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Allegro con brio

Beitritt
06.09.2012
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Allegro con brio

Niko Faust ahnt seit seinem achten Lebensjahr, dass es durchaus Gründe geben kann, sich das Leben zu nehmen. Ob er es auch einmal tun würde, da ist er sich bis heute nicht sicher, und darum verwundert es nicht, dass, als die Stimme am Telefon bedauerte, man hätte vor Juli keine Termine mehr frei und ob das denn passte, er erwiderte, “Ja”, und in Wahrheit dachte: Vorausgesetzt, ich lebe noch.
Aber ich greife vor.

Niko Fausts Wohnung besteht aus zwei Zimmern, die immer abgedunkelt sind, und einem kleinen Bad, von dem er nicht weiß, wie man es putzt. Am liebsten würde er auf der alten Couch schlafen, unter Nietzsche, Brecht und Kierkegaard, aber das macht sein Rücken nicht mit. So schläft er im Schlafzimmer, dem Raum, der nie ganz dazugehören will, allein in seinem Bett, wo er seinen Herzschlag immer hören muss. Er ist noch nie einfach so eingeschlafen. Sobald er das Licht löscht, tritt seine Angst ans Bett, manchmal näher, manchmal weiter weg, immer als schwarze Schatten, die auf ihn herunterschauen oder im Augenwinkel durch das dunkle Wohnzimmer huschen, stets schwärzer als die Nacht und gerade laut genug, um sie nicht ignorieren zu können.

Manchmal sind Nikos Gedanken, die immer mindestens melancholisch schmecken, noch lauter als sein Herz; er weint oft und ohne erkennbaren Anlass und tut so, als würde er nicht hören, wie die Anderen Dinge sagen, wie, Er ist halt schwul.
“Ich weine aus dem gleichen Grund, weshalb ich auch oft und laut und lang lachen muss: Die Gefühle der Anderen werden zu meinen, es ist das Meer, in dem ich schwimmen muss, und ich kann nichts dagegen tun, und ich will es auch nicht, denn ich achte auf die Welt, ich sehe die Details, ich spüre die Menschen, jeden einzelnen, und du nicht”, erklärte er einmal einem Menschen, der ihn früher liebte, doch dieser liebte ihn danach nicht mehr. Sollte Niko jemals wieder einen Menschen finden, den auch er lieben kann, wird er sich nicht trauen, offen zu sprechen, aus Angst, dieses Glück wieder zu verlieren. Stattdessen wird er einfach “Überwältigung” sagen, die Augenbrauen hochziehen und schief lächeln, so, wie er es mit jedem Anderen tut.

Wenn man ihn mit großen Augen und ungläubiger Stimme fragt, weshalb er denn dies oder das wisse und woher, dann antwortet er, “Zufall”, und denkt, Transfer, oder, Logik, und daran, dass die Lehrer ihn früher gezielt zuletzt sprechen ließen, um auch den Anderen eine Chance auf die richtige Antwort geben zu können. Heute schweigt Niko die meiste Zeit und spricht nur, wenn er gefragt wird. Stattdessen besitzt er Visitenkarten, auf denen zwar steht, Monologe auf Anfrage, doch statt sie seinem Gegenüber zu überreichen, lässt er diesen Dinge erklären, die er schon weiß. Niko findet, fünfzig Prozent aller Kommunikation sei überflüssig.

Er weiß bis heute weder, wie man lernt, noch was Langeweile ist, war in der Schule erst gut, dann sehr gut gewesen, nur um in der Oberstufe komplett das Interesse zu verlieren. Er war sich damals sicher, die Abiturprüfung nicht zu überleben, Herzinfarkt, so große Angst hatte er davor, schaffte es dann aber doch, irgendwie, und fand sich an der Universität wieder, die er dann zwar quer durch alle Fächer mit beneidenswerten Noten studiert, jedoch in keinem abgeschlossen hatte. Einen Monat, bevor er der Universität und ihren Hörsälen den Rücken kehrte, hielt er ein Referat über unbewusste nonverbale Kommunikation, zwei Stunden lang, Standing Ovations, und war dann noch ein paar Wochen ein Star am Institut. Davon, dass er systematisch Testprotokolle mit jedem, den er neu kennenlernt, durchführen muss, weil er sonst nicht weiß, ob er sympathisch ist oder nicht, erzählte er in diesen zwei Stunden nicht.
Niko fürchtet sich nicht bloß vor Menschen im Allgemeinen, sondern besonders vor vollen Hörsälen im Speziellen, das Geräusch atmender Menschen und der Anblick sich permanent bewegender Kiefer bereiten ihm Schmerzen, und es hat niemanden gegeben, der ihn dazu angehalten hätte, dieses Stück Papier, auf dem stehen würde, dass er das alles tatsächlich weiß, haben zu wollen, und so kommt es, dass er viele und doch keine einzige Ausbildung hat.

„Das Kind ist so schrecklich sensibel”, hörte er seine Mutter früher zu Unbekannten sagen, während er im Supermarkt ihren kleinen Finger mit beiden Händen fest umklammert hielt, „ich weiß langsam nicht mehr, was ich machen soll.” Vielleicht waren es auch keine Unbekannten, das wusste er damals nie so genau, und als er älter und noch immer alleine war, kaufte die Mutter ihm einen Fernsehapparat.
„Schau ein bisschen fern, bei dir ist es immer so leise”, sagte sie dann oft, „es kann doch nicht gut sein, wenn es immer so leise ist”, und alles, woran er dann denken konnte, war, dass die Mutter das Tagebuch, das er früher immer so platziert hatte, dass man es sehen musste, nie gelesen hatte, obwohl Nur für mich und meine Familie in großen Buchstaben darauf stand. Er besitzt also einen Fernseher, doch er sieht nicht fern. Wenn man ihn fragt, weshalb, dann sagt er, er ertrage die Werbung nicht und sieht dabei an einem vorbei, wie eine Katze, die etwas, das gar nicht da sein dürfte, und von dem man eigentlich auch genau weiß, dass es nicht da ist, fixiert. Dieser Blick, der zum Umdrehen zwingt, das ist der seine. Folgt man ihm, dann merkt man, dass er über die Bücherregale gleitet, und manchmal kommt sein Blick auf diesem oder jenem Buch zur Ruhe. Dann erinnert er sich an etwas und lacht leise, so wie man mit dem Menschen lacht, den man liebt, und wenn er sich wohlfühlt, sagt er Dinge, wie: Nietzsche war der traurigste Mensch der Welt, oder, DaVinci hatte schon ab und zu Probleme mit der Perspektive, oder, Man darf das Dur nur andeuten, um dann doch ins Moll zu fallen, und dann werden die Knöchel seiner immer etwas kohleverschmierten Hände weiß.

„Öffne deine Hände”, sagte seine Mutter früher oft zu ihm, „dann reden die Kinder auch mit dir.” Aber seine Mutter ist nicht da, wenn er jetzt Besuch hat, und die wenigen Menschen, die ihn besuchen, bemerken die Farbe fremder Knöchel nicht. Also schaut er sie bloß an, diese Menschen, oder an ihnen vorbei, und in diesem Blick passiert etwas; das, was sie mitgebracht haben, verlässt den Raum, etwas, das keinen Platz hat zwischen den Stapeln aus Papier und Büchern, den Kohlezeichnungen an der Wand, den Partituren auf dem Boden. Dann merken sie, dass sie nicht wirklich etwas zu sagen haben, und dann fällt ihnen eine Zeit lang auch nichts ein. Wenn sie dann gehen, Stunden später, wissen sie nicht so recht, wohin mit sich selbst, alles scheint lauter als zuvor. Der eine sagt dann Dinge wie, „So ist er eben”, zu sich selbst und fühlt nicht weiter nach; der andere lächelt bloß, während er an die beiden Weingläser in seinem Regal denkt, und wundert sich; ein dritter versucht am Abend, das traurige Gefühl zu beschreiben, einen Messerschleifer beim Schleifen einer Klinge, die vielleicht für immer unbenutzt bleiben würde, zu beobachten, und findet keine Worte dafür.

„Erzählen Sie mir ein bisschen von Ihrer Kindheit”, fragte die Psychologin, damals, beim ersten Mal, und Niko dachte dann an den Schulhof und die Kinder und wie er nicht wusste, was er tun musste, damit sie ihn bemerkten, und daran, wie er zum ersten Mal dachte, Ich bin eine Million Jahre alt.
“Ratlos. Einsam.”
“Hatten Sie Freunde?”, fragte die Frau im Lehnsessel, und er dachte, Freunde, Plural, schüttelte den Kopf und dachte daran, wie es war, als Sechsjähriger mit einer geladenen Waffe, deren Munition aus Worten besteht, herumzufuchteln. Er hatte damals nicht gewusst, was der Abzug war, noch was passieren würde, wenn er ihn drückte. Stattdessen hatte er ihn einfach gedrückt. Nikos Kindheit und Jugend ist ein einziger Kommunikationskollateralschaden; er hat Jahrzehnte gebraucht, um zum Scharfschützen zu werden.
“Wie sind sie damit umgegangen?” Die Frau legte ihren Stift so auf das Klemmbrett, dass er nicht herunterrollen konnte.
Was für eine dämliche Frage, dachte er.
„Ich habe begonnen, zu beobachten“, antwortete er.
“Wie meinen Sie das?”, fragte die Frau, die Psychologie studiert hatte, und Niko war wieder sechs oder zehn oder dreizehn oder sechzehn oder neunzehn oder fünfundzwanzig Jahre alt, und

Reaktion 1 = Ablehnung
Reaktion 2 = Akzeptanz
Wenn Reaktion 2 die gewünschte ist, und wenn Verhaltensmuster A zu Reaktion 1 führt, Verhaltensmuster B zu Reaktion 2, dann ist Verhaltensmuster B zu präferieren.
Verhaltensmuster erscheinen simpel, sind jedoch hochkomplex und oft nur schwer im Chaos verbaler und nonverbaler Kommunikation zu erkennen.
Definiere Verhaltensmuster A.
Definiere Verhaltensmuster B.
Worin unterscheiden sich Verhaltensmuster A und B?
Erkenne, was Verhaltensmuster B genau ausmacht.
Trainiere Verhaltensmuster B.
Teste Verhaltensmuster B.
Test 1.
Test 2.
Test 3.
Führt es zur gewünschten Reaktion 2?
Bessere dich.
Modifiziere Verhaltensmuster B.
Beschreibe Verhaltensmuster B-1.
Teste Verhaltensmuster B-1.
Teste.
Scheitere.
Modifiziere.
Wiederhole.
Bessere dich.
Bessere dich jahrzehntelang.
Erstelle ein dreidimensionales, interaktives Gitternetz mit allen erstellten und auf Funktionalität getesteten Verhaltensmustern.
Transfer.
Kopple mit eigener Körperwahrnehmung.
Prüfe globale Funktionalität des Gitternetzes.
Weite auf den erfahrbaren Raum aus.
Modifiziere.
Feedback.
Teste.
Feedback.
Modifiziere.
Feedback.
Bessere dich.
Algorithmus 1 vs. Algorithmus 2 vs. Algorithmus x.
Werde unauffällig,

und das alles dachte Niko, der in Wahrheit fast vierzig war, weil es niemals anders funktioniert hatte, schon sein ganzes Leben — doch statt es laut auszusprechen, betrachtete er diesen erwartungsvoll blinzelnden Menschen, der ihm gegenüber saß und der das Frausein genauso wie die Psychologie studiert hatte, das eine unbewusst, das andere bewusst, und erwiderte,
“Eleganz im Chaos finden. Verhältnisse erkennen, spiegeln, vervollständigen”, und dachte daran, dass man ihn oft bewundernd anschaute und sagte, er wüsste wie durch Zauberhand, was dieser oder jener bräuchte, ein Spezialist für Empathie, das wäre eine Gabe — dabei tat er nichts anderes als postulieren, berechnen, verwerfen, in Echtzeit, pausenlos; Körperkontakt, Blickkontakt, Pausenlänge; wo sind die Hände, einzeln oder Gruppe, Mann oder Frau.
Mimik, Gestik, Intonation.
Test, Modifikation, Exekution.
Wieder und wieder und wieder.
Seit er denken konnte.
Niko war oft sehr müde.

Die Psychologin zog die Augenbrauen hoch, fragte jedoch nicht weiter nach und notierte stattdessen wieder etwas. So, wie sie es fast die ganze Zeit getan hatte.
„Hobbys“, fragte sie dann auf eine Weise, in der man fragt, wenn man froh ist, dass einem doch noch was eingefallen ist, „haben Sie irgendwelche Hobbys? Oder gibt es etwas, dass Ihnen hilft, abzuschalten?“
Niko dachte an Worte und Zeichnungen und Musik. An die Frau, die kurze Zeit seine Cellolehrerin gewesen war. Dann an den Pianisten, den er letztens gesehen hatte, an die aufgeregte Nachricht, die er direkt danach seinem Freund geschickt hatte: Wenn ich ihn dabei sehe, dann spüre ich Glück und Verderben und Liebe und Gewalt, kurz gesagt: Schönheit, in allen ihren Facetten, in ihrer Nacktheit, in ihrer Vergänglichkeit und in ihrer Ewigkeit, ich zerbreche und werde neu geschaffen, gleichzeitig, und das meine ich nicht pathetisch, sondern so, wie jemand, der sich immer fragt, was das alles soll, wo der Sinn von allem ist, ob es überhaupt einen Sinn gibt; wie jemand, der nie wusste, wie er erklären sollte, was Nietzsche meinte, als er schrieb, „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum”, und der jetzt weiß, wie er es tun muss, nämlich indem er auf diesen Mann zeigt und nichts weiter zu sagen braucht.
Sein Freund hatte nicht darauf geantwortet, doch das war nicht wichtig. Niko konnte ihm solche Dinge schreiben, ohne dass er ihn auslachte. Darum ging es. Mehr verlangte Niko nicht.
„Kunst, Musik“, antwortete er.
„Inwiefern?“, hörte die Frau nicht auf zu fragen, „Malen Sie?“, und Niko sagte, “Die Kunst ist wie der Mond meines Lebens und mein Herz ihr Magnet”, doch dann war da nichts weiter in ihrem Blick, sie schrieb nichts auf, und dann war die Sitzung auch schon vorbei.

Nun ist es tatsächlich Juli geworden, und Niko lebt noch immer. Der, wie er findet, wichtigste Satz, den er heute mehreren wildfremden Personen gesagt hat, lautete: Ich kann nicht mehr, und der Stuhl, auf dem er sitzt, knarzt. Wie die unzähligen anderen, auf denen er heute schon gesessen hat. Das Büro ist so klein und ruhig, dass er an sein Schlafzimmer denken muss, dann an seine Couch und dann daran, dass er keine Uhr trägt. Der Schlaf holt ihn immer um vier Uhr nachmittags ein, spätestens. Er weiß, dass es später ist, auch ohne Uhr, und will die Augen schließen, als sich die Tür öffnet und die Ruhe den Raum im gleichen Moment verlässt, in dem die Oberärztin ihn betritt.
„Ah”, sagt diese Frau, auf deren Auftritt Niko schon den ganzen Tag gewartet hat und deren Namensschild Dr. A. Helmbrodt, Oberarzt, verkündet, „da sind Sie ja.”
„Schon seit einer halben Stunde”, entgegnet Niko, was Dr. Helmbrodt ignoriert und stattdessen die Schubladen ihres Schreibtisches betont systematisch nach etwas durchsucht, das sie dann doch nicht finden will. Niko schaut ihr dabei zu, blinzelt kaum. Er hat jetzt acht Stunden durchgehalten; nur noch ein wenig länger, denkt er, und er würde im Auto einschlafen können.
„Und, was denken Sie? Sie sind bestimmt gespannt auf das Ergebnis.” Dr. Helmbrodt setzt eine Brille mit roter Fassung und zu schmalen Gläsern auf, und Niko findet, sie grinse wie ein Lehrer, der seinem unbeliebtesten Schüler nun verkünden könne, er sei durch die Prüfung gefallen.

Niko mag rote Brillen nicht. Einmal sagte er, es sei eine ganz bestimmte Art Frauen, die diese Farbe wählten, Frauen, die nur Dinge sagen, die ihnen gut stehen, darauf könne man sich verlassen.
Er sagt also nichts und schaut stattdessen auf die Bücherwand, die hinter der Ärztin thront. Sein Blick ruht auf einem Buchrücken. Dr. Helmbrodt dreht sich um, greift genau dieses, legt es vor sich ab und lehnt sich nach vorne, die Arme so auf dem Buch verschränkt, dass sie sich fast selbst umarmt. Niko kann sehen, dass das Buch nicht häufig aufgeschlagen wurde. Ihre Blicke treffen sich über den Brillengläsern, und als Niko immer noch nichts sagt, schaltet die Ärztin wieder ihr Lächeln ein, während sie langsam mehrere giftgrüne Klemmbretter vor sich ausbreitet.

„Ich muss sagen, wir waren zu Beginn unsicher”, sagt Dr. Helmbrodt, während sie das erste Klemmbrett greift, „und alles, was ich Ihnen heute mitteile, gilt unter Vorbehalt. Wir werden die Abschlussdiagnose erst in etwa vier Wochen stellen können, wenn das ganze Videomaterial ausgewertet ist, also nicht zu früh freuen.” Ihr Mund lächelt, ihre Augen jedoch nicht.
Niko schaut auf seine Knöchel, von denen er weiß, dass sie dieser Frau nicht auffallen werden, egal, was passiert, und denkt an den Mann und die Kamera, die beide den ganzen Tag anwesend waren. Daran, dass der Mann ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen, nie ein Wort gesagt hat. Daran, wie man ihm versicherte, es sei aufregend, einen Erwachsenen hier zu haben, dass das so selten sei.
„Hochintelligenz, Respekt, durchschnittliche Problemlösungsfähigkeit, typisch, wahrscheinlich Aufmerksamkeitsdefizit, typisch, Exekutive Dysfunktion, jaja”, blättert die Ärztin die Blätter des ersten Klemmbrettes durch. Nikos Knöchel werden weiß. Dr. Helmbrodt stockt und blickt von Klemmbrett Nr.2 auf..
„Woher kennen Sie denn das Wort ‚Indigenat’?”
Weil ich intelligenter bin als du, denkt er.
„Ich habe unter anderem Ethnologie studiert”, sagt er, fügt, ohne Abschluss, in Gedanken hinzu und schaut nicht auf.
„Interessant. Daher kennen Sie das?” Ihre Blicke treffen sich, Niko sagt jedoch nichts weiter, und die Ärztin nimmt das dritte Klemmbrett. „Ein ganzes Zusatzblatt Zahlenreihen, fehlerfrei, auch rückwärts. Selten, sehr schön. Aber irgendwoher muss der IQ ja auch kommen, nicht wahr”, zwinkert sie, und Niko denkt an die Rückfahrt und daran, dass er während des Autofahrens ja nie schlafen kann.
„Also”, reißt Dr. Helmbrodt ihn aus seinen Gedanken, „nach allem, was ich hier sehe und nach den Gesprächen, die ich mit den Diagnostikern hatte, kann ich Ihnen schon jetzt fast sicher sagen, dass Sie Asperger-Autist sind”, strahlt sie, „und kombiniert mit den anderen Tests, die wir gerade durchgegangen sind, kann man durchaus sagen, dass Sie in einer Reihe mit DaVinci, Darwin, Beethoven, Einstein stehen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Faust, Sie haben den Jackpot gewonnen!”

Dr. Helmbrodt schüttelt Niko, dem vierzigjährigen Arbeitslosen, dem Gewinner des Preises, von dem ihm niemand sagen würde, wie er ihn einlösen könnte, die Hand und lächelt ihr Lächeln. Dass sie im Herausgehen noch die Feststellung des Behindertengrades empfiehlt, bekommt der ruhige Raum nicht mehr mit, und als sie ihn einen Monat später anruft, um ihm feierlich und in Zusammenschau der Befunde den offiziellen Titel zu verleihen, da stolpert sein Herz wieder, sein organgewordenes memento mori, von dem die Ärzte immer sagen, sie könnten nichts finden, und er erwähnt nicht, dass er von der Studie weiß, die besagt, dass Menschen wie er im Durchschnitt 54 Jahre alt werden. Stattdessen bedankt er sich, weil man das so macht und legt auf.

Das ist so eine Sache mit Handys: Jede Nachricht kann jeden zu jeder Zeit erreichen. Da kommt es durchaus vor, dass man, wie Niko, gerade im Supermarkt vor dem Regal mit dem Schafskäse steht und sich überlegt, was man dem Freund abends kocht, wenn der Arzt anruft und sagt, Übrigens, du hast wahrscheinlich nicht mehr allzu lange zu leben, zwischen den Zeilen. Deshalb schaut Niko jetzt auch nicht wirklich auf den Schafskäse, sondern mehr durch ihn hindurch; in Wahrheit denkt er an dieses Gemälde, das er so mag, Der Mönch am Meer, und fragt sich, wie es sich wohl anfühlt, Horizont zu sein.

Irgendwann dann geht zur Kasse, sagt, “Aufrunden, bitte”, hilft einer alten Frau, ihr Gemüse in die Tasche ihres Rollators zu packen, und als er zu Hause ankommt, räumt er die Einkäufe weg, holt den alten Abschiedsbrief heraus, postiert ihn wieder so, dass man ihn direkt sehen muss, wenn man seine Wohnung betritt, legt Kohle und Papier bereit, zögert, entrollt die Mappe mit den Pastellstiften, von denen er bis heute nicht gewusst hat, weshalb er sie überhaupt besitzt, startet Beethovens drittes Pianokonzert, c-Moll, erster Satz, Allegro con brio, und als das Klavier anhebt zum Gefecht gegen das Orchester, zieht auch Niko Faust, der noch ein paar Jahre haben wird, Niko Faust, der Gewinner, lächelnd sein Schwert, öffnet die Augen und ist bereit.

 

Hallo, ihr Lieben,

ich war lange nicht mehr hier. Geschrieben hab ich zwar trotzdem, nur eben ohne kritische Rückmeldungen, was nur schwer erträglich ist.
Ich freue mich jetzt schon auf eure Kritiken.

Liebe Grüße,
PSS

 

Monologe auf Anfrage
,steht auf der Visitenkarte des Herrn Faust.

Hallo PSS,

schön, mal wieder was von Dir zu lesen und dann gleich tatsächlich "allegro con brio" durchs Leben des

Niko Faust
dessen Hausname Programm ist.
Manchmal sind Nikos Gedanken, die immer mindestens melancholisch schmecken, noch lauter als sein Herz; er weint oft und ohne erkennbaren Anlass und tut so, als würde er nicht hören, wie die Anderen Dinge sagen, ...
Da geht‘s im Sauseschritt durch das Leben eines Autisten vom Kind ,
das Langeweile nicht kennt und immer ans Sterben denkt,

Und nicht nur
. Nikos Kindheit und Jugend ist ein einziger Kommunikationskollateralschaden;
wobei an einer Stelle, hier
bevor er der Universität ihren Hörsälen den Rücken kehrte, ..
verquer formuliert wird, was an sich nix ausmacht, aber doch einen kleinen Vorschlag erzeugt „… bevor er den Hörsälen der Universität den Rücken kehrte“

Niko

besitzt also einen Fernseher, doch er sieht nicht fern.
dass die Frage aufgeworfen wird, wie weit die Fernsicht ist vorm Fernseher, die Niko für sich beantwortet.

Ein, zwei,drei'n,
Korrekturen müssen sein,

wie hier, wenn halt dort zuvor die Höflichkeitsform gewählt wird

„Erzählen Sie mir ein bisschen von hrer Kindheit”, fragte die Psychologin,
oder hier
, dass er nicht herunter rollen konnte.
Besser ein Wort „herunterrollen“

Hier stellt sich die Frage, warum nicht ab „sie grinst“ Konjunktiv?

Dr. Helmbrodt setzt eine Brille mit roter Fassung und zu schmalen Gläsern auf, und Niko findet, sie grinst wie ein Lehrer, der seinem unbeliebtesten Schüler nun verkünden kann, er sei durch die Prüfung gefallen.

Ich liebe es, wenn Drs. den Medizinerinnenplural verwenden
„Ich muss sagen, wir waren zu Beginn unsicher”, sagt Dr. Helmbrodt, während sie das erste Klemmbrett greift, „und alles, was ich Ihnen heute mitteile, gilt unter Vorbehalt. Wir werden die Abschlussdiagnose erst in etwa vier Wochen stellen können, wenn das ganze Videomaterial ausgewertet ist, also nicht zu früh freuen.”

Aspergerautist
Asperger-Autist

Ich stell mir gerade vor, wenn dieses Leben ohne Punkt und Komma wie Mrs. Molly Bloom‘s Gedankenstrom am Ende des Ulysses verliefe, zudem im Konjunktiv. Ich würd ihn Dir in Lautschrift (näherungsweise) übersetzen.

Gern gelesen, denn Anarchie muss sein, Gruß aus BRD

Friedel

 

Hallo PSS,

ich finde das eine sehr detaillreiche Geschichte, du zeichnest deinen Autisten sehr scharf, lässt mitten in seine Gedanken einblicken. Das wirkt alles sehr authentisch und echt, ich kaufe dir das zu 100% ab. Ich finde den Text auch sprachlich stark, ich bin nirgends drübergestolpert oder habe Längen empfunden.

Also der Text ist stark und auf einem hohen Niveau geschrieben, allerdings habe ich trotzdem das Gefühl, dass da irgendetwas fehlt. Bis jetzt ist das für mich reine Charakterisierung, die Story ist fast wie eine Dokumentation oder eine große Figurenanalyse. Zum Schluss bringt er sich dann um, das braucht der Text, um einen Bogen zu haben, um eine Entwicklung zu zeigen - mhm. Also ich finde, die Charakterisierung, die hast du echt haarscharf und sehr stark hinbekommen, aber jetzt hätte ich mir gewünscht, dass irgendetwas passiert, dass du mit dieser Ausgangssituation etwas Originelles, Außergewöhnliches schaffst. Auch wenn das bloß eine Erkenntnis ist, die eine Figur hat, eine Entwicklung - ich mag Geschichten mit Selbstmord-Ende nicht, das kann schon mal gut sein und klappen, aber oft wirkt das "einfallslos" auf mich, so, als ob der Autor sich denken würde: Boah krass! Der bringt sich dann um!!, aber so stark empfinde ich es nicht. Selbstmord wirkt als Ende stark, wenn man zuvor die Ausweglosigkeit, die Schmerzen, das Leid in einer Figur gespürt hat, wenn man die Figur wirklich liebt und denkt: Nein! Mach es nicht! Wenn davor wirklich eine Entwicklung stattgefunden hat, wenn etwas passiert ist, und dann der Selbstmord kommt, und einem das Herz zerreißt. Ich will nicht sagen, dass das Ende hier super schlecht wäre oder sonst etwas. Es ist okay. Ich kenne dich bloß noch von früher, und dachte mir eben nach dem Lesen: Das wäre so die nächste Stufe. Weitergehen, diese detaillreiche und scharfe Charaktersierung als Ausgangslage nehmen, etwas (unvorhergesehenes) passieren lassen, dem Leser in irgendeiner Art noch mal neben dem Beschreiben des Aspergersyndroms etwas Neues zeigen.

Hört sich nach einem negativen Feedback an, aber ich finde den Text gut. Nicht herausragend, weil ich mir eben gewünscht hätte, du wärst in irgendeiner Art weiter gegangen, aber gut geschrieben ist er, viele gute Details, eine starke Charakteranalyse.


Viele Grüße
zigga

 

Hallo PSS,

ich mag deine Geschichte sehr gerne, gerade die Beschreibung der Gedanken deines Protagonisten sind dir sehr gelungen. Meine einzige Kritik ist, dass ich die Ärztin für unglaubwürdig halte, mag vielleicht an meinem positiven Menschenbild liegen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass derart unsensibel bei der Diagnose vorgegangen wird - vor allem, weil es nicht nur unsensibel, sondern Schadenfroh von ihr wirkt.
Mir ist zudem nicht ganz klar, wozu er die Diagnose benötigt, er nimmt sie nur zum Anlass zu sterben, was seltsam ist, weil er das auch ohne Diagnose hätte tun können bzw. sogar in Betracht zog, insofern bringt sie die Geschichte nicht voran.
Aber das sind nur zwei kleine Kritikpunkte, in einer sonst gelungen Geschichte.

Liebe Grüße,
Mitra

 
Zuletzt bearbeitet:

„Im Grunde genommen ist es die Liebesgeschichte
eines Intellektuellen mit einer Kleinbürgerin.
Das muss ja mit dem Teufel zugegangen sein.“*​

„Ich habe begonnen, zu beobachten“, antwortete er.

Ich noch mal,

PPS,

und geh mal von aus, dass die Namenswahl

Niko Faust
nicht von ungefähr kommt, wenn „Niko“ als Vorname dem sagenumwobenen Namen des (Johann) Georg Faust – einer schillernden Person zu Anfang der Neuzeit zwischen Weisem, Alchimisten und Angeber, der beim Versuch, Gold zu machen nicht das Porzellan, sondern den Tod fand: Er flog quasi in die Luft, was dem abergläubischen Volk als Teufelswerk gelten musste. Marlowe und Goethe haben die wohl bekanntesten literarischen Bearbeitungen des Lebens und der Sagen des Dr. Faust, vllt. eines (F)Autisten, geschaffen, und, nicht umsonst nähert sich Goethe dem Buch Hiob von der Wette mit dem Teufel an.

Der Vorname steht diesem Faust keineswegs entgegen, wenn man nicht nur an die sinnstiftende Figur des (kinder)freundlichen Bischofs denkt, der keineswegs der Weihnachtsmann war, der ja eher eine Erfindung Amerikas ist in Sachen Limonadewerbung und der televisionären Welt zwischen Cola und Hollywood. Niko ist der Sieg (Nike die Siegesgöttin). Laos das Volk, was nur noch wenig mit dem Bischof und umso mehr mit den Volgen folksverdummenden Marketings zu tun hat.

Niko also

ahnt seit seinem achten Lebensjahr, dass es durchaus Gründe geben kann, sich das Leben zu nehmen

Niko weiß also von Anfang an, seitdem er sich Erinnern kann, dass er sterblich ist und es auch selbst in der Hand hat, zu leben oder zu sterben (wobei leben wie sterben ja eins ist und erst in den Partizipien Begrenzung findet, ich leb/sterb - was am Endpunkt, wenn Himmel und Erd sich Küssen, nicht mehr in der ersten Person erzählt werden kann, er hat gelebt und ist gestorben).

... darum verwundert es nicht, dass, als die Stimme am Telefon bedauerte, man hätte vor Juli keine Termine mehr frei und ob das denn passte, er erwiderte, “Ja”, und in Wahrheit dachte: Vorausgesetzt, ich lebe noch
wa in seinem ersten Teil so wenig ungewöhnlivh heutzutage ist, wenn der Privatpatient vor dem Kassenpatienten kömmt und das unter der Prämisse der Gleichbehadlung. “All animals are equal ...“ heißt es ja nicht erst auf der Animalfarm.

Niko Fausts Wohnung besteht aus zwei Zimmern, die immer abgedunkelt sind,
Faust scheut das Licht und wohnt beengt. Der Komperativ von enge klingt nicht ohne Grund wie der Plural der Angst und unter Ängsten wird‘s am engsten im Finstern. Und es wird nicht lichter, wenn einer gründlich weint und sich alles zu Herzen nimmt, was die Welt bewegt. Da muss man ja wenn schon nicht überfordert, überlastet sein, weshalb er die Liebe meidet - nach einem missglückten Versuch -und schweigt (schüchtern wird, vielleicht die Ursache des Scheiterns, könnt man sagen, aber eingeschüchtert wäre genauer). Denn Niko weiß aus eigener Erfahrung

„Das Glück ist eine leichte Dirne
Und weilt nicht gern am selben Ort;
Sie streicht das Haar dir von der Stirne,
Und küßt dich rasch und flattert fort.

Frau Unglück hat im Gegenteile
Dich liebefest ans Herz gedrückt;
Sie sagt, sie habe keine Eile,
Setzt sich zu dir ans Bett und strickt.“**​


, und so kommt es, dass er gleichzeitig viel Bildung und doch keine einzige Ausbildung hat.

„Öffne deine Hände”, sagte seine Mutter …
und die Seelenklempnerei will, dass er sich öffne und er schematisiert – mehr oder weniger teilnehmender Beobachter. Und was ist, wenn einer weiß, wie lang er noch zu leben hätte? Mancher würde sein Vermögen auf den Kopf hauen und noch mal die Welt bereisen oder den Traum seines Lebens wenigstens näherungsweise erfüllen, egal was es koste. Das Leben auf jeden Fall.

Nicht so einer ist dieser moderne Faust, den keiner einzuordnen vermag, der darum in ein Schema gepresst werden muss! Er stünde da eher an der Grenzlinie, wo Erd und Himmel sich scheinbar küssen und berühren und die dunkle Seite – die Hölle – verbergen. Aber vllt. steht Niko ja auf dieser dunklen Seite ...

“Here I stand head in hand / Turn my face to the wall
If she's gone I can't go on / Feelin' two-foot small

Everywhere people stare / Each and every day
I can see them laugh at me/ And I hear them say

Hey you've got to hide your love away
Hey you've got to hide your love away

How can I even try / I can never win
Hearing them, seeing them / In the state I'm in

How could she say to me / Love will find a way
Gather round all you clowns / Let me hear you say

Hey you've got to hide your love away
Hey you've got to hide your love away.“***​


Gruß

Friedel

* Brecht
** Heine
*** Lennon

 

Hallo Friedrichard,

ich danke dir für deine Korrekturen, die werde ich ausbessern. Sind mir doch glatt durchgeflutscht. Und zu Faust: Keine Sekunde habe ich an den berühmten Namensvetter gedacht, sondern einfach einen kurzen, prägnanten Nachnamen gesucht. :)

Danke für deine Zeit!
PSS

 

Hallo zigga,

vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar und das Lob.
Ich selbst mag Selbstmordgeschichten auch nicht, deswegen ist das auch keine. Niko bringt sich nicht um. Diese Geschichte birgt ein interessantes Phänomen, wie ich feststellen durfte. Die Leserschaft teilt sich in die, die einen Selbstmord herauslesen und die, die ein "Jetzt erst recht" herauslesen.
Erst wollte ich einige Stellen umschreiben, dieses Lebenwollen ganz klar herausstellen, so dass kein Zweifel bleibt, aber inzwischen bin ich davon abgekommen.

Du hast recht, wenn man die Geschichte so liest, dass er sich umbringt, dann fehlt da definitiv der Umschwung. Nun haben mir die, die jedoch das Lebenwollen am Ende herausgelesen haben, gesagt, dass genau dieses Ende unerwartet kam: Niko kippt, aber nicht in die erwartete Richtung. In dieser Lesart ist der Umschwung enthalten, und jetzt stecke ich volle Kanne in der Zwickmühle, weil ich einerseits ja will, dass man dieses unerwartete Ende wahrnimmt, ich andererseits aber dieses Phänomen der unterschiedlichen Lesart so interessant finde.

Was soll ich bloß tun?

Uaaaah.

Verzweifelte Grüße,
PSS

 

Hallo Mitra,

ich danke dir für deinen Kommentar.
Deine Kritikpunkte sind in Wirklichkeit keine kleinen, sondern ziemlich große, weil sie ja ein sehr deutliches Fragezeichen hinter der ganzen Sache lassen.

Zum Diagnosegespräch: persönlich so erlebt und sogar sehr stark gekürzt, weil ich dachte: Wenn du DAS schreibst, glaubt dir das wirklich niemand mehr.

Zu deiner Frage, weshalb er diese Diagnose brauchte, wenn er sich doch sowieso umbringen wollte: Er bringt sich gar nicht um. Ich habe das zigga oben schon etwas erklärt. Man kann einen Selbstmord herauslesen, ja. Wenn man das tut, fehlt die Kehrtwende in der Geschichte, und sie wird öde, weil so vorhersehbar. Finde ich ganz schrecklich. Möchte ich eigentlich verhindern. So mancher hat aber genau das beabsichtigte Gegenteil herausgelesen, und das finde ich (noch zu) spannend, also diese verschiedenen Möglichkeiten, die Geschichte zu verstehen.

Ich bin mir gerade sehr unsicher, inwiefern eine absolut unzweideutige Lesart zwingend erforderlich ist, und ob ich mir mit solchen Experimenten nicht Leser vergraule.

Ohjemine.

PSS

 

Ich bin mir gerade sehr unsicher, inwiefern eine absolut unzweideutige Lesart zwingend erforderlich ist, und ob ich mir mit solchen Experimenten nicht Leser vergraule.

Ohjemine.


Meine Meinung kennstu vielleicht noch, dass wir weder Mathe betreiben (da müssten wir hierorts wahrscheinlich gleich die "Höhere" ausschließen) und keine Polizeiberichte (die haben so weit es geht quthentisch zu sein) oder Gerichtsprotokolle. Und vor allem: Je mehr man herauslesen kann, um so besser.

Was soll ich bloß tun?

Uaaaah.


Nix,

PSS,

aber das abschließende Jammern einstellen,

meint der Friedel,

der Text ist gut. Wenn drei Ärzte sichtreffen, treffen mindestens fünf Meinungen aufeinander, wenn nicht mehr. Da ist die Empörung auf die Nachricht, dass der Patient von Zimmer 123 gerade gestorben sei, der drei verständlich: "Der musset auch immer übertreiben!"

Halt die Ohren steif!

 

Hallo PSS,

danke für deine Erläuterungen. Zunächst bin ich geschockt, dass die Begegnung mit der Ärztin auf Erfahrungen beruht. Das tut mir sehr Leid.
Zum Frage des Endes, ich habe zwar einen Selbstmord herausgelesen und die Möglichkeit, dass er sich zum Leben entscheidet gar nicht in Betracht gezogen, allerdings stimme Friedrichard zu, es ist doch gut, wenn es mehr als eine Lesart gibt. Tatsächlich macht dies die Geschichte für mich interessanter. :)

Liebe Grüße,
Mitra

 

Auf die Gefahr hin, lästig zu werden,

PSS,

das "Jammern" im vorigen Bitrag trifft's selbstverständlich nicht. Denn woraus ist der Ausruf "(oh)jemine" entstanden? Aus der Anrufung des Herrn und entstellt das "Jesu domine (= o Herr Jesus)!"

Auch haben Text (wie Kommentare) comic-Elemente wie den Tarzanschrei ['u:'a:] gar nicht nötig und ragen aus dem täglichen Einerlei des mainstream' hervor.

Und nach der Lobhudelei wieder zu einer Flüchtigkeit, die ich in den ersten zwo Durchgängen übersehen hab (bin halt kurzsichtig und nicht altersweise), Flüchtigkeit, weil Du's an sich weißt

Er weiß bis heute weder[,] wie man lernt, noch was Langeweile ist, ...
Du weißt, wg. vergl. Konjunktion und vollständigem Satz ...

Gruß

Friedel

 

Du wirst nicht lästig,

Friedel,

im Gegenteil.
Deine Korrekturen habe ich nun alle umgesetzt. Ich werde nie verstehen, warum man so blind wird und einfachste Dinge beim Lesen übersieht, die dann Andere korrigieren müssen.

Ich danke dir für deine wiederholte Zeit.

PSS

 

Hallo Purersternenstaub,

obwohl ich - nach mehrjähriger und eher unfreiwilliger Abstinenz von diesem Forum - unsicher bin, ob ich dir einen zutreffenden Kommentar schreiben kann, versuche ich, dir doch eine kleine Rückmeldung zu geben.

Dein Text zu Niko Faust, der so oft die Fäuste ballt, bis die Knöchel weiß werden, der jahrzehntelang versucht, sich in das Leben einzufügen, hat mich gepackt.

Ich habe die Geschichte sehr gerne gelesen, und das liegt nicht nur daran, dass mich das Thema Asperger/Autismus schon während meiner Berufszeit interessiert hat.

Da ist so viel an perfektem Menschen-Scanning drin, z.B. die Demaskierung der Ärztin.

Deine Geschichte birgt einen Konflikt im Konflikt, da der Asperger-Autist ohnehin im Konflikt mit seiner Um-Welt steht und offensichtlich nach einer Lösung seiner Schwierigkeiten sucht, sonst hätte er diesen Untersuchungsmarathon nicht auf sich genommen; er will endlich wissen, was mit ihm los ist. Aber statt Abhilfe zu schaffen, Hilfen anzubieten, scheint das Institut nur an dem „seltenen Fall“ interessiert zu sein. Nun hat das Kind zwar einen Namen, aber er bekommt mit der Diagnose quasi auch die beängstigende Aussicht auf eine recht kurze Rest-Lebenserwartung.

Warum nicht auch mal vorwiegend Authentisches bringen, vor allem, wenn es streckenweise sprachlich brillant dargeboten wird!

Ein paar Anmerkungen zum evtl. Korrigieren:

"... darum verwundert es nicht, dass, als die Stimme am Telefon bedauerte, man hätte vor Juli keine Termine mehr frei
für mich kling besser: man habe keine ...

Monologe auf Anfrage, doch statt sie seinem Gegenüber zu überreichen, lässt er diesen Dinge erklären, die er schon weiß.

das Gegenüber = dieses oder?

„Erzählen Sie mir ein bisschen von Ihrer Kindheit”, fragte die Psychologin,

fragte passt hier nicht ganz im Begleitsatz nach der Aufforderung

Ich bin eine Millionen Jahre alt.
eine Million

und dachte daran, dass man ihn oft bewundernd anschaute und sagte, er wüsste wie durch Zauberhand, was dieser oder jener bräuchte,

vielleicht eher: er wisse / er brauche

Oder gibt es etwas, dass Ihnen hilft, abzuschalten?“

das relativ, also mit einem s

und der jetzt weiß, wie er es tun muss, nämlich in dem er auf auf diesen Mann zeigt und nichts weiter zu sagen braucht.

indem / und ein auf weg

Daran, wie man ihm versicherte, es sei aufregend, einen Erwachsenen hier zu haben, dass
das so selten wäre.

"... dass das so selten sei" würde ich bevorzugen

Dr. Helmbrodt stockt und blickt von Klemmbrett Nr.2 auf..

(2. Punkt weglassen)

Irgendwann dann geht zur Kasse, sagt, “Aufrunden, bitte”,

da fehlt doch das Wörtchen er

Lieben Gruß
kathso = Solweig

 

Hi Purersternenstaub,

eine großartige Geschichte! Ich habe sie schon länger im Blick und komme jetzt endlich auch dazu, einen Kommentar zu versuchen.
Gleich der Anfang gefällt mir gut - die Vorwegnahme, die dann abgebrochen und fast entschuldigt wird, und dabei so wichtig ist dafür, dass sich die Geschichte rundet. Umso schöner, wie du den Erzähler beiläufig abwinken lässt, anstatt große Bedeutsamkeit zu inszenieren. Dein bescheidenes Entgegenkommen den Kritikern gegenüber ist sympathisch, als einer, der nicht der Autor ist, brauche ich mich weniger zurückzuhalten und darf sagen: Wer den Anfang nicht überlesen hat, kann am Ende keinen Selbstmord herauslesen. Er ist sich bis heute nicht sicher - das ist doch eindeutig, oder?


Niko Fausts Wohnung besteht aus zwei Zimmern, die immer abgedunkelt sind, und einem kleinen Bad, von dem er nicht weiß, wie man es putzt. Am liebsten würde er auf der alten Couch schlafen, unter Nietzsche, Brecht und Kierkegaard, aber das macht sein Rücken nicht mit. So schläft er im Schlafzimmer, dem Raum, der nie ganz dazugehören will, allein in seinem Bett, wo er seinen Herzschlag immer hören muss. Er ist noch nie einfach so eingeschlafen. Sobald er das Licht löscht, tritt seine Angst ans Bett, manchmal näher, manchmal weiter weg, immer als schwarze Schatten, die auf ihn herunterschauen oder im Augenwinkel durch das dunkle Wohnzimmer huschen, stets schwärzer als die Nacht und gerade laut genug, um sie nicht ignorieren zu können.
Ganz feine Sache in meinen Augen, dieser Absatz. Einzig "Nietzsche, Brecht und Kierkegaard" irritieren mich da etwas, ich glaube, ich vermisse einen Nebensatz oder ein Beiwort, dass mir erklärt, warum die drei Namen nicht beliebig sind (also etwa: "unter Nietzsche, Brecht und Kierkegaard, die den Raum noch etwas dunkler machen" oder so - also nicht genau so, das war ein beliebiges Beispiel, aber du weißt, was ich meine?!)

Auch den folgenden Absatz würde ich eigentlich gerne zitieren und meinen Beifall darunter setzen. Aber dann habe ich am Ende die ganze Geschichte zitiert und nur gezeigt, dass ich nicht weiß, welche Stelle mir am besten gefallen soll. Bevor es so endet, packe ich jetzt mal lieber ganz schnell die Keule aus und fuchtele damit wild in der Luft herum:

(...) erklärte er einmal einem Menschen, der ihn früher liebte, doch danach liebte dieser ihn nicht mehr.
Für mich stimmt mit dem "doch"-Nebensatz die Melodie nicht mehr. Da tickt jeder etwas anders und du kannst das gerne ingnorieren. Mich interessiert aber selbst, was mich eigentlich stört, und deswegen bohre ich ein bisschen. Es könnte sein, es ist einfach der Rhythmus: plötzlich ist der so regelmäßig. Ich habe den Eindruck, für mich tönt es schon besser, wenn das aufgebrochen wird, z.B. "doch dieser liebte ihn danach nicht mehr".

Sollte Niko jemals wieder einen Menschen finden, den auch er lieben kann, wird er sich nicht trauen, offen zu sprechen, aus Angst, dieses Glück wieder zu verlieren.
"(...) offen zu sprechen." - Und Punkt, wäre auch eine Möglichkeit. Man versteht den Grund wahrscheinlich von selbst sofort.

Niko findet, fünfzig Prozent aller Kommunikation sei überflüssig.
Nur fünfzig? Ich würde ihn fast höher gehen lassen.

Einen Monat, bevor er der Universität und ihren Hörsälen den Rücken kehrte, hielt er ein Referat über unbewusste nonverbale Kommunikation, zwei Stunden lang, Standing Ovations, und war dann noch ein paar Wochen ein Star am Institut.
Das kommt mir übertrieben vor. Standing Ovations für ein Referat und dann sogar noch ein Star am ganzen Institut? Nicht unmöglich, aber ein etwas begrenzterer Erfolg schiene mir dennoch wirkungsvoller.

(...) dass er gleichzeitig viele und doch keine einzige Ausbildung hat.
"Viele Ausbildungen und doch keine einzige hat." wäre von der Grammatik her harmonischer, damit "viele" nicht mit Leerstelle dasteht. Aber gelegentliches Störfeuer kann auch reizvoll sein.

Dann kommen zwei Absätze, die ich nur feiern kann. Ich würde dir ja gerne Gründe für meine Begeisterung nennen, aber das klingt dann immer gleich so platt. Also musst du damit leben, dass sie mir einfach besonders gut gefallen. Wie auch das, was dann folgt, aber da hätte ich immerhin noch einmal eine klitzekleine Anmerkung übrig:

Die Frau legte ihren Stift so auf das Klemmbrett, dass er nicht herunterrollen konnte.
Das ist einer dieser kleinen Einfälle, die den Text so echt erscheinen lassen, nicht gestellt, sondern erlebt bzw. zum Miterleben. Aber warum nicht statt "so" erklären wie?

Sein Freund hatte nicht darauf geantwortet, doch das war nicht wichtig. Niko konnte ihm solche Dinge schreiben, ohne dass er ihn auslachte. Darum ging es. Mehr verlangte Niko nicht.
Da ist mir eine Spur zuviel erklärt. "Sein Freund hatte nicht darauf geantwortet, doch das war nicht wichtig." - Könnte schon reichen.

“Die Kunst ist wie der Mond meines Lebens und mein Herz ihr Magnet”, doch dann war da nichts weiter in ihrem Blick, sie schrieb nichts auf, und dann war die Sitzung auch schon vorbei.
Auch das ist toll. Die Antwort, die er gibt, ist ja schon ziemlich kitschig. Aber das wird gleich aufgehoben durch die nüchterne Reaktion. Wäre die Psychologin nach dem Satz ganz aus dem Häuschen gewesen, dann hätte es wohl eher nicht gepasst. Ich staune, wie du das hinkriegst.

„Woher kennen Sie denn das Wort ‚Indigenat’?”
Weil ich intelligenter bin als du, denkt er.
Streng genommen eine schlechte Erklärung - aber was gibt es nicht alles für Gedanken, die einem einfallen.

Ja, das war's dann wohl schon. Ich bin hauptsächlich vorbeigekommen, um zu sagen, dass mir der Text gut gefällt, und das alleine wäre ja nun etwas wenig gewesen.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Liebe kathso60,

weshalb solltest du mir denn keine Rückmeldung geben können? Ich war auch lange nicht mehr hier, und ich freue mich sehr über einen Kommentar von dir, weil ich dich noch kenne, von damals, als ich so regelmäßig hier war. Deshalb: Danke.

Danke für dein Lob. Ja, das ist ein Konflikt im Konflikt. Ich freue mich, dass du das so klar herauslesen konntest, denn darum ging es mir. Was mir auch auffällt: Ich scheine deutliche Probleme mit indirekter Rede zu haben. Danke, dass du mich darauf hinweist. Deine Korrekturvorschläge habe ich weitestgehend umgesetzt.

Darf ich dich fragen, ob du den Text als Kurzgeschichte klassifizieren würdest? Erfüllt er deine Ansprüche? Oder ist es für dich eher eine Charakterisierung? Diese Frage beschäftigt mich sehr.

Vielen Dank für deine Zeit.
PSS

 

Hallo erdbeerschorsch,

und erstmal ein Danke für dein Lob. Wow. :)

Eigentlich hast du Recht, wenn du sagst, es ist von vornerein klar, dass der Prota sich nicht umbringt, ABER es liegt sicher auch an mir, also dem Autor, wenn es zu schnell überlesen werden kann. Ich ringe da gerade sehr mit mir.
Gestern habe ich "Girl With Curious Hair" von Wallace gelesen. Ich weiß nicht, ob diese KG kennst, aber das ist mit Abstand das Beste, was ich je an KG gelesen habe. Konnte mich gar nicht beruhigen. :) Das erzähle ich deshalb, weil das (absolut fantastische) Ende nur dann funktioniert, wenn man die gesamte Geschichte aufmerksam gelesen hat. Die dauert vielleicht 'ne Stunde oder so, und der Part, der das Kopfkino am Ende anspringen lässt, ist mittendrin, in vielleicht fünf Zeilen, so "nebenbei", eingestreut. Ich glaube, da spielt manchmal wirklich Vieles eine Rolle, wenn es darum geht, die KG am Ende knallen zu lassen. "Überliest" man – aus welchen Gründen auch immer – ein Wort, einen Satz, ein paar Zeilen, dann kann das Ding nicht mehr funktionieren. Das beschäftigt mich, denn anscheinend funktioniert es nur ausreichend bei meiner. Und ich frage mich, wie viel Anspruch ich an den Grad der Aufmerksamkeit des Lesers haben kann, oder ob das weniger mit Aufmerksamkeit zu tun hat, als mit meinen (Nicht)Können. Verstehst du? Also Wallace hat mich gestern echt geflasht und mir gezeigt, wie subtil und gleichzeitig mächtig die Textarchitektur im Hintergrund werkelt.

Du hast dir echt Zeit genommen, danke. Ich habe zwei Stellen deinen Vorschlägen angepasst; an der Stelle mit den Ausbildungen habe ich jedoch nur das "gleichzeitig" herausgenommen.

Nietzsche und Kierkegaard sind schon so dunkel, da habe ich auf einen Zusatz verzichtet. Brecht hab ich nur der Rhythmik wegen drin. Vorher stand da Kavafis, aber ertsens kennt den kaum jemand und zweitens eben: Rhythmik. Ich lass das mal so stehen, auch, weil dein vorgeschlagener Zusatz mir gezeigt hat, dass da die gewünschten Assoziationen mit hochkommen.

Die Stelle, an der es um die Nachricht an seinen Freund geht, lasse ich auch so stehen. Du hast recht, die gekürzte Version würde vielleicht ausreichen, aber ich weiß nicht, ob dann auch ansatzweise klar wird, dass es einen Grund gibt, weshalb Niko wohl nur ihm solche Nachrichten schreibt. Bin unschlüssig.

Deine anderen Vorschläge lasse ich mir durch die Synapsen gehen. Auch, wenn ich sie hier nicht umsetze, werde ich bei der nächsten Geschichte daran denken.

Ich danke dir für deine Zeit!
PSS

 

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