich sofort angenehm kühl umfing. Ich machte ein paar Kraulschläge, offenbar stimmte es, Schwimmen verlernt man nie, genau wie Fahrrad fahren.
Ich schwamm vorbei an ihnen, vorbei an kichernden, lachenden Jungen, manche mit hoher Stimme, manche mit tieferer, manche im Stimmbruch. Viele mit den inzwischen wieder modernen langen Haaren, was ich bei Jungs einfach toll fand. Dann sah ich dich.
Du warst vielleicht 12, möglicherweise schon 13, hattest ein rundliches Gesicht und fast schwarze Haare. Anscheinend warst du gerade aus dem Urlaub zurück gekommen, deine Haut war tief braun gebrannt. Die Augenfarbe konnte ich nicht erkennen, da deine Augen gerade geschlossen waren, weil dich dein Kumpel mit Wasser bespritzte. Prustend, lachend spritztest du zurück, was dein Freund sofort mit einem Gegenschlag beantwortete. Ich schaute euch zu, stand auf Zehenspitzen, konnte gerade so den Boden des Beckens berühren. Ich freute mich mit euch, freute mich, dass ihr so viel Spaß hattet, genauso wie ich damals, als ich in eurem Alter war. Ihr beachtetet mich nicht, obwohl ich nur wenige Meter entfernt stand. Eine ältere Frau mit grauem, dünnem Haar schwamm zwischen euch und mir vorbei, den Kopf starr über das Wasser haltend.
Dein Kumpel sagte etwas zu dir, zeigte auf das Drei-Meter-Brett. Du schütteltest den Kopf, doch dein Kumpel schwamm an den Beckenrand und kletterte aus dem Wasser. Dann rannte er zu der langen Schlange vor dem Sprungturm. Du bliebst zurück, schwangst dich ebenfalls aus dem Wasser, bliebst aber am Beckenrand sitzen. Du schautest deinem Kumpel nach. Ich bewunderte deinen schlanken Oberkörper, schwamm näher heran, betrachtete die Wassertropfen auf deinem haarlosen Bauch, die in der Sonne glänzten. Deine Brustwarzen waren aufgerichtet, an den Armen hattest du eine Gänsehaut. Offenbar frorst du, trotz der Sonne.
Du sahst mich, bemerktest, wie ich dich anstarrte. Ich tauchte schnell unter und fühlte mich ertappt. Trotzdem schwamm ich nicht fort, sondern näherte mich dir weiter, tauchte rechts von dir wieder auf. Du blicktest zu deinem Kumpel, der langsam in der Reihe der Wartenden, fast alles Jungs in deinem Alter, vorrückte. Inzwischen war ich beinahe bei dir. Ich betrachtete deine dünnen Beine, sah den leichten Flaum an deinen Waden. Gedankenverloren schautest du auf das Wasser, blicktest kurz zurück zu deinem Kumpel, standest auf und klettertest auf einen Startblock. Mit einem Kopfsprung stießt du dich davon ab und landetest mit einem großen Klatscher im Wasser. Einige Tropfen berührten mich, ich schmeckte Chlor auf den Lippen und ich dachte daran, dass diese Tropfen noch einen Sekundenbruchteil zuvor deine weiche, braun gebrannte Haut umschmiegt hatten. Ich suchte dich, fand dich, du tauchtest fast zehn Meter weiter wieder auf, schwammst unter einem Absperrseil her, das offenbar die letzten beiden Bahnen für diejenigen freihalten sollte, die lediglich stur ihre Meter abarbeiten wollten. Doch das Seil lag schief im Wasser, die eine Seite hatte sich gelöst, irgendwo zog jemand daran.
Ich suchte nach dir, fand dich aber nicht. Hättest du nicht längst wieder auftauchen sollen? Das Zerren am Seil ließ nicht nach. Ich wunderte mich, sah niemanden, der zerrte. Dann sah ich dich. Du warst unter Wasser, schon viel zu lange, wie mir schien. Ich näherte mich dir. Du warst es, der am Seil zerrte. Es hatte sich um dein linkes Bein gewickelt, du kamst nicht mehr hoch, strampeltest in blinder Panik um dich. Ich schaute mich um. War ich der einzige, der es bemerkte? Der Bademeister stand auf der gegenüberliegenden Seite des Beckens und unterhielt sich mit einer dicken Frau, deren Bauch sich über dem Bikiniunterteil wölbte. Er sah nicht aufs Wasser, bemerkte dich nicht, der du es nicht schafftest, zurück an die Oberfläche zu kommen, wo es die rettende Luft gab. Sollte ich dem Bademeister zurufen? Würde er mich hören? Sollte ich zu ihm hinschwimmen? Wäre es dann für dich zu spät? Sollte ich versuchen, dich zu befreien? Hatte das lose Seil keiner kontrolliert? Konnte ich dich retten, ohne dich zu berühren? Musste ich dich berühren, um dich zu befreien? Durfte ich dich überhaupt berühren?
Dein Strampeln und Zerren unter Wasser ließ nach. Ich hatte keine Wahl. Mit wenigen Schwimmzügen hatte ich die Stelle erreicht, tauchte nach dir, du warst fast auf den Boden hinabgesunken, das Absperrseil war immer noch um dein Bein gewickelt, um die Waden, die ich zuvor so bewundert hatte. Du hattest die Augen geschlossen, Luftblasen kamen aus deinem Mund, die Haare wehten um deinen Kopf, getrieben von der von dir selbst verursachten Strömung. Ich versuchte, das Seil zu packen, du tratst mir in deiner Panik in den Bauch, ich schrie auf, schluckte Wasser, blieb aber dennoch unten. Ich versuchte es noch einmal, packte das Seil, versuchte, es von deinem Bein zu lösen, schaffte es nicht. Ich erwischte dein Bein, es war warm und weich, trotz des kühlen Wassers. Ich spürte deinen Widerstand, ließ aber nicht locker, packte das Seil, befreite dich davon, deine Gegenwehr wurde schwächer. Ich ließ Seil und Bein los, du hattest die Augen geschlossen, versuchtest gar nicht, an die rettende Wasseroberfläche zu kommen. Ich erinnerte mich an meine Zeit bei der DLRG, damals, als ich so alt war wie du, tausend Mal hatten wir es geübt, mindestens ebenso viele Jahre schien es her zu sein, doch nie hatte ich es gebraucht. Ich packte dich unter den Achselhöhlen, spürte, dass du dort keine Haare hattest, ärgerte mich selbst über diesen Gedanken, absolut sinnlos und unangemessen in dieser Situation.
Ich schwamm mit dir aufwärts, auch mir wurde die Luft knapp. Der Beckenrand war nicht weit. Ich schwamm auf dem Rücken, zog dich hinter mir her, erreichte das rettende Ufer. Ich hob dich aus dem Wasser, du warst schwerer als ich dachte. Ich legte dich am Rand ab, die ersten Leute schauten auf, auch der Bademeister, der nun auf uns zugerannt kam. Du atmetest, ich sah, wie dein Bauch sich auf und ab bewegte. Doch du regtest dich nicht. Ich kletterte aus dem Becken, hockte mich neben dich, versuchte dich wach zu rütteln, streichelte dir über die Wange, die warm und sanft und haarlos war. Nun kam wieder Leben in dich. Du hustetest, spucktest Wasser und schlugst schließlich die Augen auf. Du schautest nach oben, betrachtetest den Himmel, dann blicktest du mich an. Deine Augen waren dunkelbraun, fast so dunkel wie deine Haare. Ich lächelte dich an, konnte nicht anders, vergaß, mich zu verstellen, mich zu tarnen, wie ich es sonst tat. Doch du warst nicht irritiert, warst nicht verunsichert, lächeltest zurück. Ich sah deine strahlend weißen, nahezu perfekten Zähne. Du hattest eine Zahnlücke, vielleicht vom letzten Milchzahn, der dir vor kurzem ausgefallen war.
Um uns herum versammelten sich die Menschen, der Bademeister bahnte sich seinen Weg durch die Menge, fragte, was los sei. Auch dein Kumpel gesellte sich dazu. Doch ignorierte ich sie alle, hatte nur Augen für dich, ich lächelte dich weiter an, du lächeltest zurück, ich streichelte dir durchs Haar. „Alles ist gut“, flüsterte ich. „Alles ist gut.“ Du nicktetest, glaubtest, zu verstehen. Ich weiß nicht, ob du wirklich verstandst, doch ich tat es. „Alles ist gut.“ Und das war es, das war es in der Tat, zum ersten Mal seit Jahren. Ich streichelte dir durchs Haar, spürte deinen ruhigen Atem auf meinem nassen Arm und alles war gut.