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Alles ist eins
Ich bin Single, weiblich, Anfang dreißig und mit meinem Startup-Unternehmen in Hamburg seit mehr als drei Jahren ungemein erfolgreich. Privatleben und Muße kommen in dem penibel durchgetakteten Arbeits- und Geschäftsalltag naturgemäß zu kurz. Eine Woche Auszeit habe ich mir mehr als verdient. Das Angebot "Meditative Ganzkörperübungen auf dem Lande" trifft genau meine Bedürfnislage: "Wir erlernen die Kunst, mit der Energie zu arbeiten, die uns umgibt, die überall und in allem wirkt. Altüberlieferte fernöstliche Praktiken helfen uns, sowohl den Körper als auch den Geist zu kultivieren.", so heißt es vielversprechend im Flyer.
Einsam in der Lüneburger Heide steht das denkmalgeschützte Haus, welches für die Dauer des Kurses vom Veranstalter komplett angemietet wurde und mit acht Zimmern, zwei davon Doppelzimmer, genügend Platz für die neun Kursteilnehmer und den Großmeister bietet. Wunderbar, aber leider bin ich die zehnte Teilnehmerin, weil ich zu spät gebucht habe und nur ausnahmsweise als Gast an den Übungen teilnehmen darf. Ich muss im Dorf übernachten, das eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt liegt.
So komme ich am Sonntagmorgen, als der Kurs beginnt, zum ersten Mal zu dem idyllischen Heidehof und sehe meine neun Mitstreiter, zwei Männer und sieben Frauen. Bis auf zwei der Teilnehmer sind alle deutlich älter als ich. Es gibt eine kleine Vorstellungsrunde, bei der ich die Namen und noch einiges mehr von den anderen erfahre. Die beiden in meinem Alter sind ein Paar. Schade, denn der junge Mann sieht richtig gut aus mit tiefblauen Augen, die aus seinem männlich markanten Gesicht funkeln, und einem athletischen und wohlproportionierten Körper. Bevor ich nach unserer ersten Übungs- und Meditationseinheit wieder ins Dorf zurück muss, frage ich ihn noch einmal nach seinem Namen. "Frank", sagt er. "Oh, fängt ja genauso an wie mein eigener Name! Frank und Frauke, das kann ich mir gut merken. Bis morgen dann!"
Am nächsten Tag erfahre ich, dass Unterlagen zu den Kursinhalten verteilt worden sind. Ich als nicht im Haus Wohnende habe natürlich keine erhalten, doch da sagt Frank, während die anderen Teilnehmer vor dem Gebäude auf den Beginn des Kurses warten, der heute im Freien stattfinden soll: "Moment, ich glaube, ich weiß, wo noch ein Exemplar liegt." Wir beide gehen zusammen in den Heidehof hinein und Frank hat recht gehabt. Mit sicherem Griff reicht er mir die Informationsmappe und hypnotisiert mich dabei mit einem tiefen Blick aus seinen blauen Augen. In Franks unmittelbarer Nähe nehme ich einen betörenden Duft nach Sünde und Seligkeit wahr. Ob das jetzt alles gewesen sein soll, frage ich mich und mir kommt eine Idee: "Kannst du mir bitte noch schnell euer Zimmer zeigen. Ich will doch sehen, was ich verpasst habe mit meiner späten Buchung."
Bereitwillig geht Frank mit mir die Treppe hinauf zu dem schönsten Zimmer des Hauses. Besonders die Aussicht auf die violett blühende Heidelandschaft mit den vereinzelten dunklen Wacholdersträuchern ist einfach überwältigend. Noch viel mehr freue ich mich aber darüber, hier ganz allein mit Frank zu sein. In Ermangelung einer besseren Idee berühre ich mit meinen Fingern seinen gebräunten und leicht behaarten Unterarm, streiche sanft von oben nach unten und frage ihn: "Es ist dir doch recht, wenn ich dich weiterhin beim Vornamen nenne, Frank?" Das ist nun gerade kein Geniestreich von mir gewesen, denn in Kursen wie diesen verwenden alle Teilnehmer sowieso nur ihre Vornamen. Statt einer Antwort berührt Frank mit seinen Fingerspitzen ganz leicht die Unterseite meines bloßen Armes und was ich dabei spüre, verdeutlicht mir, wie schnell aus unserem kleinen Spiel etwas Ernstes werden könnte. In der gleichen Sekunde scheint Frank die Unmöglichkeit der Situation realisiert zu haben, denn entschlossen eilen wir beide zur Tür. Im selben Moment als wir heraustreten, strebt die Bewohnerin des gegenüberliegenden Einzelzimmers ebenfalls auf den Gang hinaus.
Wir hatten angenommen, alle Kursteilnehmer wären draußen vor dem Haus versammelt. Stattdessen müssen Frank und ich uns eine mit spöttischem Unterton vorgebrachte Bemerkung anhören: "Sieh mal da, wer hier gemeinsam aus dem Zimmer kommt!" Oh mein Gott, das darf doch nicht wahr sein, so entstehen Gerüchte! Da ich im Verlaufe des Tages Franks sympathische Lebensgefährtin besser kennenlerne, wird mir klar, dass ich mich nicht einfach zwischen die beiden drängen darf. Doch diese Einsicht gerät bereits wieder ins Wanken, als der Kursleiter während einer der Übungen die Worte spricht: "Unsere Energie verbindet sich mit der Kraft der Erde und mit der Kraft des Himmels und alles ist eins." und ich mir tief im Herzen nichts sehnlicher wünsche als eine innige Vereinigung, ja ein regelrechtes Verschmelzen mit Frank. Aber unser gemeinsames Glück bleibt nun leider nur ein schöner Wunschtraum. Später kehre ich dann zum Dorfkrug zurück, wo mein schlichtes Einzelzimmer auf mich wartet. Vielleicht kommt ja heute Abend der junge Forstbeamte von gestern wieder auf ein Bier und wenn ich Glück habe, interessiert er sich für mich.