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Alles fließt
Meine ersten Erfahrungen mit Mädchen besprach ich mit Peter, ich flüsterte ihm bei seiner Entscheidungsprüfung in Geschichte die Antworten zu, er ließ mich die Mathematikhausübungen abschreiben, wir besuchten Konzerte von Punkbands und färbten uns die Haare schwarz. Sie nannten uns das "Peter-Hannes-Team".
Später wurde der Kontakt etwas loser, aber wir haben uns nie aus den Augen verloren. Er half mir finanziell immer wieder über die Runden, weil er wusste, dass ich das Geld niemals schuldig bleiben würde. Wenn es Probleme gab, konnte ich auf ihn zählen.
Vor zwei Wochen waren wir gemeinsam auf Schiurlaub. Er sagte, er müsse sich ablenken. Dennoch hatte er einen Stapel von Klatschzeitschriften bei sich, aus denen er Exzerpte anfertigte. Außerdem zog er sich immer um halb acht ins Hotelzimmer zurück, um die Fernsehnachrichten mitzuschreiben. Beim Liftfahren erzählte er mir Operettenszenen, obwohl sich weder er noch ich jemals für diesen Schmarren interessiert hatten. Bis vor kurzem zumindest. Peter konnte sich nicht entspannen.
Am letzten Abend blickte er mir tief in die Augen und fragte mich feierlich: „Hannes, willst du mein Telefonjoker werden?“ Ich konnte meine Rührung nicht verbergen. „Ja, ich will.“, antwortete ich. Meine Stimme bebte.
Etwa zwei Wochen ist es her, dass ich mit Hannes am Sessellift gesessen habe und ihn mit Operettenszenen genervt habe. Heute bin ich hier, in der Mitte dieses Studiosaals, rund um mich das Publikum.
Ich war derjenige, der am schnellsten die Wörter „Welt, Stock, Mutter, Hut“ in die richtige Reihenfolge bringen konnte, so wie sie im Lied „Hänschen klein“ vorkommen. Darum sitze ich jetzt hier – in der Mitte. Das ist die Chance meines Lebens.
„So. Die erste Frage. Wenn sich jemand überflüssig vorkommt, fühlt er sich als
A fünftes Rad am Wagen
B siebtes Blinklicht am Autobus
C viertes Pedal in der Dampflok
D zweiter Ganghebel am Traktor.“
Rund um mich das Publikum, vor mir der fidele Moderator, der mich belustigt taxiert. Ich gebe mich locker, mache ebenfalls „haha“. Diese Frage kann ich leicht beantworten, aber das ist nur der Beginn. Ich will die Million. Oh Himmel, ich will dieses Geld. Ich habe mich darauf vorbereitet, ich habe gebüffelt als ginge es um mein Leben.
Die Namen von Filmschauspielern und deren Verwandtschaftsverhältnisse. Die größten und kleinsten Staaten, Seen und Inseln der Welt. Ich kenne die längsten Flüsse und höchsten Berge in jedem Land auf dieser Erde. Die Schicksale sämtlicher Berühmtheiten habe ich im Kopf. Ich weiß bescheid über Teesorten, Hunderassen, Automarken, Fernsehsprecherinnen und deren Mädchennamen. In einer schlaflosen Nacht habe ich das Buch „Nichts als die Wahrheit“ von Dieter Bohlen gelesen. All das habe ich auf mich genommen, nun ist mein Gehirn voller Wissen, voller Information.
Ich lobe die Originalität der Fragen und sage: „Antwort A.“
Hannes hat mir schon damals durch die Geschichteprüfung geholfen. Meine Hände zittern. Noch eine richtige Antwort, und ich bin Millionär. Euromillionär. Keine finanziellen Sorgen mehr. Ich werde frei sein. Alles was ich will, werde ich mir leisten können. Die Chancen stehen gut. Ich habe noch einen Telefonjoker. Er wird mich auch jetzt nicht im Stich lassen. Die anderen Joker habe ich taktisch klug eingesetzt, ich habe mich nicht beirren lassen von den Witzen und Provokationen des Moderators. Ich war perfekt. Tausende Menschen haben über meine Bemerkungen gelacht, mein Wissen bewundert, mit mir mitgefiebert. Nur eine Frage noch. Und eine Antwort.
„Von welchem Philosophen stammt das Zitat „Ewiges Werden, endloser Fluss gehört zur Offenbarung des Wesens des Willens.“ Stammt es
A von Friedrich Nietzsche
B von Heraklit von Ephesus
C oder vielleicht von Arthur Schopenhauer
D oder von Ludwig Wittgenstein?
Ja, das waren gescheite Leute, die Philosophen. Hui, die hatten was drauf. Haben sie bereits einen Verdacht? Oder brauchen wir da vielleicht das Jokerli? Sie wissen, die Antwort ist eine Million Euro wert. Wenn sie aber falsch ist, fallen sie von 300.000 Euro auf 15.000 Euro zurück. Sie können das Geld nehmen, oder aber antworten. Damit riskieren sie 285.000 Euro. Das würde ich mir gut überlegen an ihrer Stelle.“ Er fixiert mich eindringlich und schelmisch gleichzeitig.
„Also, tun sie ihn kund, ihren Willen.“ „Arthur Schopenhauer hört sich gut an. Es ist aber nur so ein Gefühl. Rufen wir lieber meinen alten Jugendfreund, den Hannes, an.“ „Was macht denn ihr Jugendfreund beruflich?“ „Er ist Gärtner.“ „Naja, dann soll er seine Gedanken mal herübersprießen lassen. Haha. - Nun, vielleicht hat er ja eine Offenbarung, der Herr Hannes ...“
Das Telefon läutet. Peter braucht mich jetzt. Ich spüre ein flaues Gefühl in der Magengegend. Unsere Freundschaft wird nach diesem Telefonat nie wieder so sein wie vorher. Wenn ich ihm die richtige Antwort sage, ist unsere Freundschaft besiegelt. Wenn nicht, wird er sagen, ich könne nichts dafür, dass so etwas passieren könne und es wäre ja nur ein Spiel gewesen. Aber ich weiß, dass er enttäuscht sein würde. Unsere Freundschaft bekäme einen Riss und Peter würde sich zurückziehen. Das weiß ich. Ich habe darüber nachgedacht. Ich würde ebenfalls so handeln.
Er liest mir die Frage vor. Fünfzehn Sekunden habe ich Zeit. Das mit dem Fluss, stammt das nicht von Heraklit? Die Gedanken jagen durch meinen Kopf. „Heraklit.“, höre ich mich sagen. Fluss – Offenbarung – Nietzsche – Willen – Arthur – Witwenstein. Mir ist schwindelig. Bin ich mir sicher? Ich muss mir sicher sein. Heraklit muss das gesagt haben. Was soll er sonst gesagt haben? Irgendwas muss er ja gesagt haben. Was tut denn sonst ein Philosoph in Griechenland, ausser irgend etwas zu sagen. Irgend etwas über Flüsse. Gibt es in Ephesus Flüsse? Die spazieren sie dann entlang, die Griechen, und brabbeln wirres Zeug, das kein Mensch versteht. Die alten Griechen waren mir nie geheuer. Blödsinn. -
Mein Herz pocht, mein Mund ist trocken. Das muss stimmen, Herklit stimmt sicherlich. Muss, muss, muss; sagen, sagen, sagen. Ich halte das nicht aus. Vier Sekunden noch. Mir stockt der Atem. „Ja, ich bin mir sicher.“ sage ich, weil ich muss. Mir ist schlecht. Aus. Die Leitung ist tod.
Die Leitung ist tod, Hannes ist weg. Der Moderator redet auf mich ein: „Na, vertrauen sie ihrem Freund? Waren sie schon einmal in Griechenland?“ Ja, ich vertraue Hannes, habe ihm immer vertraut. Mit seiner Hilfe hatte ich damals meine Entscheidungsprüfung in Geschichte bestanden. Ich fühle mich in diese Situation zurückversetzt. Auch damals zitterten meine Hände, standen mir Schweißperlen auf der Stirn. Nun geht es um eine Million Euro. Nie wieder in meinem Leben werde ich so eine Chance erhalten. Damals drohte mir eine Nachprüfung und ein verpatzter Sommer. Heute entscheidet mein Vertrauen über ein Vermögen.
Die Situation erscheint mir unwirklich, als würde ich mich in einem Traum befinden. Ich halte mich an den Lehnen des Sitzes fest. Heraklit, stammt dieses Zitat wirklich von Heraklit? „Nein, ich war noch nie in Griechenland.“, meine Stimme klingt wie aus der Ferne.
„Bei Geld hört sich die Freundschaft auf, sagen die Leute. War ihr Freund schon mal in Griechenland?“ Was sagt er da? Er soll still sein. Er soll endlich still sein. Hannes war in Griechenland. Vielleicht war auch Arthur Schopenhauer in Griechenland. Ewiges Werden, endloser Fluss. Fluss. Alles fließt. Wasser. Ich nehme einen Schluck Wasser. Freundschaft, Vertrauen – Chance, Reichtum. Ständiger Wandel, Veränderung - Werden und Vergehen.
Wenn ich mich für Schopenhauer entscheide. Was, wenn Hannes recht hat und ich entscheide mich gegen seinen Rat? Meine Finger krampfen sich um das Metall der Lehnen.
Ich ertrage die Situation nicht länger. „Antwort B.“, sage ich tonlos. „Endgültig Antwort B?“ „Ja, Antwort B.“ „Sie sind sicher? Antwort B?“ „Ja.“
Selten zuvor habe ich in meinem Leben etwas so sehr gehofft, wie dass Heraklit von Ephesus diesen gottverdammten Satz herausgekotzt hat.
„Ewiges Werden, endloser Fluss gehört zur Offenbarung des Wesens des Willens.“ stammt nicht von Friedrich Nietzsche, auch nicht von Ludwig Wittgenstein. Dieses Zitat stammt ... “ Stille im Studiosaal. Mir erscheint diese hinterhältige, geradezu bösartige Sprechpause wie eine Ewigkeit. Endlich fährt der Moderator fort: „Es stammt von Heraklit von Ephesus ...“ – wieder eine künstliche, grausame Pause – „ ...auch nicht. Nein, Arthur Schopenhauer hat das gesagt. Das tut mir jetzt aber schon leid.“