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Allegro con brio
Niko Faust ahnt seit seinem achten Lebensjahr, dass es durchaus Gründe geben kann, sich das Leben zu nehmen. Ob er es auch einmal tun würde, da ist er sich bis heute nicht sicher, und darum verwundert es nicht, dass, als die Stimme am Telefon bedauerte, man hätte vor Juli keine Termine mehr frei und ob das denn passte, er erwiderte, “Ja”, und in Wahrheit dachte: Vorausgesetzt, ich lebe noch.
Aber ich greife vor.
Niko Fausts Wohnung besteht aus zwei Zimmern, die immer abgedunkelt sind, und einem kleinen Bad, von dem er nicht weiß, wie man es putzt. Am liebsten würde er auf der alten Couch schlafen, unter Nietzsche, Brecht und Kierkegaard, aber das macht sein Rücken nicht mit. So schläft er im Schlafzimmer, dem Raum, der nie ganz dazugehören will, allein in seinem Bett, wo er seinen Herzschlag immer hören muss. Er ist noch nie einfach so eingeschlafen. Sobald er das Licht löscht, tritt seine Angst ans Bett, manchmal näher, manchmal weiter weg, immer als schwarze Schatten, die auf ihn herunterschauen oder im Augenwinkel durch das dunkle Wohnzimmer huschen, stets schwärzer als die Nacht und gerade laut genug, um sie nicht ignorieren zu können.
Manchmal sind Nikos Gedanken, die immer mindestens melancholisch schmecken, noch lauter als sein Herz; er weint oft und ohne erkennbaren Anlass und tut so, als würde er nicht hören, wie die Anderen Dinge sagen, wie, Er ist halt schwul.
“Ich weine aus dem gleichen Grund, weshalb ich auch oft und laut und lang lachen muss: Die Gefühle der Anderen werden zu meinen, es ist das Meer, in dem ich schwimmen muss, und ich kann nichts dagegen tun, und ich will es auch nicht, denn ich achte auf die Welt, ich sehe die Details, ich spüre die Menschen, jeden einzelnen, und du nicht”, erklärte er einmal einem Menschen, der ihn früher liebte, doch dieser liebte ihn danach nicht mehr. Sollte Niko jemals wieder einen Menschen finden, den auch er lieben kann, wird er sich nicht trauen, offen zu sprechen, aus Angst, dieses Glück wieder zu verlieren. Stattdessen wird er einfach “Überwältigung” sagen, die Augenbrauen hochziehen und schief lächeln, so, wie er es mit jedem Anderen tut.
Wenn man ihn mit großen Augen und ungläubiger Stimme fragt, weshalb er denn dies oder das wisse und woher, dann antwortet er, “Zufall”, und denkt, Transfer, oder, Logik, und daran, dass die Lehrer ihn früher gezielt zuletzt sprechen ließen, um auch den Anderen eine Chance auf die richtige Antwort geben zu können. Heute schweigt Niko die meiste Zeit und spricht nur, wenn er gefragt wird. Stattdessen besitzt er Visitenkarten, auf denen zwar steht, Monologe auf Anfrage, doch statt sie seinem Gegenüber zu überreichen, lässt er diesen Dinge erklären, die er schon weiß. Niko findet, fünfzig Prozent aller Kommunikation sei überflüssig.
Er weiß bis heute weder, wie man lernt, noch was Langeweile ist, war in der Schule erst gut, dann sehr gut gewesen, nur um in der Oberstufe komplett das Interesse zu verlieren. Er war sich damals sicher, die Abiturprüfung nicht zu überleben, Herzinfarkt, so große Angst hatte er davor, schaffte es dann aber doch, irgendwie, und fand sich an der Universität wieder, die er dann zwar quer durch alle Fächer mit beneidenswerten Noten studiert, jedoch in keinem abgeschlossen hatte. Einen Monat, bevor er der Universität und ihren Hörsälen den Rücken kehrte, hielt er ein Referat über unbewusste nonverbale Kommunikation, zwei Stunden lang, Standing Ovations, und war dann noch ein paar Wochen ein Star am Institut. Davon, dass er systematisch Testprotokolle mit jedem, den er neu kennenlernt, durchführen muss, weil er sonst nicht weiß, ob er sympathisch ist oder nicht, erzählte er in diesen zwei Stunden nicht.
Niko fürchtet sich nicht bloß vor Menschen im Allgemeinen, sondern besonders vor vollen Hörsälen im Speziellen, das Geräusch atmender Menschen und der Anblick sich permanent bewegender Kiefer bereiten ihm Schmerzen, und es hat niemanden gegeben, der ihn dazu angehalten hätte, dieses Stück Papier, auf dem stehen würde, dass er das alles tatsächlich weiß, haben zu wollen, und so kommt es, dass er viele und doch keine einzige Ausbildung hat.
„Das Kind ist so schrecklich sensibel”, hörte er seine Mutter früher zu Unbekannten sagen, während er im Supermarkt ihren kleinen Finger mit beiden Händen fest umklammert hielt, „ich weiß langsam nicht mehr, was ich machen soll.” Vielleicht waren es auch keine Unbekannten, das wusste er damals nie so genau, und als er älter und noch immer alleine war, kaufte die Mutter ihm einen Fernsehapparat.
„Schau ein bisschen fern, bei dir ist es immer so leise”, sagte sie dann oft, „es kann doch nicht gut sein, wenn es immer so leise ist”, und alles, woran er dann denken konnte, war, dass die Mutter das Tagebuch, das er früher immer so platziert hatte, dass man es sehen musste, nie gelesen hatte, obwohl Nur für mich und meine Familie in großen Buchstaben darauf stand. Er besitzt also einen Fernseher, doch er sieht nicht fern. Wenn man ihn fragt, weshalb, dann sagt er, er ertrage die Werbung nicht und sieht dabei an einem vorbei, wie eine Katze, die etwas, das gar nicht da sein dürfte, und von dem man eigentlich auch genau weiß, dass es nicht da ist, fixiert. Dieser Blick, der zum Umdrehen zwingt, das ist der seine. Folgt man ihm, dann merkt man, dass er über die Bücherregale gleitet, und manchmal kommt sein Blick auf diesem oder jenem Buch zur Ruhe. Dann erinnert er sich an etwas und lacht leise, so wie man mit dem Menschen lacht, den man liebt, und wenn er sich wohlfühlt, sagt er Dinge, wie: Nietzsche war der traurigste Mensch der Welt, oder, DaVinci hatte schon ab und zu Probleme mit der Perspektive, oder, Man darf das Dur nur andeuten, um dann doch ins Moll zu fallen, und dann werden die Knöchel seiner immer etwas kohleverschmierten Hände weiß.
„Öffne deine Hände”, sagte seine Mutter früher oft zu ihm, „dann reden die Kinder auch mit dir.” Aber seine Mutter ist nicht da, wenn er jetzt Besuch hat, und die wenigen Menschen, die ihn besuchen, bemerken die Farbe fremder Knöchel nicht. Also schaut er sie bloß an, diese Menschen, oder an ihnen vorbei, und in diesem Blick passiert etwas; das, was sie mitgebracht haben, verlässt den Raum, etwas, das keinen Platz hat zwischen den Stapeln aus Papier und Büchern, den Kohlezeichnungen an der Wand, den Partituren auf dem Boden. Dann merken sie, dass sie nicht wirklich etwas zu sagen haben, und dann fällt ihnen eine Zeit lang auch nichts ein. Wenn sie dann gehen, Stunden später, wissen sie nicht so recht, wohin mit sich selbst, alles scheint lauter als zuvor. Der eine sagt dann Dinge wie, „So ist er eben”, zu sich selbst und fühlt nicht weiter nach; der andere lächelt bloß, während er an die beiden Weingläser in seinem Regal denkt, und wundert sich; ein dritter versucht am Abend, das traurige Gefühl zu beschreiben, einen Messerschleifer beim Schleifen einer Klinge, die vielleicht für immer unbenutzt bleiben würde, zu beobachten, und findet keine Worte dafür.
„Erzählen Sie mir ein bisschen von Ihrer Kindheit”, fragte die Psychologin, damals, beim ersten Mal, und Niko dachte dann an den Schulhof und die Kinder und wie er nicht wusste, was er tun musste, damit sie ihn bemerkten, und daran, wie er zum ersten Mal dachte, Ich bin eine Million Jahre alt.
“Ratlos. Einsam.”
“Hatten Sie Freunde?”, fragte die Frau im Lehnsessel, und er dachte, Freunde, Plural, schüttelte den Kopf und dachte daran, wie es war, als Sechsjähriger mit einer geladenen Waffe, deren Munition aus Worten besteht, herumzufuchteln. Er hatte damals nicht gewusst, was der Abzug war, noch was passieren würde, wenn er ihn drückte. Stattdessen hatte er ihn einfach gedrückt. Nikos Kindheit und Jugend ist ein einziger Kommunikationskollateralschaden; er hat Jahrzehnte gebraucht, um zum Scharfschützen zu werden.
“Wie sind sie damit umgegangen?” Die Frau legte ihren Stift so auf das Klemmbrett, dass er nicht herunterrollen konnte.
Was für eine dämliche Frage, dachte er.
„Ich habe begonnen, zu beobachten“, antwortete er.
“Wie meinen Sie das?”, fragte die Frau, die Psychologie studiert hatte, und Niko war wieder sechs oder zehn oder dreizehn oder sechzehn oder neunzehn oder fünfundzwanzig Jahre alt, und
Reaktion 1 = Ablehnung
Reaktion 2 = Akzeptanz
Wenn Reaktion 2 die gewünschte ist, und wenn Verhaltensmuster A zu Reaktion 1 führt, Verhaltensmuster B zu Reaktion 2, dann ist Verhaltensmuster B zu präferieren.
Verhaltensmuster erscheinen simpel, sind jedoch hochkomplex und oft nur schwer im Chaos verbaler und nonverbaler Kommunikation zu erkennen.
Definiere Verhaltensmuster A.
Definiere Verhaltensmuster B.
Worin unterscheiden sich Verhaltensmuster A und B?
Erkenne, was Verhaltensmuster B genau ausmacht.
Trainiere Verhaltensmuster B.
Teste Verhaltensmuster B.
Test 1.
Test 2.
Test 3.
Führt es zur gewünschten Reaktion 2?
Bessere dich.
Modifiziere Verhaltensmuster B.
Beschreibe Verhaltensmuster B-1.
Teste Verhaltensmuster B-1.
Teste.
Scheitere.
Modifiziere.
Wiederhole.
Bessere dich.
Bessere dich jahrzehntelang.
Erstelle ein dreidimensionales, interaktives Gitternetz mit allen erstellten und auf Funktionalität getesteten Verhaltensmustern.
Transfer.
Kopple mit eigener Körperwahrnehmung.
Prüfe globale Funktionalität des Gitternetzes.
Weite auf den erfahrbaren Raum aus.
Modifiziere.
Feedback.
Teste.
Feedback.
Modifiziere.
Feedback.
Bessere dich.
Algorithmus 1 vs. Algorithmus 2 vs. Algorithmus x.
Werde unauffällig,
und das alles dachte Niko, der in Wahrheit fast vierzig war, weil es niemals anders funktioniert hatte, schon sein ganzes Leben — doch statt es laut auszusprechen, betrachtete er diesen erwartungsvoll blinzelnden Menschen, der ihm gegenüber saß und der das Frausein genauso wie die Psychologie studiert hatte, das eine unbewusst, das andere bewusst, und erwiderte,
“Eleganz im Chaos finden. Verhältnisse erkennen, spiegeln, vervollständigen”, und dachte daran, dass man ihn oft bewundernd anschaute und sagte, er wüsste wie durch Zauberhand, was dieser oder jener bräuchte, ein Spezialist für Empathie, das wäre eine Gabe — dabei tat er nichts anderes als postulieren, berechnen, verwerfen, in Echtzeit, pausenlos; Körperkontakt, Blickkontakt, Pausenlänge; wo sind die Hände, einzeln oder Gruppe, Mann oder Frau.
Mimik, Gestik, Intonation.
Test, Modifikation, Exekution.
Wieder und wieder und wieder.
Seit er denken konnte.
Niko war oft sehr müde.
Die Psychologin zog die Augenbrauen hoch, fragte jedoch nicht weiter nach und notierte stattdessen wieder etwas. So, wie sie es fast die ganze Zeit getan hatte.
„Hobbys“, fragte sie dann auf eine Weise, in der man fragt, wenn man froh ist, dass einem doch noch was eingefallen ist, „haben Sie irgendwelche Hobbys? Oder gibt es etwas, dass Ihnen hilft, abzuschalten?“
Niko dachte an Worte und Zeichnungen und Musik. An die Frau, die kurze Zeit seine Cellolehrerin gewesen war. Dann an den Pianisten, den er letztens gesehen hatte, an die aufgeregte Nachricht, die er direkt danach seinem Freund geschickt hatte: Wenn ich ihn dabei sehe, dann spüre ich Glück und Verderben und Liebe und Gewalt, kurz gesagt: Schönheit, in allen ihren Facetten, in ihrer Nacktheit, in ihrer Vergänglichkeit und in ihrer Ewigkeit, ich zerbreche und werde neu geschaffen, gleichzeitig, und das meine ich nicht pathetisch, sondern so, wie jemand, der sich immer fragt, was das alles soll, wo der Sinn von allem ist, ob es überhaupt einen Sinn gibt; wie jemand, der nie wusste, wie er erklären sollte, was Nietzsche meinte, als er schrieb, „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum”, und der jetzt weiß, wie er es tun muss, nämlich indem er auf diesen Mann zeigt und nichts weiter zu sagen braucht.
Sein Freund hatte nicht darauf geantwortet, doch das war nicht wichtig. Niko konnte ihm solche Dinge schreiben, ohne dass er ihn auslachte. Darum ging es. Mehr verlangte Niko nicht.
„Kunst, Musik“, antwortete er.
„Inwiefern?“, hörte die Frau nicht auf zu fragen, „Malen Sie?“, und Niko sagte, “Die Kunst ist wie der Mond meines Lebens und mein Herz ihr Magnet”, doch dann war da nichts weiter in ihrem Blick, sie schrieb nichts auf, und dann war die Sitzung auch schon vorbei.
Nun ist es tatsächlich Juli geworden, und Niko lebt noch immer. Der, wie er findet, wichtigste Satz, den er heute mehreren wildfremden Personen gesagt hat, lautete: Ich kann nicht mehr, und der Stuhl, auf dem er sitzt, knarzt. Wie die unzähligen anderen, auf denen er heute schon gesessen hat. Das Büro ist so klein und ruhig, dass er an sein Schlafzimmer denken muss, dann an seine Couch und dann daran, dass er keine Uhr trägt. Der Schlaf holt ihn immer um vier Uhr nachmittags ein, spätestens. Er weiß, dass es später ist, auch ohne Uhr, und will die Augen schließen, als sich die Tür öffnet und die Ruhe den Raum im gleichen Moment verlässt, in dem die Oberärztin ihn betritt.
„Ah”, sagt diese Frau, auf deren Auftritt Niko schon den ganzen Tag gewartet hat und deren Namensschild Dr. A. Helmbrodt, Oberarzt, verkündet, „da sind Sie ja.”
„Schon seit einer halben Stunde”, entgegnet Niko, was Dr. Helmbrodt ignoriert und stattdessen die Schubladen ihres Schreibtisches betont systematisch nach etwas durchsucht, das sie dann doch nicht finden will. Niko schaut ihr dabei zu, blinzelt kaum. Er hat jetzt acht Stunden durchgehalten; nur noch ein wenig länger, denkt er, und er würde im Auto einschlafen können.
„Und, was denken Sie? Sie sind bestimmt gespannt auf das Ergebnis.” Dr. Helmbrodt setzt eine Brille mit roter Fassung und zu schmalen Gläsern auf, und Niko findet, sie grinse wie ein Lehrer, der seinem unbeliebtesten Schüler nun verkünden könne, er sei durch die Prüfung gefallen.
Niko mag rote Brillen nicht. Einmal sagte er, es sei eine ganz bestimmte Art Frauen, die diese Farbe wählten, Frauen, die nur Dinge sagen, die ihnen gut stehen, darauf könne man sich verlassen.
Er sagt also nichts und schaut stattdessen auf die Bücherwand, die hinter der Ärztin thront. Sein Blick ruht auf einem Buchrücken. Dr. Helmbrodt dreht sich um, greift genau dieses, legt es vor sich ab und lehnt sich nach vorne, die Arme so auf dem Buch verschränkt, dass sie sich fast selbst umarmt. Niko kann sehen, dass das Buch nicht häufig aufgeschlagen wurde. Ihre Blicke treffen sich über den Brillengläsern, und als Niko immer noch nichts sagt, schaltet die Ärztin wieder ihr Lächeln ein, während sie langsam mehrere giftgrüne Klemmbretter vor sich ausbreitet.
„Ich muss sagen, wir waren zu Beginn unsicher”, sagt Dr. Helmbrodt, während sie das erste Klemmbrett greift, „und alles, was ich Ihnen heute mitteile, gilt unter Vorbehalt. Wir werden die Abschlussdiagnose erst in etwa vier Wochen stellen können, wenn das ganze Videomaterial ausgewertet ist, also nicht zu früh freuen.” Ihr Mund lächelt, ihre Augen jedoch nicht.
Niko schaut auf seine Knöchel, von denen er weiß, dass sie dieser Frau nicht auffallen werden, egal, was passiert, und denkt an den Mann und die Kamera, die beide den ganzen Tag anwesend waren. Daran, dass der Mann ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen, nie ein Wort gesagt hat. Daran, wie man ihm versicherte, es sei aufregend, einen Erwachsenen hier zu haben, dass das so selten sei.
„Hochintelligenz, Respekt, durchschnittliche Problemlösungsfähigkeit, typisch, wahrscheinlich Aufmerksamkeitsdefizit, typisch, Exekutive Dysfunktion, jaja”, blättert die Ärztin die Blätter des ersten Klemmbrettes durch. Nikos Knöchel werden weiß. Dr. Helmbrodt stockt und blickt von Klemmbrett Nr.2 auf..
„Woher kennen Sie denn das Wort ‚Indigenat’?”
Weil ich intelligenter bin als du, denkt er.
„Ich habe unter anderem Ethnologie studiert”, sagt er, fügt, ohne Abschluss, in Gedanken hinzu und schaut nicht auf.
„Interessant. Daher kennen Sie das?” Ihre Blicke treffen sich, Niko sagt jedoch nichts weiter, und die Ärztin nimmt das dritte Klemmbrett. „Ein ganzes Zusatzblatt Zahlenreihen, fehlerfrei, auch rückwärts. Selten, sehr schön. Aber irgendwoher muss der IQ ja auch kommen, nicht wahr”, zwinkert sie, und Niko denkt an die Rückfahrt und daran, dass er während des Autofahrens ja nie schlafen kann.
„Also”, reißt Dr. Helmbrodt ihn aus seinen Gedanken, „nach allem, was ich hier sehe und nach den Gesprächen, die ich mit den Diagnostikern hatte, kann ich Ihnen schon jetzt fast sicher sagen, dass Sie Asperger-Autist sind”, strahlt sie, „und kombiniert mit den anderen Tests, die wir gerade durchgegangen sind, kann man durchaus sagen, dass Sie in einer Reihe mit DaVinci, Darwin, Beethoven, Einstein stehen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Faust, Sie haben den Jackpot gewonnen!”
Dr. Helmbrodt schüttelt Niko, dem vierzigjährigen Arbeitslosen, dem Gewinner des Preises, von dem ihm niemand sagen würde, wie er ihn einlösen könnte, die Hand und lächelt ihr Lächeln. Dass sie im Herausgehen noch die Feststellung des Behindertengrades empfiehlt, bekommt der ruhige Raum nicht mehr mit, und als sie ihn einen Monat später anruft, um ihm feierlich und in Zusammenschau der Befunde den offiziellen Titel zu verleihen, da stolpert sein Herz wieder, sein organgewordenes memento mori, von dem die Ärzte immer sagen, sie könnten nichts finden, und er erwähnt nicht, dass er von der Studie weiß, die besagt, dass Menschen wie er im Durchschnitt 54 Jahre alt werden. Stattdessen bedankt er sich, weil man das so macht und legt auf.
Das ist so eine Sache mit Handys: Jede Nachricht kann jeden zu jeder Zeit erreichen. Da kommt es durchaus vor, dass man, wie Niko, gerade im Supermarkt vor dem Regal mit dem Schafskäse steht und sich überlegt, was man dem Freund abends kocht, wenn der Arzt anruft und sagt, Übrigens, du hast wahrscheinlich nicht mehr allzu lange zu leben, zwischen den Zeilen. Deshalb schaut Niko jetzt auch nicht wirklich auf den Schafskäse, sondern mehr durch ihn hindurch; in Wahrheit denkt er an dieses Gemälde, das er so mag, Der Mönch am Meer, und fragt sich, wie es sich wohl anfühlt, Horizont zu sein.
Irgendwann dann geht zur Kasse, sagt, “Aufrunden, bitte”, hilft einer alten Frau, ihr Gemüse in die Tasche ihres Rollators zu packen, und als er zu Hause ankommt, räumt er die Einkäufe weg, holt den alten Abschiedsbrief heraus, postiert ihn wieder so, dass man ihn direkt sehen muss, wenn man seine Wohnung betritt, legt Kohle und Papier bereit, zögert, entrollt die Mappe mit den Pastellstiften, von denen er bis heute nicht gewusst hat, weshalb er sie überhaupt besitzt, startet Beethovens drittes Pianokonzert, c-Moll, erster Satz, Allegro con brio, und als das Klavier anhebt zum Gefecht gegen das Orchester, zieht auch Niko Faust, der noch ein paar Jahre haben wird, Niko Faust, der Gewinner, lächelnd sein Schwert, öffnet die Augen und ist bereit.