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Alles Gute kommt von oben
Charlie,
es tut mir wirklich, wirklich leid, dass dir das passiert ist! Das nützt dir zwar nichts mehr, aber sagen will ich es dir trotzdem. Mausetot … erschlagen!
Du bist … warst eine ganz lustige Rennmaus mit deinem weissen Kragen. Alles Gute komme von oben, heisst es. Du hast leider am eigenen Leib erfahren müssen, dass das nicht stimmt.
Der Morgen ist schon weit fortgeschritten. Ich bin daran, einen über Ebay ersteigerten dreitürigen Schlafzimmerschrank zusammenzubauen und stehe vorerst noch vor Einzelteilen. Anleitung habe ich keine. Ich würde auch keine brauchen, habe ich am frühen Morgen selbstbewusst verkündet, als ich das Möbelstück beim Verkäufer abgeholt habe.
An der Terrassentür steht die siebenjährige Meret von nebenan, ein temperamentvolles Mädchen, bei dem immer etwas laufen muss. Sie möchte mit meiner Tochter Monique spielen. Das geht klar. Wir sind ja daheim, und Barbies liegen mittlerweile genug herum.
Nach einer Weile tauchen die Mädchen auf und fragen, ob sie die Mäuse herausnehmen dürfen. Ob das eine gute Idee ist? Eigentlich ist Monique mit ihren neun Jahren schon recht verantwortungsbewusst. Sie hat Chili, Charlie und Jackson schon öfters im Kinderzimmer frei herumlaufen lassen und wirklich gut aufpasst, dass sie sich beim Herumwuseln nicht verkriechen konnten. Andererseits gehören die Rennmäuse nicht ihr, sondern ihrem grösseren Bruder Cédric, der das Wochenende bei seiner Patentante verbringt.
"Habt ihr denn schon Platz geschafft und Videokassetten ums Bett gestellt, damit die Mäuschen auf keinen Fall darunter geraten können?", frage ich mich an meine Tochter wendend. "Stellt euch vor, das gelingt einem von ihnen und es wird flachgedrückt, wenn wir die Bettschubladen herausziehen, um es hervorzuholen! Die Mädchen verziehen schaudernd das Gesicht.
"Ja. Alles schon parat. Wir haben mit deiner Erlaubnis gerechnet", antwortet Monique und grinst schelmisch. "Ihr müsst aber wirklich gut aufpassen. Cédric wäre sehr traurig, wenn etwas schieflaufen würde." Die Mädchen beteuern, dass sie das tun werden, und zotteln erfreut ab. Ich wende mich wieder dem Schrank zu, der mittlerweile drei Seiten und einen Deckel hat. Allzu viel kann nicht passieren. Zu zweit sind sie schneller, als wenn Monique allein ist. Zudem sind die Mäuschen eher fett und nicht mehr so flink.
'So wird das nichts!', ärgere ich mich, als mir endlich der Falt- und Schiebmechanismus der Schranktür einleuchtet. Ich hätte die Türrädchen vor dem Zusammenbau des Schrankes wohl besser in die Schienen eingefädelt. Zum Glück lassen sich diese abmontieren!
"Mama, ich glaube, der Charlie ist tot", meldet Monique mit einem Fragezeichen im Gesicht und grossen unglücklichen Augen. Hinter ihr steht Meret, die mich auch so anschaut, wie wenn ich noch etwas dagegen tun könnte. "Komm schnell mit ihm zum Tierarzt!"
Leider ist nichts mehr zu wollen, auch wenn Meret der festen Meinung ist, das Tierchen atme noch. "Es könnte ja nur bewusstlos sein", meint sie.
Schon keimt Hoffnung auf, und Monique kommt mit der Idee, man könnte etwas Wasser draufleeren, damit es dann, wenn es erwache, nicht Durst habe.
"Willst du denn, dass es erstickt, wenn es tatsächlich noch etwas atmet?", frage ich.
Das will Monique natürlich nicht riskieren. Wir sind bestürzt. Die Mädchen erklären ausführlich, wie es zu diesem grossen Unglück gekommen ist. Meret habe einen geflochtenen kleinen Glashalter aus Peddigrohr, der den Mäuschen im Weg stand, auf einen Stuhl gelegt. Der sei aber heruntergekullert und auf Charlie gefallen. Charlie sei danach allerdings noch etwas weitergerannt. Sie spekulieren, ob er dann vielleicht beduselt mit voller Kraft in die Wand gerast sei. Was genau passiert ist, bleibt unklar. Was soll ich bloss Cédric sagen? Wie dieser reagieren wird, macht uns allen Sorgen. 'Hätte ich die Mädchen doch nicht mit den Mäusen spielen lassen!' denke ich. Die beiden sind zerknirscht, fühlen sich schuldig, möchten die Zeit zurückdrehen und nachträglich noch besser aufpassen.
Meret kommt mit der Idee, das Mäuschen zu ihrer Mutter zu bringen. "Weisst du", sagt sie, "meine Mama ist Tierärztin. Vielleicht kann sie doch noch helfen!"
Zufälligerweise ist mir bekannt, dass Merets Mutter Verkäuferin ist. Die Schwindelei aufzudecken, macht jedoch keinen Sinn. Offenbar ist das Urvertrauen in die mütterlichen Fähigkeiten bei Meret noch ungebrochen. Das tote Mäuschen kann ich ihr trotzdem nicht mitgeben. Vielleicht will Cédric es nochmals sehen, wenn er heimkommt.
In der Hoffnung, alles könnte lediglich ein böser Traum sein, sind die Mädchen noch unzählige Male ins Zimmer gewandert, nur um festzustellen, dass sich gewisse Dinge nicht rückgängig machen lassen.
Cédric hat die Sache gar nicht einmal so schlecht aufgenommen, was wohl damit zu tun hat, dass er unter einer Darmgrippe leidet und nur eine halbe Portion ist. Er hat sein Mäuschen nicht mehr sehen wollen. Wir haben es im Aebnit-Wäldchen vergraben. Aus welchem Grund auch immer, hat er lediglich noch vor, die Stelle besonders zu markieren. Den aus seiner Warte am Unglück schuldigen Peddigrohr-Glashalter hat er mit Genugtuung zertrampelt.
Monique hat gestern gesagt, sie sei noch immer traurig, aber meiner Meinung nach ist ein Trauertag für ein Mäuschen genug.
Der Schrank steht, seine Türen rollen brav hin und her, und ich bin ganz stolz auf mich.