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Alleingelassen
Alleingelassen
Da Sie nun wissen, was Ihnen bevor steht, erwarte ich, dass Sie sich bis morgen entscheiden. Wir können nicht länger warten. Wenn Sie sich nicht morgen entscheiden, wird alles seinen Lauf nehmen.
Sicherlich, die Operation könnte Ihr Baby retten, aber Sie wissen, wie die Chancen bei einer OP im Mutterleib stehen. Und bedenken Sie auch die Konsequenzen für sich selbst. Wenn Sie nichts tun, werden Sie und Ihr Kind lebenslang unter den Folgen zu leiden haben. Bitte entscheiden Sie sich verantwortlich. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen, ich erwarte Sie morgen früh um neun. Ist das in Ordnung?
Nein, es war nicht in Ordnung. Nichts war in Ordnung, und werden würde auch nichts wieder so. Sechzehn Stunden und sie sollte eine Entscheidung fürs Leben fällen, eine Entscheidung über das Leben. Er tat nur seinen Job. Das ist für ihn nichts Persönliches. Sie fühlte sich viel zu allein. Wir müssen auch sehen, dass wir es uns nicht so zu Herzen nehmen, Schatz. Lass uns einfach die Entscheidung treffen. Manchmal hasste sie ihn mehr, als sie ihn je geliebt hatte. Und gleichzeitig hasste sie auch den Arzt mit seinen schlauen Ausführungen, von denen sie nicht die Hälfte verstand.
Die Konsequenzen waren ausgebreitet, wie ein hoffnungsloser Flickenteppich, den sie nicht überschauen konnte. Ihre Möglichkeiten waren beschränkt. Die OP, die Abtreibung, oder die Geburt, die Sarah – es war ein Mädchen, seit gestern wusste sie es, aber ihm hatte sie es noch nicht gesagt – vielleicht nicht überleben würde. Das erste Jahr, das sie vielleicht nicht überleben würde. Die OP, die sie vielleicht nicht überleben würde. Wahnsinn. Eine Entscheidung, die man ihr auferlegt hatte, die zu treffen sie nicht bereit war. Die zu treffen sie niemals bereit sein wollte.
Wir machen das schon. Ja, sie hasste ihn bestimmt mehr, als sie ihn je geliebt hatte. Er kannte nichteinmal ihren Namen, aber er wollte und würde über ihr Leben entscheiden. Er wusste noch nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Er hatte gesagt, sie solle es nicht erzählen. Nicht jetzt. Erst hinterher.
Hinterher? Wann mochte das sein. Und was sollte dann sein. Durch den Hass quoll Furcht, die ihren Puls steigen ließ. Sechzehn Stunden, in denen sich alles entscheiden würde. Sie alles entscheiden würde.
Wenn die Operation fehlschlug, das sagte der Arzt in einem Ton, als würde er über eine versalzene Suppe sprechen, dann würde sie keine Kinder mehr bekommen können. Vermutlich. Das würde man dann erst sehen. Deshalb favorisierte er die Abtreibung. Kurz und schmerzlos, hatte er gesagt, in dem Moment, in dem sie ihm ins Gesicht schlagen wollte. Dem Moment, seit dem sie ihn definitiv hasste.
Zugunsten eines Vielleicht-später, das Jetzt aufgeben. Ja, er konnte das. Gemeinsam mit dem Arzt. Einen Kredit würde sie so aushandeln. Vielleicht sogar ein Haus auf diese Art kaufen. Aber über das Leben redet man nicht so.
Wie konnte sie je einen Mann geliebt, sogar geheiratet haben, der so dachte? Der das Leben so kühl sah. Der nicht aus der Ruhe zu bringen war. Nicht einmal vom Untergang ihrer Welt. Der diesen Druck nicht abfing, sondern einfach einen Schritt zur Seite trat und sie mit voller Wucht auf die Erde schlagen ließ.
Nichts weiter als Übermorgen. Ich wünsche mir nichts weiter, als morgen aus meinem Leben zu streichen. Lieber verzichte ich auf einen Tag meines Lebens, als dass sie das durchmachen muss. Seine Stimme zitterte schon in seinen Gedanken. Deshalb schwieg er. Für sie. Ihr Stärke imponierte ihm. Sie schien ihn nicht zu brauchen. Seine Hilfe abzuweisen. Er stand auf, und half ihr, das Büro des Arztes zu verlassen. Die Tür schloss hinter ihnen mit einem leisen Geräusch. Es drang nicht zu ihnen durch.
[ 25.06.2002, 18:25: Beitrag editiert von: arc en ciel ]