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Alleinflug
Der Fluglehrer beobachtete durch den Feldstecher das vor zwei Minuten gestartete Flugzeug. 'Verdammt, was macht der da bloß für einen Blödsinn', dachte er und griff zum Funkgerät.
"Das sieht nicht gut aus, was du da oben machst, Jan", sagte er und versuchte, seine Sorge in seiner Stimme zu unterdrücken. Jan war zum ersten Mal auf sich allein gestellt, als er aufgebrochen war zu dieser Platzrunde. Die Weisung war, schnell auf zweitausend Fuß zu steigen. Die örtlichen Gegebenheiten waren für einen seichten Steigflug nicht gegeben. Zu viele hohe Bäume und Gebäude in der Nähe und der Flugplatz lag zudem in einem Tal.
Der Start war anfangs unspektakulär gewesen. Dann aber war er in diese, jetzige Situation geraten: Die Geschwindigkeit seiner Maschine war zu gering geworden. Normalerweise war das noch kein kritischer Zustand in einem Flug. Nase nach unten und durch das Wirken von Schwerkraft und Aerodynamik wieder Geschwindigkeit gewinnen. Das Überwachungssystem hatte noch keinen Strömungsabriss an den Tragflächen gemeldet, und dennoch zeigten seine Bemühungen, die Fluglage zu verbessern, keine Wirkung.
"Ich weiß schon selber, dass ich nicht optimal fliege", antwortete er auf den Funkspruch seines Fluglehrers, der ihn vom Boden aus beobachtete.
Dann ertönte der gefürchtete Warnton und ein Zittern ergriff das Flugzeug. Jetzt wurde er nervös. Er schob den Leistungshebel auf maximale Leistung und drückte das Steuerhorn nach vorn. Der Motor heulte auf, aber nichts geschah. Seine größte Angst war jetzt, dass sich die Maschine zur Seite neigte und über die Tragflächen abrutschte. Dann wäre sie nicht mehr zu halten, weil sie ins Trudeln geriete und in dieser geringen Höhe bliebe ihm keine Zeit, wirksame Abhilfe zu schaffen.
Er befand sich über einem bewaldeten Abhang. An dieser Stelle hätte er eigentlich die Kurve einzuleiten und in Gegenkurs zur Startbahn zu gehen gehabt. In die Kurve zu gehen, wäre jetzt Selbstmord. Weiter geradeaus zu fliegen bedeutete, gegen die Felswand am Ende der Schlucht zu krachen. Der eindringliche Warnton verstummte nicht.
"Nimm Gas weg, dann geht sie mit der Nase runter", riet sein Fluglehrer.
Okay, Gas weg. Mit zittriger Hand fasste er den Leistungshebel und zog ihn zu sich. Das laute Motorgeräusch erstarb und ging in leises Flüstern über. Er schien in der Luft zu stehen. Das Steuerhorn hielt er immer noch verkrampft nach vorn gedrückt. Jan fühlte sich auf einmal wie in der Achterbahn auf diesem Vergnügungspark, in dem sie im letzten Sommer gewesen waren. Er wartete, dass er vornüber in die Tiefe stürzen würde, doch plötzlich geschah das Befürchtete: Das Flugzeug sackte nach der Seite weg und ging in den Sturzflug. Noch immer schrillte dieser quäkende Warnton - also noch nicht genug Geschwindigkeit, um die Maschine abzufangen. Die Bäume kamen langsam näher.
"Jetzt vorsichtig abfangen!" Die Stimme seines Fluglehrers wurde lauter.
Jan versuchte eine Vierteldrehung nach rechts. Langsam reagierte die Maschine wieder. Er griff den Gashebel und schob ihn auf volle Leistung. Jetzt zog er vorsichtig das Steuerhorn zu sich heran.
"Pass auf, dass du nicht zu schnell wirst, wenn du sie abfängst!" Jan schaute auf die Instrumente. Hundert Knoten waren nicht zu schnell, das sollte klappen. Geschwindigkeitsanzeige bedeutete Strömung. Er hatte sie wieder in seiner Gewalt. Durch die geglückte Vierteldrehung konnte er nun in das Tal hinein fliegen und wieder an Höhe gewinnen. Jetzt hatte er auch genügend Raum und Zeit für den erneuten Aufstieg.
Aufatmen auf beiden Seiten.
"Ich hab sie wieder", versuchte Jan so cool wie möglich, seinen Fluglehrer zu beruhigen.
"Komm erst mal wieder runter und dann versuchen wir's später noch einmal. Mach den Anflug, wie bei der normalen Platzrunde." Das hatte gesessen. Das hieß so viel wie durchgefallen.
"Landen wie bei Platzrunde. Verstanden, Sir." Jan war nun nicht gerade zum Jubeln zumute, aber ein bisschen Anerkennung nach dem Manöver hätte er sich dennoch gewünscht. Er korrigierte seinen Kurs und stieg auf zweitausend Fuß.
Jan flog jetzt parallel zur Landebahn. Er konnte sie aus dem Seitenfenster sehen.
"Jan, es kommt Wind auf. Stärke sechs, aus Südwest. Pass auf, dass du nicht gegen den Talhang gedrückt wirst." Jan fluchte still vor sich hin. Wind aus Südwest. Die Landebahn lag in Zwei-Sieben-Null, also genau nach Westen ausgerichtet. Im Moment bedeutete das Rückenwind mit leichter Querkomponente von rechts. Sein jetziger Kurs war genau Null-Neun-Null, also exakt Ost. Zum linken Talhang war genug Platz, aber er würde schnell seine Ausrichtung zur Landebahn korrigieren müssen. Anhaltspunkt für die Wende war ein Kirchturm des nahegelegenen Dorfes. Den musste er so umfliegen, dass er ihn immer genau unter sich hatte. Hier oben musste die Windgeschwindigkeit um einige Stärken höher sein. Ein Gewitter kam rasch näher. Es würde sich im Tal festhängen. Dann käme der Wind aus allen Richtungen.
"Ich glaub, das wird eine ruckelige Angelegenheit", gab er als Antwort auf den letzten Funkspruch. "Kannst du das Gewitter sehen?", fragte er seinen Fluglehrer.
"Noch nicht, aber ich sehe es im Niederschlagsradar. Wenn es hier ankommt, wird's vermutlich laut. Also, runter mit dir."
"Bin schon auf dem Weg. Da bauen sich beachtliche Wolken auf, schwarz wie die Nacht. Ich will da nicht reinkommen." Jan überlegte sich, ob er vielleicht den Anflug doch schräg zur Landebahn und damit genau gegen den Wind vornehmen sollte. Aber so etwas hatte er noch nie machen müssen, auch nicht, als sein Fluglehrer mit an Bord war.
"Was meinst du, soll ich den Anflug aus Nordost wagen?", fragte er.
"Das schaffst du nicht. Dafür bist du zu niedrig und zu weit drüben. Und für ein größeres Wendemanöver fehlt dir der Platz nach vorn. Außerdem ist das zu riskant für dich. Komm gerade rein." Sein Fluglehrer traute ihm noch nicht so viel zu und vor allem hatte er Angst um ihn. Aber Jan hatte eher Angst vor dem Seitenwind, der ihn bei der Landung erwartete. Sollte er es also trotz dem wagen, den Anflug schräg zu machen? Zwei Herzen schlugen in seiner Brust. Wenn er die Landebahn von Nordwesten her anflöge, müsste er eine exakte Kurve in genau der richtigen Zeit fliegen, um die Piste zu treffen. Er schaute sich um, konnte aber den Bewuchs aus der Richtung nicht sehen. Dafür war er schon zu weit entfernt.
Der Kirchturm kam in Sicht, aber er war ein ganzes Stück weiter rechts, als Jan ihn erwartet hätte. Also musste er statt einer Linkskurve nun nach rechts fliegen, um auf Landekurs zu kommen. Er sondierte die Lage im Tal. Nach oben zu steigen, um über dem Plateau wenden zu können, schien ihm eine Lösung zu sein. Das bedeutete aber für den Schräganflug einen Sturzflug ins Tal. Der Kirchturm verschwand aus seinem Sichtfeld. Wenn er jetzt nicht stieg, schaffte er es nicht.
Sein Fluglehrer ahnte, was er vorhatte.
"Jan, ich hatte gesagt, gerade reinkommen. Hier bricht in wenigen Minuten die Hölle los. Ich will nicht, dass du noch da oben bist, wenn's losgeht!"
Aber Jan hatte seine Entscheidung längst gefällt. Er gab Vollgas und flog auf den Auslauf des Tals zu. Als seine Geschwindigkeit hoch genug war, ging er in einen steilen Steigflug und vollführte im gleichen Augenblick eine enge Linkskurve. Der Abstand zu den Bäumen am Nordhang des Tales betrug noch maximal zwanzig Meter.
"Gib mir die genaue Windrichtung am Boden", funkte er zum Flugplatz.
"Du Arschloch, das war dein erster und letzter Flug auf meiner Maschine! Immer noch genau Südwest, aber zunehmend."
Er flog ein Stück auf der linken Seite das Tal zurück, vorbei am Kirchturm, bis er die Landebahn in 45° rechts vor sich hatte. Dabei musste er kräftig nach links gegenhalten. Seine Höhe betrug noch etwa fünfhundert Fuß über Grund. Das Tal selbst war nicht so dicht bewaldet. Nur der Flugplatz lag inmitten eines kleinen Waldstücks. Er suchte sich eine Lücke aus, durch die er würde hindurchfliegen können, sonst, wenn er über die Bäume fliegen müsste, wäre der Abstand zur Landebahn zu kurz. Die Geschwindigkeit des Flugzeugs betrug nun noch sechzig Knoten. In der Nähe von Bäumen musste er mit starken Verwirbelungen rechnen. Das konnte dazu führen, dass er schlagartig durchsackte und auf dem Rasen aufsetzte. Das Gleiche konnte passieren, wenn der Wind sich plötzlich legte. Je näher er dem Flugplatz kam, desto mulmiger wurde ihm in der Magengegend. Die kleine Maschine wurde durchgeschüttelt, dass er sie kaum ruhig halten konnte. Auf was hatte er sich da nur eingelassen. Wenn er die Landebahn gerade angeflogen wäre, wie er es sollte, hätte er seine Geschwindigkeit behalten, wenn der Seitenwind weg gewesen wäre. Er wünschte sich, dass er schon festen Boden unter den Füßen hätte, aber bis es so weit war, musste er das hier zu einem guten Ende bringen.
Direkt vor ihm stand eine alte Scheune. Bis zu den Bäumen, die das Gelände des kleinen Sportflugplatzes säumten, waren es noch ungefähr zweihundert Meter. Gerade, als er die Scheune überflog, wurde er von einer starken Windböe erfasst und nach oben gerissen. Genau diese Böe war vorher in die Bäume gefahren und hatte sie gewaltig durchgeschüttelt. Nur mühsam konnte er das Flugzeug wieder nach unten drücken. Dann hatte er die Bäume erreicht. Mit der linken Tragfläche streifte er die Blätter eines Baumes, dann legte er die Maschine in eine steile Rechtskurve und drückte sie weiter herunter. 'Jetzt keine Böe mehr', flehte er in Gedanken, als er die Tragflächen waagerecht ausgerichtet hatte. Dann nahm er die Nase des Flugzeugs hoch und setzte auf. Er drückte mit beiden Füßen auf die Bremse und rollte zum kleinen Hangar.
Sein Fluglehrer erwartete ihn bereits mit Zornesröte im Gesicht. Jan nahm sich Zeit mit dem Aussteigen. Seine Knie schlotterten ihm gewaltig, nicht nur wegen des Flugs. Er machte sich seelisch bereit auf die Moralpredigt, aber er sah seinem Fluglehrer fest in die Augen.
"Entschuldige, Mann, das sollte eigentlich eine Platzrunde werden", stammelte er, als er ihn erreicht hatte. Der Wind war inzwischen zu einem Sturm angewachsen, der an dem kleinen Sportflugzeug rüttelte.
"Was bist du nur für ein Himmelhund!", brüllte ihn sein Fluglehrer an. Dann nahm er Jan in die Arme und sagte: "Hast wahrscheinlich heute das Fliegen gelernt. Mehr Scheiße kann doch kaum passieren." Seit er selbst flog, hatte er ein Wetter selten so schnell sich nähern sehen. Besorgt betrachtete er den Himmel.
"Komm, wir schieben die Maschine in den Hangar, das wird noch schlimmer hier", sagte er zu Jan und löste die Bremsen des Flugzeugs, um es bewegen zu können.
Erst sehr viel später entrang sich Jan ein: "Danke."