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Alles im Fluss
Gerold kommt pfeifend die Treppe herunter. Er grüsst Ines, die im Gang vor der Tür wartet, mit einem kurzen ‚Hoi’, nimmt den Schlüsselbund aus dem Hosensack und schaltet mit sechsmaligem Tastendruck die Alarmanlage aus. Seufzend öffnet sich die schwere Panzertür; in der Werkstatt riecht es unangenehm nach Säure.
„Da hat wieder jemand vergessen, den Deckel aufzulegen“, murrt Gerold und öffnet die Fenster.
‚Dieser Jemand vergisst immer, den Deckel aufzulegen!’, denkt Ines und holt sich den Kasten mit den Auftragssäckli. Im Laden dreht Gerold an den Zahlenschlössern der beiden Tresore und schliesst die Ladentür auf. Er bückt sich nach dem ‚Seetaler’, geht in sein Büro, setzt sich an den Schreibtisch und schlägt die Zeitung auf.
Plötzlich lacht er und ruft in die Werkstatt:
„Der Moritz wird immer mehr zur Altarwanze!“
„Wieso?“, ruft Ines zurück.
„Schrieb einen Leserbrief und wünscht sich 'einen neuen Lenz in der Ökumene'!“
Was soll Ines sagen, sie mag den Moritz nicht. Irgendwie kommt ihr der geschniegelte Gelegenheitsbuchhalter immer in die Quere mit seinen Prahlereien. Ausserdem sammelt sich Speichel in seinen Mundwinkeln, wenn er länger spricht. Dafür kann er nichts, aber Ines muss wegschauen, so ekelt sie sich.
Wieder nach einer Weile ruft Gerold:
„’s Trieneli vom Obersteinerberg ist gestorben, vorgestern.“
Das Telefon klingelt. Gerold nimmt den Hörer ab.
„Atelier Goldgerold“, sagt er und antwortet nach einer ganzen Weile:
„Bis morgen Mittag sollte das … Was?“, er springt so heftig auf, dass der Stuhl umkippt und ruft:
„Bis zum Abend? Heute noch?“
Mit dem Hörer am Ohr kommt er aus dem Büro, holt den Autoschlüssel aus der Schublade und rollt mit den Augen wie ein Chamäleon.
„Also, ich versuch`s“, sagt er, „ich geb’ dir am Nachmittag oder besser so gegen sechs Uhr Bescheid.“
Gerold legt den Hörer ab, ruft:
„Ich muss los!“, und schon ist er weg.
'Zuerst zum Ruedi', denkt Gerold, als er aus der Tiefgarage fährt, 'wenn der nichts am Lager hat, muss ich nach Bern. Dann wird’s offiziell und offiziell wird teuer. Sechzig-, vielleicht Siebzigtausend, die blättert Bruno mir diesmal bar auf den Tisch, hat er gesagt. Keine Quittung, kein Zertifikat. Soll mir recht sein, ich stell keine Fragen, geht mich nichts an. Der muss ja wieder mal schön verliebt sein, wenn er mitten im Jahr seiner Freundin ein Brillantherz aufs Kopfkissen legt.
'Nicht unter einem Karat, lupenrein, beste Qualität, bitte', sagte er. Bitte, gern. Das schraub ich schon und vor allem an der Buchhaltung vorbei. Wenn Moritz nichts merkt, umso besser. Wenn doch, wird er es schon richten. Kann sich dann was aussuchen, wofür sammle ich die Ladenhüter, einschmelzen wär billiger.’
Gerold fingert ein paar Gummibärchen aus der Tüte und kommt ins Träumen.
‚Jetzt wird das was, mit dem Zugang zum Meer, das schmale Streifchen Land wird mir der Apostolos schon geben. Ich organisier ihm den Betonmischer und Serafina bekommt ihre Waschmaschine. Den Kleinen leg ich was aufs Konto, für die Privatschule, damit was Rechtes aus ihnen wird. Die Griechen! Brauchen jetzt Beistand. Ist doch egal, woher das Geld kommt. Hat’s Trieneli auch immer gesagt: ‚Hauptsache Gutes tun und fromm sein, mein Junge!’ Ist ja schnell gegangen mit ihr. Ines muss morgen einen Kranz bestellen. Fromm sein … Wie der Moritz etwa? Der feilt doch die tollsten Zacken, wenn keiner hinsieht. Seine Frömmigkeiten schnörkeln nur darum herum und fallen nicht gross ins Gewicht.’
Gerold, Ruedi, Moritz und Bruno sassen fünf Jahre in der gleichen Schulklasse.
Gerold hätte gerne Archäologie studiert. Ein zweiter Schliemann wollte er werden, irgendwo im Wüstensand eine Stadt finden, Gräber mit Schmuck, Juwelen und Schriftrollen. Er wurde dann aber doch Goldschmied, weil er Werkstatt und Laden vom Vater übernehmen konnte. ‚Lass die alten Sachen in der Erde ruhen, am Tageslicht zerfallen sie nur und behalten darfst du sie auch nicht’, meinte der Alte.
Ruedi, familiär ebenfalls aus der Schmuckbranche, studierte Gemmologie und wurde Edelsteinhändler. Schwerpunkt heute sind Rohdiamanten, aber das wissen nur Eingeweihte, die davon profitieren, dass sie schweigen. Vor zehn Jahren gehörte er zu den Mitunterzeichnern einer Resolution zur Verhinderung des Handels mit ‚Blutdiamanten’. Die Unterschrift war noch nicht trocken, da überredete ihn Einer, ins ‚Geschäft’ einzusteigen. Irgendwie behagte ihm das nicht, aber er begriff dann doch den Nutzen und kompensiert ihn seither mit der Patenschaft für ein Dorf kriegsgeschädigter Kinder in Afrika.
Moritz, von Haus aus schwerreich, studierte ein bisschen Volkswirtschaft, musste aber nie richtig arbeiten. Er sitzt im Verwaltungsrat der väterlichen Bank und managt Ruedis Konten. Auch die mit den Decknamen und den Nummern im Ausland. Als Treuhänder berät er ein paar Firmen. Hin und wieder durchkämmt er Gerolds Buchhaltung. Ansonsten dümpelt er seit Jahren in kirchlichen Kreisen herum, gründete ein Nonnenkloster im Süden Thailands, am Meer, und sammelt fortlaufend dafür Gelder. Wofür genau, sagt er nicht, winkt ab und meint:
„Die Mädels verwalten das selber. Die machten das bisher immer richtig. Vertrauen muss sein.“
Als Verwaltungsrat der alteingesessenen und traditionsreichen Bank hat er einen schier unbegrenzten, moralischen Kredit. Man glaubt ihm, auch wenn man nicht weiss, was. Einmal im Jahr fliegt er mit ein paar Geschäftsleuten zum Kloster, „ … um nach dem Rechten zu sehen“, und kommt aufgeräumt, mit frischer Lebensenergie zurück. Ausserdem organisiert er Vorträge von theologischen Koryphäen, die ihre besten Zeiten hinter sich haben oder die er mit beträchtlichen Summen besticht, damit sie überhaupt kommen. - Das Trieneli war seine Grosstante. Sie schätzte seine Besuche, besonders wenn er mit dem Pfarrer kam. Ihre Spenden für das Kloster waren dann jeweils sehr grosszügig.
Bruno bereist die ganze Welt und verschiebt Immobilien für die Glanz-und-Gloria-Gesellschaft. Seine Frau wohnt in Kalifornien, die beiden Kinder leben in Schweizer Internaten; Top-Instituten, an denen nur Englisch und Chinesisch gesprochen wird und die Jungen spielerisch lernen, weltweite Wirtschaftskontakte zu knüpfen.
Zweimal im Jahr trifft sich die Familie auf dem Landsitz in der Toskana. Danach seilt Bruno sich für drei Wochen ab und lebt in einer Strandhütte zwischen den Felsen, irgendwo im Norden Siziliens. Keine massgeschneiderten Anzüge, keine Seidenkrawatten, kein Handy, keine Austern und kein Kaviar. Vor allem aber und ganz sicher keine Frauen. In ausgeleierten T-Shirts, verwaschenen Badehosen, meist barfuss und unrasiert, läuft er ein paar Kilometer ins Dorf und versorgt sich am Kiosk mit dem Nötigsten.
Gerold besitzt neuerdings ein Haus mit Pinienhain auf Naxos. Es war ein Tauschgeschäft: Bruno hatte das Haus schon viel zu lange im Angebot und Gerold gerade das Ensemble fertig gestellt: Ein Collier mit drei Aquamarintropfen, passenden Ohrsteckern dazu und dem Ring aus einem klaren Aquamarin, zwei cm Durchmesser, eingefasst mit 25 Brillanten. Gerold nannte sein Werk ‚Traum der Ägäis’ und Bruno dachte, dass Gerold doch ein elender Romantiker geblieben sei, sagte aber:
„Toll, dein Juwelen-Gedicht! Wolltest du nicht immer schon ein Haus in Griechenland?“
Geld hat Gerold nie gesehen, aber das Haus versprach alles, was er sich wünschte. Es musste nur noch renoviert und ausgebaut werden, dann würde er es seiner Frau und seiner Tochter zu gleichen Teilen überschreiben. Falls mal was mit seinem Geschäft schief laufen sollte, wäre das eine Sicherheit, man weiss ja nie …
Für den Umbau konnte er Apostolos gewinnen und der war doppelt und dreifach froh: Dass er das alte Bauernhaus los war, dass nach Abzug der Provisionen ein bisschen Bargeld übrig blieb und dass er seine Fachkenntnisse bei der Renovation einsetzen konnte. Schöne Nebenverdienste, die in keiner Staatskasse versickerten und sich nicht auf geheimen Wegen in Boni verwandelten.
Sie sitzt vor dem kleinen Horizont, so nennt sie die Einbuchtung an ihrem Werktisch, biegt und sägt, hämmert und feilt, lötet, schmirgelt und poliert. Träumend sieht sie die Welt durch die Facetten der Edelsteine und meint, wenn in der Erde solche Kostbarkeiten ruhen, dann müsse es auch auf der Erde mit rechten Dingen zugehen.
Abends, am Computer, klickt sie das gelbe Kuvert an, öffnet die Datei ‚Übungen’ und beschreibt ihren Tagesablauf. Sie folgt dabei spontan den Gedanken, wie sie es im Wochenendkurs 'Wandern und schreiben' auf der Schwägalp gelernt hat. Irgendwann möchte sie ein Buch schreiben; im Moment weiss sie nur noch nicht so recht worüber.
'Alles im Fluss', schreibt sie. 'Hab die Scharniere ans Armband gelötet, alles vorpoliert und die Brillanten gefasst. Mit dem Verschluss bin ich nicht weiter gekommen. Soll Gerold sich morgen dahinterklemmen. Ich wüsste gern, wo er wieder mal so eilig hin musste.
Die Tochter vom Trieneli brachte den Schmuck ihrer Mutter zur Nachlassschätzung. Ein faltbares Lorgnon; der Griff aus Platin, mit Altschliffbrillanten besetzt. Die Perlkette, echte Flussperlen, Wert mindestens 8'000.-, bei der Grösse der Perlen und der heutigen Wasserverschmutzung eine Rarität; sie muss gereinigt und neu aufgezogen werden. Dann dieser alte Giftring mit dem Amethyst, den man zur Seite drehen kann und dann kommt die winzige Kapsel zum Vorschein. Hat’s Trieneli da vielleicht ein Notfallpülverchen versorgt? So ein bisschen hexisch war sie ja, da könnte ich mir das gut vorstellen!
Turmaline einsortiert, Ehe- und Serviettenringe graviert. Gerold wird seufzen: Seine Stichel sind stumpf geworden und ich schleif sie nicht gerne nach.
Moritz Vornasier kam vorbei. Wollte eine Spende für irgendein Nonnenkloster in Thailand. Immer weit weg, da kann’s keiner überprüfen. Das muss Gerold entscheiden. Der Moritz will ja immer grössere Summen. Er grinste und sagte: ‚Wo man fördert, darf man auch fordern’, und Gerold käme ihm schon nicht aus. Was meinte der blöde Schwätzer mit fördern? Betet der mit den Nonnen für uns? Der kann doch Gerold nicht das Wasser reichen mit seinen frommen Sprüchen.
Ein Kunde suchte für seine Frau einen Aquamarinring. Dem hätte ich gern das ganze Set gezeigt, hab es aber nicht gefunden, auch keinen Eintrag im Kassenbuch. Mir fiel ein, dass Gerold den Preis geändert hatte. Von 86'000.- auf 130'000,-. Ich erinnere mich, weil ein paar Tage später Gerolds Schulkollege kam. Bruno Helfenstein, der mit dem silbergrauen Lamborghini und den Immobilien. Obwohl er nichts kaufte, steckte er einen Hunderter in die Kaffeekasse, das fand ich noch nobel.
Hat Gerold das Set beiseite gelegt für die Ausstellung im Herbst? Dafür hätte er aber doch den Preis nicht hochsetzen müssen? Ausserdem versprach er mir: ‚Wenn du das Set am Stück verkaufst, bekommst du mehr Lohn.’
Ja, was nun? Frag ich ihn, wird er sagen: ‚Schaffen, Ines, nicht rumhirnen!’ oder: ‚Mehr Lohn gefährdet den sicheren Arbeitsplatz, was ist dir lieber?’
So redet er, wenn er nicht weiss, was er antworten soll und wird verlegen. Das ertrag ich nicht. Wenn er mir dann noch die Tüte mit diesen klebrigen Gummibärchen rüberschiebt …
Mutter telefonierte, fragte, ob ich am Sonntag mit Hannes vorbei käme. Weiss ich noch nicht. Wir gehen vielleicht lieber in die Berge. Ich brauch mal wieder Weitblick und festen Boden unter den Füssen. Sonst war heute nicht viel los.'