Alles inklusive
Fernfahrer Klaus Kraft telefonierte aus dem Führerhaus seiner Scania-Zugmaschine mit dem Disponenten: „Hier, ich bin jetzt an der dritten Abladestelle, dat Kaff in Thüringen, du weißt schon. Die Baustelle. Ich krieg‘ die Deckenplatten hier nicht mehr los. Dat ist ‘ne Montagekolonne, die das brauchen, hab ich gehört. Die sind aber schon auf dem Heimweg nach Polen. Heut‘ ist Freitag, Jung! Hab dir ja gleich gesagt, dass ich das nich schaffen tu auf‘n Freitag.“ Er hörte sich die Antwort an, dann machte er eine theatralische Geste mit dem freien Arm, als wolle er die Landschaft preisen. „Wochenende in der Ossiprovinz, fabelhaft!“, sagte er sarkastisch. „Ich melde mich wieder am Montag nach dem Abladen. Mach et jut!“ Er unterbrach die Verbindung, wählte sogleich er eine andere Nummer. „Mausi“, sagte er, als sich seine Frau meldete, „du, ich hab‘ leider eine schlechte Nachricht ...“
„Sag jetzt bloß nich, du kommst übers Wochenende nicht heim!“, wurde er sofort von einer wütenden Mausi unterbrochen.
„Ja, weißt du, ich sitze hier fest in Thüringen, kann nicht mehr abladen. Und für nach Hause iss es zu weit.“
Sie schnaufte. „Seit die Grenze weg ist, fahrt ihr wohl nur noch in den Osten, was? Wir wollen Party machen morgen, weißt du das noch?“
„Tut mir echt Leid, Mausi! Aber Heimfahren lohnt nicht. Ich muss ja Montagmorgen wieder hier sein zum Abladen. Das kostet zu viel Diesel! Verstehst du? Und mit Bus und Bahn von hier - das kannst‘e mal vergessen.“
„Du kannst in deinem scheiß Thüringen meinetwegen das ganze Wochenende rumlungern“, schrie Mausi. „Weißt du! Ich will aber meinen Spaß haben! Mit oder ohne dich! Kapierst du das, Klaus?“
Klaus Kraft betrachtete entsetzt sein Handy. Mausi hatte ihn weggedrückt. „Blöde Kuh!“, brummte er. „Mach doch, wat de willst.“ Er schnappte sich Geldbeutel und Einkaufstasche, verließ den LKW, schloss ab und ging zu dem Discounter, den er am Ortseingang gesehen hatte. Proviant, vor allem etwas zu trinken war nötig. Er stellte sich auf ein einsames Wochenende im Führerhaus ein.
Die Straße war alt und löchrig, die Zäune teilweise schief und kaputt, an den Häusern fiel der graue Putz ab, einzelne Ziegel fehlten auf den Dächern. Die Telefonleitungen waren an verwitterten Holzmasten angenagelt. Der ganze Ort sah ziemlich heruntergekommen aus, seit Jahren war nichts mehr instand gesetzt worden. An einem größeren Gebäude konnte er über dem blinden Schaufenster noch Buchstaben als helle Stellen auf der Wand erkennen, die nach der Demontage des dort angebrachten Wortes übrig geblieben waren. „KONSUM“ hatte dort gestanden, doch der Laden stand jetzt leer.
In dem Discounter bemerkte Klaus, dass er gemustert wurde, als er Bananen aussuchte. Ein Frauengesicht stand wie der fahle Mond am Rand seines Blickfelds. Er blickte zurück. Die Frau zuckte kaum merklich zusammen, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, wandte sich schnell ab, griff sich mit der rechten Hand verlegen in ihr kurzgeschnittenes Haar. Klaus lächelte in sich hinein. Er hielt sich durch lange Spaziergänge zwischen den Fahrten und Schwimmen, so oft es möglich war, einigermaßen fit; außerdem achtete er auf seine Ernährung und trank kaum Alkohol, was ihm trotz seiner 49 Lebensjahre immer noch eine schlanke Figur und ein gesundes Aussehen bescherte. Das wurde manchmal von Frauen mit Blicken honoriert. Er organisierte seinen Einkauf so, dass er mit dem Notwendigsten im Wagen an die Kasse kam, als seine heimliche Beobachterin gerade bezahlte. Jetzt konnte er sie betrachten. Sie war höchstens Anfang fünfzig, hübsch trotz etwas derber Gesichtszüge, und sie war schlicht gekleidet, hatte auch im Gesicht nichts aufgetragen, sie machte ein bisschen den Eindruck einer einfachen Landfrau. Es waren zwei Kunden vor Klaus in der Reihe, er konnte nur noch zusehen, wie die Frau ihre Tragetasche in einem Korb hinter dem Sattel ihres Fahrrads verstaute, aufstieg und losfuhr.
„Na, viel Oorbeit heute, Irmi?“, fragte die ältere Dame vor ihm die dralle Kassiererin, als diese begann, die Waren über den Scanner zu ziehen.
„Gannste globen, Hilde! Freitags doch meistens.“
Als Klaus endlich an der Reihe war, schenkte ihm die Dralle ein Lächeln. „Sind sie ooch von der Baustelle?“, fragte sie. „Ich genne Sie gar nich.“
„Nicht ganz“, antwortete er vorsichtig, „ich bin Fernfahrer und bringe Deckenplatten für die Baustelle, bekomme die aber nicht mehr los. Muss hier nun das Wochenende verbringen.“
Die Kassiererin hielt inne. „Ach Gott, müssen se womöglich die ganze Zeit im Laster verbringen?“, fragte sie mitleidig.
„Wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.“
Sie überlegte kurz. „Warten Sie mal“, sagte sie schließlich, „die Renate, die hat ein Zimmer zu vermieten. Da wohnen manchmal Monteure die Woche über. Vielleicht gönnen se dort unterkommen.“
„Klingt nicht schlecht.“
„Seh’n se! Hier gleich rechts, die Straße des Friedens runter, und dann ist es auf der rechten Seite. Nummer dreiundfünfzig. Versuchen Sie es mal.“ Sie strahlte, als stünde der Erzengel Gabriel vor ihr; dabei klimperte sie mit den Lidern.
„Ja, danke“, sagte Klaus, stopfte seinen Einkauf in die mitgebrachte Tasche und verließ den Laden. Durch die Scheibe schaute er noch einmal zu der freundlichen Frau an der Kasse. Sie hatte ein Handy am Ohr, obwohl Kundschaft zu bedienen war. Er ging zurück zum LKW, es war die Straße des Friedens. Es gab auch nur wenige Straßen in dem Ort. An der Hausnummer dreiundfünfzig hängte ein Schild mit der Aufschrift „Zimmer zu vermieten“ an einem Pfahl, der im Rasen steckte. Er konnte sich nicht entsinnen, es auf seinem Hinweg schon bemerkt zu haben. Das Haus und der Vorgarten machten einen ordentlichen Eindruck, alles war so gut es ging in Schuss gehalten. Die Verlockung nach einem richtigen Bett, einer warmen Stube und einer Dusche ließ ihn nicht lange zögern, und er klingelte. „Wahler“ stand auf dem Namensschild.
Sogleich öffnete die Frau, die ihn im Discounter heimlich beobachtet hatte. „Hallo!“, stammelte Klaus verlegen. „Äh … Guten Tag! Ich möchte bis Montag das Zimmer mieten. Ist das noch frei?“
„Sicher“, sagte sie, „sonst würde ja das Schild nicht hängen. Dreißig Mark pro Tag, alles inklusive. Ist das recht?“ Sie zog leicht die Brauen hoch.
Klaus war verwirrt. Alles inklusive? Den Ausdruck musste sie wohl aus einem Reiseprospekt haben. „Sie meinen mit Frühstück?“
„Sicher! Und zu Mittag brauchen Se doch ooch was, oder?“
„Ja, prima, geht in Ordnung! Ich bin mit dem LKW da. Ich schaue mir das Zimmer mal an und stelle die Einkäufe ab, dann hole ich meine Sachen.“
„Schön“, sagte sie und machte Platz zum Eintreten. „Die Dusche ist übrigens auf dem Flur ganz hinten“, fügte sie noch an, als er an ihr vorbeiging.
„Oh! Ja! - Natürlich!“
Die Einrichtung sah aus wie in den siebziger Jahren, aber es war aufgeräumt und sauber. Klaus holte seine Reisetasche, duschte, rasierte sich und zog frische Sachen an. Dann ging er ins Wohnzimmer.
„Breuler?“, fragte sie nur.
„Wie bitte?“
„Zum Abendbrot. Hähnchen. Wir sagen Breuler hier. Sie haben doch bestimmt Hunger“
„Ja, gerne!“
„Mit Fritten?“
„Äh, Pommes? Auch gerne!“
„Woll’n se vielleicht fernsehen bis zum Essen?“
Klaus setzte sich auf den Schonbezug, der das Sofa bedeckte, und schaute sich eine Vorabendserie an. Das Gerät arbeitete noch mit Röhren, die Farben waren blass, und es grießelte etwas auf dem Bildschirm. Er hielt es aus, bis ein wundervoller Geruch nach gebackenem Hähnchen durch das Wohnzimmer zog. Er ging ins Esszimmer, wo bereits für Zwei gedeckt war, setzte sich und wartete. Endlich war es soweit. Bewundernd sah er seiner Wirtin zu, wie sie geschickt mit Gabel und Tranchierschere hantierte. Bald war aufgetischt, eine Flasche Weißwein gab es auch dazu.
„Schmeckt großartig, Frau Wahler“, sagte Klaus nach ein paar Bissen.
„Danke!“ Sie bedachte ihn mit einem Lächeln.
„Was wird da eigentlich gebaut im Ort?“
„Ein Kulturzentrum.“
„Was?“, stieß er hervor. „Ein Kulturzentrum?“ Sie nickte nur. „Hier müssten dringend die Straßen gemacht werden, und die Lampen und Masten. Strom und Telefon müsste neu verlegt werden, und was weiß ich noch alles.“ Er war auf einmal aufgebracht. „Was wollen Sie hier mit nem Kulturzentrum?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß“, sagte sie. „Alle wissen das. Aber vor zwei Jahren, also kurz nach der Wende, kamen hier ein paar Herren aus dem Westen her, in einem Mercedes. Und die haben lange mit dem Bürgermeister gesprochen. Jedenfalls hat der sich beschnullen lassen, und jetzt kriegen wir ein Kulturzentrum.“
„Ich fasse es nicht.“
„Wir sind ja sowieso beschissen worden. Mit allem!“, sagte sie energisch. „Unsere Wirtschaft hat noch einigermaßen funktioniert, weil wir ja nur unsere Erzeugnisse kaufen konnten. Doch nach der Wende sollten wir plötzlich mit dem Westen konkurrenzfähig sein. Das konnte ja nicht funktionieren! Das haben eure Politiker nicht erkannt. Oder es war ihnen egal. Die haben uns jedenfalls im Regen stehen lassen. In dem Konsum hier, da war ich Filialleiterin, der lief gut, doch dann kam dieser Discounter, und schwuppdiwupp ist unser Laden dicht gemacht worden, und ich habe auf der Straße gesessen.“
„Hätten Sie denn dort nicht weiter arbeiten können?“ .
„Sicher hätte ich dort arbeiten können, bin ja dafür ausgebildet. Aber nicht als Filialleiterin. Ich habe ooch meinen Stolz.“
„Haben Sie denn einen Mann, der Arbeit hat?“ Diese Frage lag schon länger im Raum.
„Ach!“, schnaubte sie nur und winkte ab.
Später saßen beide auf der Couch und schauten einen romantischen Film. Bei einer Liebesszene schenkte sie rasch Wein nach und reichte ihm das Glas. „Magst du noch?“, fragte sie. „Übrigens, ich heiße Renate.“
„Klaus. Ja danke.“ Er nahm das Glas, und sie stießen an. Renate rückte näher an ihn heran, und er legte wie beiläufig den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte den Kopf zurück und sah ihn mit dem nur Frauen eigenen Blick an, wenn sie einen Mann begehren. Er zögerte nicht, und sie küssten sich leidenschaftlich.
„Komm!“, sagte sie, als der Film zu Ende war, stand auf und nahm seine Hand. „Nach oben, ins Schlafzimmer.“
„Alles inklusive?“, fragte er schelmisch.
„Idiot!“
„Oh Gott, das habe ich gebraucht!“, seufzte Renate, als sie schließlich verschwitzt und umschlungen im Bett lagen.
Nach einer Weile der Erholung hakte Klaus noch einmal nach: „Bist du denn noch verheiratet?“
„Ja“, entgegnete sie unwillig. „Du ja auch.“
„Woher willst du das wissen?“
„Du hast den Ring zwar abgezogen, doch die Haut darunter ist blasser.“
„Hm“, brummte er. „Wie bei den Buchstaben auf der Hauswand, was?“
„Ja. Konsum. Ich weiß. Das war mein Leben“, sagte sie traurig.
„Und dein Mann?“
„Lass doch! Der ist nach der Wende ausgebüxt, wie fast alle Männer im Ort. Hat sich Arbeit im Westen gesucht. Wollte plötzlich die neue Freiheit genießen. Ich bin hier verwurzelt, das ist mein Elternhaus. Ich gehe hier nicht weg. Er lässt sich kaum noch blicken, hat auch schon eine Andere, glaube ich. Ist mir mittlerweile auch schnuppe. Der kann machen, was er will, weißt du. Ich will aber meinen Spaß haben.“
„Was arbeitet er denn?“, fragte Klaus.
Sie lachte kurz auf. „Der ist Fernfahrer.“