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- 09.06.2002
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Alles Inklusive
Der Käfer ist mein Nachbar. Er wohnt unter mir. Manchmal am Balkon tauschen wir ein paar Worte und wenn wir uns im Stiegenhaus über den Weg rennen, dann grüßen wir uns natürlich höflich. Am Sonntag in der Früh höre ich ihn manchmal mit seiner Frau brüllen, dann schlagen die Türen zu und die ganze Siedlung lauscht angespannt dem Treiben. Wenn ich dann später am Balkon die frische Morgenluft genieße, stiert er mit blutunterlaufenen Augen zu mir herauf und brabbelt wirres Zeug. Der Alkohol hat Käfer über die Jahre zerfressen. Mein Gott, was das Zeug aus Menschen machen kann! Die Schneidezähne fehlen ihm, seine Haut ist aufgedunsen und der Geruch, den er immer mitschleppt, raubt einem den Atem. Der Käfer ist auch bekannt dafür, dass er im Haus Unfrieden sät. Hier ein Klopfen, dort ein Schlagen, Geschrei und irres Gelächter. Dann steht er plötzlich mitten in der Nacht an deiner Tür und hämmert auf sie ein, während du, aus dem Schlaf gerissen, versuchst, dein Herz zu bremsen.
„Hör auf Lärm zu machen, sonst hol ich die Polizei!“
„Tut mir Leid, sie müssen sich irren, ich habe schon geschlafen...“
„Was? Aber da hämmert es! Genau hier in ihrer Wohnung!“
„Das kann doch gar nicht sein, ich schlafe doch schon seit Stunden...“
„Was? Ach so? Ach so? Morgen kommt der Hausverwalter!”
„Ist in Ordnung Herr Käfer, aber hören sie auf an meiner Türe zu lärmen!“
„Was? Aber da hämmert es doch! In ihrer Wohnung!“
Mit Käfer kann ich nicht reden. Ich habe immer gedacht, dass ich gut reden kann, dass ich gut mit Worten umgehen kann, dass ich auch überzeugen kann. Nicht mit Käfer. Der Lebt in seiner Welt aus Dusel, Geschrei, Streit und Fernsehen. Oder ist das nur die Welt, die ich ihm zugedacht habe? Ist es die Welt, mit der ich ihn strafen möchte, für die kleinen Sauereien, die zwar keinem wehtun, die aber halt stören? Vielleicht ist Käfer glücklich, vielleicht ist das einfach seine Art zu leben! Der Käfer ist auf jeden Fall mein Nachbar.
Sonst ist es da, wo ich wohne ruhig. Gegenüber ist ein Kindergarten, zu Mittag hört man das Lachen und lustige Geschrei der Kinder. Das höre ich gerne, es nimmt mir ein bisschen die Traurigkeit, wenn ich an Gudrun denke. Diese süße Frau, dieses herrliche Weibsbild! Was würde ich nicht alles tun um diese Frau zu bekommen! Ihr Freund, inzwischen wieder Exfreund, hat sage und schreibe, fünfmal mit ihr Schluss gemacht und nach Wochen wieder angerufen. Es hat keine Minute gedauert und sie waren wieder ein Paar. Zwei Wochen darauf halt ein Expaar! Warum kann so was nicht mir passieren? Ich meine so eine tolle Frau und noch dazu so unterwürfig! Das mit den Ex und so würde ich mir sparen.
Dann sitzt sie neben mir, irgendwo auf der Welt, irgendwo im Land, irgendwo in der Stadt, irgendwo in einem schlechten Restaurant und ich glaube ich bin von all diesen Irgendwo der Mittelpunkt! Gudrun erzählt mir von ihrem Urlaub in Thailand, wie sie sich in einen schönen Menschen verliebt hat, oder auch nicht, wer weiß das schon und ich tu so, als ob ich mich mit ihr freue! Ich höre ihr zu und sie schüttet mir ihr Herz aus, schüttet die Liebe aus ihrem Herz in meines und da wird die Liebe zu Sehnsucht!
Mit Sehnsucht muss ich dann leben, mit Sehnsucht im Herzen soll ich dann funktionieren, soll meine Arbeit machen und freundlich sein! Welch Hohn! Am Abend treffe ich sie dann manchmal wieder und wir verabreden uns und reden belangloses Zeug. Manchmal, selten, schickt sie mir einen Blick, einen verhaltenen Kuss oder ein verträumtes Lächeln, aber das reicht, um Hoffnung zu schöpfen und die Traumfabrik in Gang zu setzen.
WT ist unser Urlaubsspruch in Griechenland gewesen. WT heißt Wunschtraum. Wenn Burschen unter sich sind, im Urlaub, dann glaubt man gar nicht, wie viele WT da zusammenkommen. Es sind auch Zuhause genug, aber im Urlaub schnellt die Zahl der WT ganz gewaltig in die Höhe! So auch bei Markus und mir. Wir hatten nur einen Vorteil, wir holten uns gegenseitig von unseren TS, von unseren Traumschlössern, runter. Denn Träumen ist gut, aber zuviel davon kann zur Sucht führen. Aber da passen Markus und ich schon aufeinander auf, der Typ holte mich von meinen TS runter, in die Realität zurück, mit einem Grinsen im Mundwinkel, für das ihn alle Männer anerkennen und alle Frauen lieben. Könnte ein WT sein von ihm. Aber Markus ist ein guter Freund, daran gibt es keinen Zweifel. Erst wenn dich jemand aus einem WT reißt, erkennst du den wahren Freund. Gegen Ende des Urlaubes sagten wir dann nur mehr „WT“ und alles war klar.
Bis heute haben wir das „WT“ behalten, die WT selber sind auch die gleichen geblieben, wir sind andere geworden, oder auch nicht, wer weiß das schon. Markus ist ein Lebemann, er nimmt die Frauen wie sie fallen. Er geht viel weg, isst viel und gerne, sieht gerne beim Fußball zu und ab und zu fährt er mit mir auf den Berg und wir liegen stundenlang in der Sonne und machen WT. Er erzählt vom Bundesheer, wie er Hunderte von Schnitzeln klopft, wie er kiloweise Wurst und Käse schneidet, wie er vom kommenden Wochenende träumt und seiner derzeitigen Liebsten SMS schickt. Markus klopft halt Schnitzel, Käfer fremde Türen.
Aber Markus hat auch eine dunkle Seite, eine aggressive Ader, eine brutale Neigung. Heute kann er diese dunkle Seite gut kaschieren, er hat gelernt, sich unter Kontrolle zu halten. Aber früher gingen wir in den Park, dann stellten wir uns ein paar Bier hinter die Kiemen und es war klar, jemand wird dran glauben müssen. Beduselt ging es dann ab in die Stadt, in irgendwelche Winden, mit irgendwelchen Freunden, zu irgendwelchen Fremden, einfach in irgendeine Schlägerei. Ich erinnere mich noch, oft erwachte ich am nächsten Tag mit einem vollgebluteten Hemd und schmerzender Nase. Ich glaube, Markus hat nicht so oft eine abbekommen wie ich, er verträgt mehr Alkohol und mehr Schläge.
Eines Tages habe ich die Aggression abgelegt, wie einen zu kleinen Mantel, Markus auch, aber er hat seinen zu kleinen Mantel behalten, daheim in der Truhe, für alle Eventualitäten. Und ich muss halt ohne Aggression funktionieren, muss meine Arbeit machen und freundlich sein.
Am Wochenende werde ich mit meinem Vater, Herbert, liebevoll Herby genannt, wieder auf den Berg gehen. Er steht schon kurz vor dem Sechzigsten, aber wenn Herby auf den Berg geht, kommt er mir vor wie zwanzig. Er liebt das Wandern wie ich. Wenn ich mit Herby zusammen bin, durch die Wälder gehe, über Felsen klettere, aus klaren Wassern trinke und über das Leben rede, dann ist es für mich, wie wenn mich Gudrun küssen würde, oder wie wenn Markus und ich ein TS bauen würden und es reißt mich jedes Mal aus diesem Gefühl in die Wirklichkeit zurück, wie wenn Käfer an meiner Tür lärmen würde.
Ich weiß nicht wie du es nennst, ich nenne es Lebensfreude. Und immer verbinde ich Lebensfreude mit Natur und geliebten Menschen. Meine Kindheit verbinde ich mit einer duftenden Blumenwiese und meinen Eltern. Meine (unglückliche) Liebe verbinde ich mit der salzigen Weite des Meeres und Rosi oder Silvia oder Gudrun wer weiß das schon genau. Mein Leben in eurer Welt verbinde ich mit einer endlosen Steppe und Lärm und Türen und Käfer. In meinem Leben ist alles inklusive.