- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Alles auf Anfang
Beschäftigst mich nicht mehr
Jeden Tag
Jeden Tag beschäftigst du mich
Nicht mehr
Du hast mich heute Nacht nicht schlafen lassen. Ich war einfach nicht im Stande, mir im Geiste dein Gesicht vorzustellen – und das hat mich so nervös gemacht, dass ich noch immer hier sitze, mit deinem Foto in der Hand und weine. Denn zum ersten Mal lasse ich es auch zu. Lasse das Gefühl der Schuld zu und verurteile mich dafür, nichts getan zu haben. Einfach meinen Weg gegangen zu sein. Weiter, immer weiter. Dich vergessen, dich verdrängt zu haben.
Und jetzt will sie einfach nicht vorbeiziehen, diese flatternde nächtliche Stille. Diese Kälte in meinen Händen, dein Foto weiter umfassend. Diese Wärme in meinen Schläfen. Das Dröhnen in meinem Kopf. Dieses drückende zitternde Gefühl, das meine Schultern so schwer und meine Gedanken so träge macht.
Wir haben uns verloren. Obwohl es immer deine größte Angst und mein ehrliches, wenn auch stummes Versprechen an dich war, dass all das Geschehene nichts würde ändern können, haben wir; habe ich dich verloren.
Verteidige ich dich nicht mehr
Für all das
Für all das verteidige ich dich
Nicht mehr
Ich wusste dich schon früher nicht zu greifen. So undurchsichtig wie du warst, bestandest immer aus so Vielem. Warst Sand in meinen Händen, manchmal warm und weich, manchmal nass und knirschend, manchmal ranntest du einfach davon. So trocken und porös. So flüchtig. Aber dieses Mal habe ich dir nicht mehr nachgesehen, sondern meine Augen fest verschlossen, während du durch meine Finger rieseltest. Und jetzt, da ich die Augen wieder öffne, bist du nicht mehr da. Bist verschwunden, bist verstreut.
Dabei hatten wir diese schönen Momente. Auch wenn ich nicht immer sicher war, was uns wirklich verband. Was dahinter steckte und woher diese Zuneigung kam, die wir uns meist zum Abschied – wie einstudiert – versicherten. War es Pflichtbewusstsein? War es Einsamkeit - oder nur die Angst davor? Die Angst, wenn schon wir uns nicht mehr nahe sein könnten – wer könnte es dann? An wen hätten wir uns sonst klammern können?
Mit dir zu reden, war gut. Mit dir zu lachen, war schön. Mit dir zu tanzen und zu schreien, war das Allerbeste. Aber zusammen zu schweigen, wurde immer schwerer. Denn am Ende hast du jedes Mal geweint. Und ich, ich habe dich festgehalten und wusste nie wohin. Wusste nicht, ob ich stehen oder sitzen, ob ich stark sein oder mitweinen sollte.
Stark warst immer du gewesen. Bis zu jenem Tag. Bis ich erfuhr, was du mit dir herumtrugst, und was ich zunächst auch glaubte, mit dir stemmen zu können. Gemeinsam ist es leichter, das sagen sie alle. Aber wir waren nicht gemeinsam, waren nicht zu zweit. Es gab immer diesen Dritten, der sich wie eine Krankheit an deine Last hängte. Der dich auszehrte und zu Boden zog. Und während du, daran gebunden, immer wieder von vorne beginnen musstest, weil du den Weg ständig aus den Augen verlorst, konnte ich irgendwann nicht mehr auf dich warten. Ich ging weiter. Ließ dich einfach hinter mir. Und jetzt sitze ich hier am Wegesrand, starr und weinend und versuche mich an den Abend zu erinnern, als du uns alles erzählt hast.
Woher dein Mut auf einmal kam, kann ich nicht mehr sagen. Plötzlich war diese Stille da, die deinen Worten nachhing und die niemand von uns zu unterbrechen wagte. Ich erinnere mich an den dunklen Raum, in dem wir saßen. An die blassen Wände, die flackernden Kerzen. Ben Howard im Hintergrund. „Looking around I see memories. What it was, oh what it was.‟
Wenn ich den Moment weiter in meiner Erinnerung abtaste, fallen mir die rußigen Ecken ein und das dunkel-lackierte Holzregal neben dem Herd – voll mit vom Dampf und der Zeit verschmierten, staubigen Gewürzen. Lichterketten. Kalt-erstarrtes Wachs auf der Tischplatte, die dampfenden Becher mit den Tiermotiven, der Geruch von Vanille und Bier.
Du bist nicht mehr da, in meiner Erinnerung. Weil ich dich nicht anschauen konnte, in diesem Moment. Ich weiß, dass du geweint hast. Das war das erste Mal. Ich habe dich umarmt und an die Decke, die Wände gestarrt, um deine Angst nicht sehen zu müssen. Die Angst, die ich seitdem mit dir verbinde. Davor, verletzt zu werden. Davor, dass nie wieder sein kann, was einmal war. Davor, dich selbst zu verlieren, in dem Moment der Wahrheit, deiner Nacktheit, deiner Schwäche. Denn deine Fassade hast du unwiderruflich abgestreift, weil man dir gesagt hat, du sollest es tun. Reden. Du müsstest darüber reden. Er hat gesagt, du müsstest darüber reden. Und es klang vernünftig – weil, er klang vernünftig. Aber aus heutiger Sicht war es das Schlimmste, was er dir antun konnte.
Verzeihe ich dir nicht mehr
Dein Zurück
Dein Zurück verzeihe ich dir
Nicht mehr
An diesem Abend wurde mir so vieles klar. Woher diese tiefe Traurigkeit, deine Selbstzweifel und manchmal gerade deine Fröhlichkeit – dein Wille alles wieder gut werden zu lassen – herrührten. Wieso hatte ich es nie erkannt? Wieso musste er erst kommen, um dich zu öffnen? Wieso ausgerechnet er? Für mich kam es aus dem Nichts. Plötzlich war es da und es war nicht mehr wegzudenken. Kam aus irgendeinem Loch, einer tiefen Quelle und gehörte auf einmal zu dir. Das war das Schlimmste. Es gehörte jetzt zu dir, wie dein wundervolles brodelndes Lachen, wie der kleine schneeweiße Fleck auf deinem Schneidezahn, wie die Proteinshakes in deinem Zimmer, die verblühten Orchideen auf der Fensterbank. Wie deine glitzernden Plugs im Ohr und dein Tattoo am Knöchel. Dieses Tattoo. Auf einmal bekam es eine neue Bedeutung. Ich konnte es nicht mehr ansehen, ohne daran zu denken. Wieso hattest du dir ausgerechnet den Ort in die Haut stechen lassen, an dem es passiert war? Wieso sagtest du immer, dass du zurück wolltest? Dorthin. Zurück. Du, gehst immer wieder zurück. Warum gehst du nicht nach vorn?
Entkräftest du mich nicht mehr.
Trotz meiner Zweifel
Trotz meiner Zweifel entkräftest du mich
Nicht mehr
Von da an habe ich alles mit angesehen. Wie dein Alltag zu einer einzigen Wunde wurde. Die du nicht sehen, aber fühlen konntest. Und sie juckte und machte dich verrückt. Vor allem in der Nacht, wenn du mit deinen Gedanken alleine warst, fingst du an zu kratzen. Immer auf der Suche nach ihr. In den Armbeugen, am Hals, an deinen Schenkeln, im Gesicht. Auch wenn er neben dir lag und schlief dann kratztest du, bis es anfing zu bluten. Kratztest sogar im Schlaf. Auch wenn du die Wunde nie finden konntest, den Schmerz nicht zu lokalisieren wusstest.
Er hat dich von Anfang an durchschaut. Er war es, der alles wieder ins Rollen brachte. Aber wo ich früher Empathie vermutete, sehe ich heute nur noch Perversion. Heute weiß ich, dass es die eigene wenn auch entgegengesetzte Erfahrung war, aus der er immer sprach. Täter kehren an den Ort des Verbrechens zurück. Er hat nicht nur dein Vertrauen missbraucht, er hat dich nicht nur verletzt, dich beraubt, dich entwürdigt. Du warst eine Droge für ihn. Bloß ein Ersatz. Du warst und du bist das Spiel, das immer wieder von Neuem beginnt. Die Geschichte, die sich stets wiederholt. Und du suchst immer nach dem falschen Mörder, auch wenn die Hinweise so deutlich, die Anzeichen nicht zu übersehen sind. Denn du willst nicht schon am Ende des Buches sein. Kannst nicht glauben, dass es das gewesen sein soll und blätterst immer wieder zurück.
Mit blauen Flecken kamst du nach Hause. Und immer wieder mit feuchten Augen. Diesen großen, blauen, feuchten Augen. Deine Brille hieltst du weiter in der Hand, die rosarote. Hast sie niemals losgelassen, und wenn ich noch so daran zerrte.
Zerre ich nicht mehr
An deiner Wahl
An deiner Wahl zerre ich
Nicht mehr
Dass du versuchst, das Gute im Menschen zu finden, dass du glaubst, dass jeder eine Zweite Chance verdient, erklärtest du mir, nachdem er es wieder getan hatte. Und deine Worte klangen so idealistisch, klangen so gut, so rein. Aber für mich waren es Worte, aus denen Verlustangst, aus denen Sturheit sprach. Und es waren nicht mal deine. Du hattest sie von ihm. Denn reden konnte er gut, und deine Stimme verriet dich.
Ich sprach so viel über das, was passiert war. Sprach über dich. Nur mit dir tat ich es zu wenig. Am Ende. Weil ich sehen konnte, wie dir die Kraft dazu fehlte. Dass du schwache Worte nicht verstehen konntest, dass dich starke Worte nur verletzten. Dass du begannst, mich anzulügen. Ich sah, wie du dich immer wieder vor diese Klippe stelltest, die du dich nicht zu überqueren trautest. Wie du den Weg immer wieder zurückliefst, weil der Anfang dich mit seiner Leichtigkeit lockte. Weil du dich daran erinnertest, wie schön und einfach er war. Und bis zuletzt stand ich auf der anderen Seite. Hoffend, dass du eines Tages den Mut haben würdest, mir zu folgen. Schwankend, ob meine Seite die richtige sei – ob ich überhaupt das Recht besäße, dich zu mir zu rufen.
Sehe ich dich nicht mehr
Aus der Ferne
Aus der Ferne sehe ich dich
Nicht mehr
Neulich bin ich wieder durch diese Straßen gelaufen, dich und ihn überall vermutend. Auf den Wegen, die mal meine, dann auch deine und zum Schluss einfach unsere waren. Heute sind es nur noch seine. Seit dem Moment, als er aus dem Taxi stieg, hinter uns. Als er sich aufbaute, vor uns. Vor dir eigentlich, aber ich stand dazwischen. Wie ich es immer tat. Und das sagte er auch. Dass ich im Weg gestanden hätte. Ich!
Und als ich dann all das hätte sagen sollen, was ich zu sagen mir Wochen und Monate vorgestellt hatte, versagten meine Worte, versagte mein Schreien beim Anblick deiner leeren Augen. Deiner Bewegungslosigkeit. Wie du hinter mir standest, als wärst du nur ein stummer Beobachter. Als würde dich all das gar nichts angehen. Als sei es ein Kampf zwischen mir und ihm. Nicht zwischen euch. Deine Tränen wussten nicht wohin und tropften einfach auf den Boden, weil du sogar vergessen hattest, zu blinzeln.
„Ich bin so müde‟, sagtest du mir später, als es vorüber war. Vorüber? Die Augen waren so beunruhigend trocken, aber blinzeln konntest du immer noch nicht. Müde. Matt. Ohne jeden Ausdruck. Ohne jedes Ziel. „Dieses ganze Gerede,‟ hauchtest du. „Ich kann nicht mehr‟. Du wolltest einfach nur schlafen. Und ich war froh, dass es vorbei war. Dass deine Wunde endlich würde heilen können, weil du sie, so schmerzhaft es auch war, letztlich gefunden hattest. Dachte ich. Aber du hast dich dafür entschieden weiterzukratzen. Noch einmal. Zurück. Alles auf Anfang.
Das Letzte, was ich dir sagte, war, dass mir dir Worte fehlen. Denn für deine Entscheidung hatte ich keine Kraft und du hattest keine Antwort für mich. Mit blauen Flecken ging ich nach Hause. Und drehte mich nicht mehr um.
Verschärft es sich nicht mehr
Weil ich nichts weiß
Weil ich nichts weiß, verschärft es sich
Nicht mehr
Ein Freund hat es mir jetzt ganz beiläufig erzählt. Als ich es erfuhr, hörte ich nur noch das Rauschen der Blätter. Als würden sie durch meinen Kopf fegen, um die Bilder, die Vorstellung, das Wissen zu übertönen. Das Wissen, das mich auf einmal mitschuldig machte, das mich wieder drängte, mich zu dir umzudrehen. Gegenwind, der nun meine Schritte mühsam machte, den Weg so endlos und einsam erscheinen ließ. Es war, als wäre ich es gewesen, die ein weiteres Mal in falsche Hände geraten und schlimmer – an ihnen kleben geblieben wäre. Als wäre ich es, die nicht wüsste, was hinter allem steckte, und sich doch mittendrin befände.
Und ich habe Angst. Nicht nur vor ihm, sondern auch davor, dir zu begegnen. Weil ich nicht wüsste, was ich dir sagen sollte, von dem, was mich wachhält, von dem, was ich weiß. Weil es so vieles gibt, was ich loswerden möchte, auch wenn ich nicht darf, auch wenn ich nicht kann. Weil es so vieles gibt, das ich ungeordnet in eine Ecke schieben musste. Weil es so vieles gibt, das nicht mehr nur dich und ihn betrifft.
Ich könnte dir sagen, dass du falsch liegst. Dass ich alles weiß über ihn, dass er nicht das Opfer, dass er der Täter ist. Aber du würdest mir nicht glauben. Denn an irgendeinem Punkt hast du aufgehört das zu tun, und alles was ich von da an sagte, machte es nur noch schlimmer. Ich könnte dir sagen, dass ich nicht noch einmal mit ansehen kann, wie du in den Gegenverkehr gerätst, alle Hinweisschilder missachtend. Aber das tat ich schon viel zu oft. Ich könnte dir sagen, dass du wieder stark werden musst, dass du dich nicht aufgeben darfst, aber das hast du schon längst.
Ich könnte dir sagen, dass ich nachts nicht schlafen kann, weil ich ihn zu deutlich vor mir sehe, während du immer mehr verblasst.