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Allein
»Tot«, dachte Liz. Das war das richtige Wort für das, was sie sah. Die Sonne schien durch eine dichte Wolkendecke und beleuchtete den verdorrten, mit Unkraut überwucherten Garten nur teilweise. Der Anblick machte sie traurig. Liz stand an dem hohen Turmfenster, den ihre Mutter als ihren Lieblingsplatz auserkoren hatte. Hier hatte sie gesessen, in einem Buch geblättert oder einfach nur den Blick über ihren prachtvollen Garten genossen. Das war jetzt ein Jahr her. Seitdem streifte Liz allein durch die halb verfallenen Gemäuer des Familienbesitzes. Sie fehlte ihr so sehr, dass es selbst in ihren Träumen noch wehtat. Der Gram über ihren Verlust fraß sie innerlich auf. Andere Familienangehörige oder Freunde hatte Liz nicht. Dafür lebte das Mädchen zu abgeschieden.
Die Sonne konnte die tiefen Schatten nicht erhellen, die sich in dem hinteren Teil des Gartens sammelten. Dort war es am schlimmsten. Früher standen die Bäume und Büsche in saftigem Grün, jetzt knarrte das Geäst bei jedem Windhauch. Braune Schlingen hatten sich gebildet, wo einst die Äste voller Blüten waren. Die Rosenbüsche, die ihrer Mutter immer am meisten Freude bereitet hatten, warfen ihre Blätter ab und zeigten ein Gewirr aus Dornen, bei deren Anblick Liz eine Gänsehaut über den Rücken lief. Vor einem dieser Büsche hatte sie vor einiger Zeit ein Häufchen brauner Federn gefunden. Als sie die Dornenranken vorsichtig auseinander schob, entdeckte sie den aufgespießten Kadaver eines kleinen Vogels. Sein Blut klebte noch an einer Blüte, die bis auf diese winzigen Farbtupfer gänzlich braun und welk war. Um den Kadaver herum waren ein paar Zweige abgeknickt. »Wäre es nicht zu absurd«, hatte Liz gedacht, »würde ich glauben, der Vogel und der Busch hätten miteinander gekämpft.«
Als die Sonne unterging, löste sich Liz von ihrem Ausblick. Sie entzündete eine hohe, weiße Kerze und stieg die Treppen herunter, bis sie in der großen Küche stand. Selbst hier waren die Pflanzen eingegangen oder hatten Unkraut und Wildwuchs angesetzt. Sie stellte die Kerze auf einem alten Holztisch ab und holte sich eine kleine Portion Gemüsesuppe aus dem Topf, der auf dem Herd stand. Während sie lustlos aß, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen und verschleierten die Welt. Der Schmerz über den Verlust der Mutter überdeckte alles. Als die Schatten länger wurden, kroch die Angst wieder in ihr hoch. In letzter Zeit hatte sie seltsame Dinge erlebt. Ihre Stimme klang dumpf und unwirklich als sie sich anherrschte: »Das sind doch alles nur Hirngespinste!«
Sie nahm eine flüchtige Bewegung wahr. Dann hörte sie ein wütendes Summen, welches aus einem Blumentopf auf dem Fensterbrett zu kommen schien. Als sie in die Richtung des Geräusches blickte, schwirrte ein Insekt mit langen Beinen und durchsichtigen, glänzenden Flügeln aus den Überresten eines Zitronenbusches. Es hatte sich in einem Gewirr aus Zweigen und abgestorbenen Blättern verfangen. Während es sich zu befreien versuchte, kroch ein anderer Zweig aus dem verdorrten Blattwerk und griff mit rasender Geschwindigkeit nach den Flügeln des Insektes. Verzweifelt versuchte es, sich zu befreien, der Griff des Zweiges ließ jedoch nicht nach. Schließlich brach der Flügel ab. Ein weiterer Ast legte sich um den kleinen Körper und zog das zappelnde Insekt in das Innere des Busches zurück. Währenddessen waren nur wenige Augenblicke vergangen, in denen Liz ihren Löffel fallen ließ und aufsprang, um die Szene näher zu betrachten. Als sie heran trat, hörte sie es leise knirschen, als würde das Geäst des Zitronenbusches die letzten Reste des Insektes aufknacken und verschlingen. Angewidert betrachtete Liz den übrig gebliebenen Flügel. Dann nahm sie ihre Kerze und verließ den Raum.
☽☾•☽☾
Nachdem Sie sich ausgekleidet und die Decke bis zum Kinn hochgezogen hatte, dachte Liz über die soeben erlebte Geschehen nach. So etwas ist zu Mutters Lebzeiten nie passiert. Sie zog ihre Beine näher an ihren Körper und starrte in das Licht der fast heruntergebrannten Kerze. Seit sie sich erinnern konnte, lebte sie mit ihrer Mutter auf diesem Hof. Die vielen Gänge, die hohen Räume und vor allem der große Garten, mit seinen Hecken und Büschen, fein angelegten Blumenbeeten und dem abgesteckten Gemüsefeld, all das war ihre Welt. Als ihre Mutter noch lebte, waren die Räume stets mit Liebe und Wärme gefüllt, mit Lachen und Fröhlichkeit, selbst im tiefsten Winter. Hier konnte man glücklich sein. Hier brauchte man keine Welt außerhalb. Es schien, als nahm ihre Mutter all diese Wärme und Geborgenheit mit als sie starb. Liz war zu jung und unerfahren, um allein in die Welt hinaus zu gehen. Die Dorfbewohner kannte sie kaum, und seit dem Tod der Mutter ging sie nur noch selten ins Dorf. Es kam ihr nicht in den Sinn, das Gut zu verlassen. Sie kümmerte sich, so gut es eben ging, um das Haus und den Garten, pflanzte Gemüse an und wässerte die Blumenbeete. Doch so sehr sie sich auch bemühte, der Garten und mit ihm alle Pflanzen, Blumen und Bäume schienen ein Eigenleben zu entwickeln. An einem Tag entfernte sie das Unkraut, an dem Nächsten wucherte es noch höher. Die Pflanzen veränderten mit der Zeit ihr Aussehen. Aus Blättern wurden Dornen, aus kleinen Ästen und Zweigen wurden Schlingen, in denen man leicht hängenbleiben und sich verletzen konnte. Und dann die Tierkadaver. Der kleine Vogel und das Insekt waren nicht die einzigen Vorkommnisse, die Liz beobachtete. Immer wieder fand sie Überreste von Nagern, Vögeln und Insekten in ihrem Garten. Immer in unmittelbarer Nähe der Pflanzen. Sie erfand für sich fadenscheinige Erklärungen, um nicht darüber nachzudenken. Sie wollte nicht glauben, dass der Garten ihrer Mutter sich so sehr ins Abscheuliche verwandelte. Mittlerweile war sie allerdings an einem Punkt angekommen, an dem sie nicht mehr alles zu lebhafter Fantasie zuschieben konnte. Die Ereignisse häuften sich, die Kadaver wurden größer und immer häufiger geschahen diese Attacken auch in ihrer unmittelbaren Nähe. Dieser Gedanken müde, weinte Liz sich leise in den Schlaf.
Am nächsten Tag schien keine Sonne. Der Garten lag in tiefem Nebel, die Schatten schienen noch düsterer und tiefer als am Abend zuvor zu sein. Trotzdem zündete Liz eine Kerze an und schlich in den Garten. Sie hatte Hunger und auf dem Hof gab es nichts außer das Gemüse, das sie anpflanzen und ernten musste. Sie kniete sich neben das Beet und zupfte einige Möhren aus der Erde, als sie einen Vogel kreischen hörte. Das Mädchen blickte auf und sah die Wurzel nicht, die sich ihren Weg aus der Erde bahnte und langsam auf sie zu kroch. Noch während sie dem davonflatternden Vogel nachsah, spürte sie, wie sich etwas um ihren Fußknöchel wand. Ein Blick genügte, um sie aufschreien zu lassen. Die Wurzel hatte spitze Enden entwickelt, die sich in ihre Haut bohrten. Feine Blutrinnsale liefen ihr Bein hinab. Dort, wo die Wurzel ihre Haut durchbohrt hatte, färbte sich das fade, brüchige Material dunkler. Es schien, als käme die Wurzel zu neuem Leben, als es mit dem Blut des Mädchens in Berührung kam. Schreiend kam Liz auf die Beine. Sie ließ die halb ausgegrabenen Möhren liegen und rannte zurück ins Haus. Zitternd warf sie sich von Innen an die Tür. Der Schock saß tiefer als die Verletzungen, aber nun konnte sie wahrhaftig nicht mehr an reine Träumerei glauben.
☽☾•☽☾
Die Zeit der Abenddämmerung war fast vorüber, es wurde dunkel in den Gassen des kleinen Dorfes. Die Schenke füllte sich langsam. Gläser mit Bier wurden herumgereicht und die Stimmung wurde lockerer. Nahe am Kamin, der um diese Jahreszeit noch nicht seine wohlige Wärme verteilte, saß ein junger Mann, sein Gesicht tief in die Schatten seines Kapuzenumhanges gehüllt, und lauschte den Gesprächen. Er kam nicht von hier, hatte eine lange Reise hinter sich und wurde nur von Gerüchten geleitet. In seiner Heimat war er vor dem Alltag geflohen. Alle hatten ihn ausgelacht, als er verkündete, er wolle in die Welt hinausziehen und sich beweisen. Ein mutiger, junger Mann, der die Jungfrau rettet und als Held heimkehrt. Er war schon überall gewesen, aber nirgends fand er, was er suchte.
»He, willst du was trinken, oder nimmst du meinen Kunden nur die stickige Luft zum Atmen weg, Bursche?« Der Wirt kam auf ihn zu. »Wenn’s denn sein muss, nehm‘ ich ein Bier, bitte.«, sagte der junge Mann, schob dabei seine Kapuze ein Stück zurück und schenkte dem Wirt ein kurzes Lächeln. Dieser verschwand wieder hinter seiner Theke. Als das Bier vor ihm stand, setzte sich unaufgefordert ein älterer Mann ihm gegenüber auf eine Holzbank. »Bist nicht von hier, was? Hättest wissen müssen, das Theo nur zahlende Gäste gerne sieht.« Der Alte nippte an seinem Bier und schaute ihn dabei fragend an. »Ich bin William«, erklärte der junge Mann, »und ich komme tatsächlich von weit her. Ich bin auf der Suche nach Herausforderungen und Abenteuern. Ich hatte gehofft, in diesem Dorf werde ein Held gebraucht. Wenn ja, hier bin ich.« Er sah den alten Mann hoffnungsvoll an. Dieser zog jedoch nur laut die Luft zwischen den Zähnen ein und verkniff sich ein Lachen. »Wir haben genug Männer, die sich um das Wohlergehen unserer Frauen und Kinder, Tiere und Häuser kümmern. Wir brauchen keinen dahergelaufenen Helden.« Enttäuscht senkte William den Kopf und griff nach seinem Glas. »He, Moment mal. Was ist mit der Kleinen auf dem Gutshof? Hat die jemand irgendwann mal wieder gesehen?« schaltete sich der Wirt ein. Der junge Mann blickte auf. »Eine junge Frau? Braucht sie Hilfe?«, fragte er interessiert. »Nun«, sagte der Wirt, »seit ihre Mutter gestorben ist, sieht man das Mädchen kaum noch. Seit Wochen ist sie mir nicht über den Weg gelaufen. Der Hof verfällt zusehends und der Garten wirkt schon von weitem immer verwahrloster und wilder. Und diese Stille, die ihn umgibt. Als würden Vögel diesen Platz meiden. Es könnte zumindest nicht schaden, wenn jemand mal nach der Kleinen sieht.« Einige Gäste hatten dem Gespräch gelauscht, doch bei den letzten Worten blickten sie betreten in ihre Gläser. Alle spürten es. Etwas ging dort vor sich. Keiner wollte dem zu nahe kommen. Auch William spürte die bedrückte Stimmung. »Nicht jemand – Ich werde gehen!«, erklärte er den Umstehenden.
21•12
Das Zimmer, das William in dem Wirtshaus gemietet hatte, beherbergte seine ganze Habe. In dem wenigen Gepäck, das er mit sich führte, befand sich auch ein Dolch mit feingearbeiteten Intarsien auf dem Griff. Sie erinnerten ihn an seine Familie, die er zurückließ, um Abenteuer zu erleben. Er schärfte den Dolch jeden Abend, wodurch er sogar feinste Haare spalten konnte. Dank der Hoffnung, sich endlich als Held beweisen zu können, konnte er kaum schlafen. Voller Ungeduld lag er in seinem Bett und wälzte sich von einer Seite auf die andere.
Was wohl bei dem Mädchen vorgefallen ist? Er stellte sich vor, wie er Räuber, die sie gefangen hielten, überwältigte und sie beide in die Freiheit entkamen. Dann wiederrum dachte er an Drachen. Groß und gefährlich und feuerspuckend. In Märchen musste der Held schließlich auch die Jungfrau vor diesen Ungetümen retten. Als die Sonne aufging, gab William den Versuch zu schlafen schließlich auf und ging hinunter in den Schankraum. Ein paar Dorfbewohner schliefen mit verschränkten Armen auf den Tischen. Nach einem schnellen Frühstück, nahm er sein kleines Bündel und den Dolch mit und machte sich auf den Weg zu dem beschriebenen Anwesen.
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Durch einen Wald und über ein Feld ging es, und nach etlichen Biegungen erblickte William endlich den Hof, der auf die Beschreibung der Dorfbewohner passte. Er war kaum zu verwechseln. Knorrige Bäume versperrten die Sicht auf das Gebäude und Ranken voller Dornen ergossen sich über die verwitterten Zäune, die das Anwesen umgaben.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als er sich bis auf wenige Schritte genähert hatte. Der Wirt hatte Recht. Es war auffallend still hier. Im Wald hatte er eine Vielzahl an Vogellauten vernommen, dazu ein Summen und Brummen, das es eine Freude war, zuzuhören. Hier jedoch war es totenstill. Er suchte sich einen Platz unter einem Baum nicht weit entfernt und setzte sich. Wie werde ich hinein kommen, wenn doch alles überwuchert ist? Kann ich mir den Weg mit meinem Dolch frei hacken? Diese und andere Gedanken beschäftigten ihn, und während er so an dem Stamm lehnte und das Anwesen beobachtete, überkam ihn der fehlende Schlaf der letzten Nacht und er schlief ein.
Als er erwachte, ging die Sonne bereits unter. Eigentlich wollte er seine erste Heldentat bei Tageslicht angehen, andererseits wollte er auch nicht unverrichteter Dinge in das Dorf zurückkehren. Also nahm er sein Bündel und schlich sich an den Zaun heran. In der einsetzenden Dunkelheit übersah er einige dornenbesetzte Schlingen und Wurzeln auf dem Weg. Als er auf eine der Dornen trat, schrie er auf. Sie hatte sich durch die Sohle seines Stiefels gebohrt. Fluchend versuchte er, sich davon zu befreiend. Währenddessen schnellten einige Schlingen nach oben und schlangen sich um seine Brust. Er hörte sich aufkeuchen und versuchte, den Dolch aus dem Bündel zu ziehen. Die Ranken drückten ihn gegen den Zaun und während er noch mit dem verhedderten Dolch kämpfte, wurde er über den Zaun geworfen.
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Das Geräusch ließ sie aufhorchen. Es gab ein kurzes Rumpeln, als hätte jemand einen mit Steinen gefüllten Sack über den Zaun geworfen. Seit der Attacke in ihrem Garten war das Mädchen nicht mehr vor die Tür getreten. Sie hatte sich wimmernd in einen Teil des Gemäuers zurückgezogen und ernährte sich von den kärglichen Überresten der letzten Ernte. Bleich und dünn war sie geworden. Ihr langes, verschlissenes Kleid flatterte um sie herum und ihre hellen Haare waren strähnig und verknotet. Geräusche waren ihr fremd geworden. Außer dem Knacken der Wurzeln, die auf der Suche nach Nahrung den Garten absuchten, hörte man nichts mehr. Die Tiere blieben von dem Anwesen fern. Wenige Male noch hatte sie ein paar Vögel im Garten gesehen, doch das Gezwitscher war bald erstorben. Wahrscheinlich teilten sie sich dasselbe Schicksal mit denen, deren Gefieder sie gefunden hatte.
Wieder hörte sie etwas. War da jemand? Sie schlich zu dem Turmfenster, an dem ihre Mutter immer gesessen hatte, und spähte in den dunklen Garten hinab. Am Ende des Geländes, kaum noch in Sichtweite, sah sie eine ruckartige Bewegung. »Da ist wer!«, schoss es ihr durch den Kopf. Sie erkannte schemenhaft eine menschliche Silhouette, die sich von links nach rechts warf. So schnell sie konnte, sprang sie die Stufen hinab, riss die Tür zum Garten auf und rannte in Richtung des knarrenden Geräusches und dem lauter werdenden Fluchen.
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William hatte mit dem Dolch den wütenden Wurzeln sichtlich zugesetzt, es kamen jedoch immer mehr aus dem Erdreich auf ihn zugeschossen, so dass er sich nicht befreien konnte. Gerade als er einem weiteren Rankenhieb ausweichen wollte, sah er das bleiche Mädchen im Garten stehen. Sie war verstörend schön auf ihre verwahrloste Art. Durch ihren Anblick abgelenkt, traf die Ranke sein Gesicht und er fiel rückwärts in die Büsche. In diesem Moment sprang das Mädchen vor und riss und zerrte an den Pflanzen, die ihm die Luft abschnürten. Sie bekam eine Ranke zu fassen und mit einem Ruck riss das Mädchen sie entzwei. William spürte, wie der Rest der Schlinge an Kraft verlor, griff nach seinem Dolch und zerschnitt damit auch die Überreste seiner Fesseln.
Das Mädchen hingegen packten stachelige Ranken an den Beinen und versuchten, sich in ihre Haut zu graben. William sprang auf und eilte ihr zu Hilfe. Als beide frei waren, nahm sie den jungen Mann an der Hand, deutete auf den Hauseingang und rannte los. Doch kurz bevor sie an der Tür ankamen, fiel diese krachend ins Schloss. Ein Gewirr aus Ästen und Schlingen versperrte den Eingang. Panisch blickte sich Liz um. Es musste doch einen anderen Weg hinein geben! Sie schaute nach oben. »Das Turmfenster!« rief sie dem Fremden zu. Aus dem offenen Fenster schlängelte sich dornenbewehrtes Geäst, jedoch war das die letzte Chance, den wilden Pflanzen zu entkommen.
Der Jüngling stellte sich unter das Fenster und hob sie hoch. Sie griff nach oben und bekam einen der Äste zu fassen. Sofort rissen ihr die Stacheln die Haut an Händen und Armen auf, doch sie ließ nicht los und kletterte hinauf. William erging es ähnlich. Die Äste schnellten auf ihn zu und wollten sich um ihn wickeln. Da sprang er hoch und hangelte sich hinauf. Liz versuchte ihm zu helfen, indem sie die Äste packte und in das Turmzimmer zurückzog. Völlig zerkratzt griff William schließlich nach dem Fenstersims. Liz ließ das Gewirr fallen und half ihm hinein. Dabei fiel ihm der Dolch aus der Hand und den Turm hinab. Zitternd blieb er in der Erde stecken. Gemeinsam warfen die beiden die wuchernden Äste aus dem Turmfenster. Sie zersplitterten in tausend Stücke. Der Garten kam nun auf sie zu. Der Anblick war erschreckend. Die Bäume erhoben sich und warfen ihre Äste und Schlingen dem Turm entgegen, in dem die beiden jungen Menschen Zuflucht gesucht hatten. Sie wuchsen die Wände empor, über Türen und Fenster und versperrten jeden Ausweg. Alles ging sehr schnell. Liz und William hatten keine Chance zu reagieren. Noch während des gewaltigen Wachstums begannen die Pflanzen zu versteinern und ein undurchdringliches Dickicht zu bilden.
Sie waren eingeschlossen, nirgends gab es ein Entkommen. Dunkelheit umgab sie. Erschöpft und blutend lagen die beiden nebeneinander. Liz setzte sich als erste auf und betrachtete den jungen Mann eingehend. Trotz der Wunden hatte er ein angenehmes Äußeres. »Wer bist du?«, fragte sie schließlich. William stellte sich vor. »Ich kam, um dich zu retten. Aber ich habe alles verschlimmert«, sagte er. »Aber jetzt bin ich nicht mehr allein«, erwiderte Liz und lächelte.
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