Alleine sein
Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Nun ist er alleine.
Matze atmet tief durch. Er versucht ruhig zu bleiben, doch das Herz in seiner Brust schlägt unaufhörlich in diesem wilden Rhythmus, als würde es Salsa tanzen oder Achterbahn fahren.
Noch nie hat Matze so etwas gemacht. Vielleicht als kleines Kind, aber er ist immer wieder zurückgekommen. Nach ein paar Stunden, vielleicht Tagen. Aber diesmal wird er bleiben.
Er hat keine Lust mehr. Keine Lust mehr auf die Schule, wo er sowieso keine Freunde hat und ausschließlich schlechte Noten schreibt. Auf seine Mutter, die ihm zum Klavierunterricht zwingt und ihm auch so immer nur auf die Nerven geht. Und auf seinen Stiefvater, der ihn nach jedem Mathetest windelweich prügelt.
Mein Leben ist echt scheiße, denkt sich Matze. Aber jetzt will er es ändern. Er möchte einfach nur verschwinden. Irgendwo wird er schon unterkommen, notfalls auf der Straße schlafen.
Er wirft nochmal einen letzten Blick in seinen Rucksack, ob er auch nichts vergessen hat. Nein, es ist alles da: Zahnbürste, Ausweise, Wechselklamotten, Shampoo, eine Decke, eine Taschenlampe, Chips, belegte Brote und zwei Flaschen Cola. Und natürlich der Geldbeutel seines Stiefvaters. Matze hat das Geld gezählt und es sind fast fünfhundert Euro. In bar!
Eigentlich kann er es kaum fassen. Und wäre er nicht auf der Flucht, würde er sofort in den nächsten Videoladen rennen und sich das neueste Computerspiel kaufen. Aber in seiner jetzigen Situation ist das natürlich Schwachsinn.
Selbst sein Handy musste Matze zu Hause lassen. Wenn er es im Rucksack hätte, könnte die Polizei in jeder Zeit orten. Das hat er in genug Filmen gesehen.
Matze läuft los. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Er muss von zu Hause fort und möglichst weit weg, bevor seine Eltern merken, dass er nicht mehr da ist. Obwohl es ihnen sowieso egal wäre, denkt Matze sich verbittert. Bestimmt wären sie froh, weil sie ihn endlich nicht mehr ertragen müssten.
An der Straßenecke bleibt Matze noch einmal stehen. Er sieht sich um, wirft einen letzten Blick zurück.
Das Haus steht weiterhinten in der Straße, alle Lichter sind gelöscht. Wenn seine Eltern nach Hause kommen, werden sie sicher denken, dass er noch bei einem Freund wäre. Wenn er denn welche hätte.
Aber Matze hat keine Freunde. Darum kann er auch nicht zu ihnen, um sich dort zu verstecken. Aber er hat einen Plan. Mit dem Geld wird er sich erst einmal ein Zugticket kaufen. Und dann fahren…immer weiter und weiter. So weit, dass sie ihn nicht mehr finden werden. Vielleicht kann er ja irgendwo arbeiten.
Klar, Matze weiß schon, dass Kinderarbeit verboten ist. Aber man hört im Fernsehen ja immer wieder, dass Arbeitgeber trotzdem Kinder einstellen. Er wird schon jemanden finden, der ihn aufnimmt.
Da ist er sich sicher. Er weiß es einfach.
Matze wirft einen Blick auf seine Uhr. Es ist spät. Er muss gehen.