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Alle Sorgen vergessen

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27.05.2008
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Alle Sorgen vergessen

Haben sie es sich mal angesehen, also ganz in Ruhe? Allein, die Jalousien heruntergelassen, die Haustür verschlossen und - Jesus - es sieht so sanft aus. Fast butterweich. Als wenn etwas Heißes in Butter versinkt, so in der Art. Und es ist die ganze Zeit über nichts zu hören, absolut kein Geräusch. Auch wenn man meint, es müsste jeden Moment die Hölle losbrechen, ein Riesenknall oder so, aber es ist alles totenstill. Und in Zeitlupe ist es so sacht, gleitet hinein, ineinander, fast sexuell. Nimmt es irgendwie stumm in sich auf und lässt auf seiner anderen Seite eine sechsstöckige rote Lilie aus dem Beton erblühen.

*

Es ist das zweite Flugzeug, Frank. Das, wovor wir alle Angst haben. Immer dasselbe. Glaub mir, ich hab an dem Tag wie jeder andere vor der Glotze gesessen, sah den rauchenden Turm und las immer wieder das Wort "Flugzeug" in der Tickerzeile. Und im Ernst, es konnte ein Unfall gewesen sein. Es war möglich - unwahrscheinlich - aber möglich, Frank. Die Zeit vergeht, ich sitze mit dem Rest der ganzen Welt vor dem Bildschirm und sage mir immer wieder, dass es ein Unglück war, ein Unfall, Lieber Gott, das musste es einfach sein. 9:03 Uhr verließen mich all meine Sorgen. Das zweite Flugzeug kam wie aus heiterem Himmel und erreichte punktgenau sein Ziel. In diesem Moment, Frank, als jedermann schon die Hände vors Gesicht schlagen wollte, die Augen immer noch irgendwie hoffnungsvoll nach oben gerichtet, wusste ich, dass ich meinen persönlichen Fluch gefunden hatte. Mein Kryptonit. Ein tonloses Bumm. Ich habe gebetet, dass es mich wieder loslässt, dieses zweite Flugzeug, aber das tat es nicht. Bis zum heutigen Tag nicht, es ist da und schlägt ein. Wie ein zweiter Herzschlag. Nachts, wenn die Gedanken kommen, werden beide Pulse schneller. Es gleitet hinein.
Ich glaube, das ist es, was uns ein Leben lang in Schach hält, Frank. Das zweite Flugzeug. Auf das wir warten, Tag und Nacht, und versuchen nicht daran zu denken. Die Bestätigung unserer schrecklichsten Ahnungen. Nur ein paar Lichtpunkte auf dem Bildschirm, von A nach B, sie bilden eine glänzende Vogelform, die sich westwärts schiebt, stumm mit der aschgrauen Steilwand verschmilzt. Das allein genügt, um einen Menschen zu zerbrechen. Grandma sprach immer davon, dass jedermann sein Päckchen zu tragen hätte, ich trage dieses zweite verdammte Flugzeug. Wir alle tun das in irgendeiner Form, glaube ich und hoffen, dass es irgendwie doch nicht mehr kommt, dass es nur eine Schleife über JFK fliegt, wegen was-weiß-ich schlechtes Wetter, Landebahn besetzt; im letzten Moment doch noch zur Erleichterung aller umdreht und sie alle sicher Heim bringt und alles war nur ein kurzer Schreckmoment. Man lacht nervös, versichert sich, in Zukunft nicht immer gleich vom Schlimmsten auszugehen. Doch das tut es nicht, Frank. So sehr du flehst und bettelst, deinem beschissenen Toshiba-Flatscreen die gefalteten Hände entgegen reckst und betest wie ein Chorknabe, es dreht nicht um. Es fliegt keine Schleife über JFK, sondern macht seinen Weg und lässt dich all deine Sorgen vergessen.
Kein Alptraum.
Und falls doch, dann ist er noch nicht zu Ende. Wenn du dein zweites Flugzeug gefunden hast, weißt du, wovon ich rede.

 

Salve Richy Flussfrau,

Dein Text hat mir ausnehmend gut gefallen, obwohl er eigentlch nicht mehr ist als ein Monolog des Erzählers an einen unsichtbaren Gegenüber.
Eine Katastrophe, dass der Prot nicht einmal selbst miterlebt hat, von dem er auch nicht durch den Verlust naher Angehöriger betroffen zu sein scheint (sonst würde ich ander Bilder erwarten), wird zur Metapher für Lebenstraumata schlechthin.

In optimistischer Verkennung der Realität geht man zumindest unterbewusst davon aus, dass manche Dinge nicht passieren können, dass niemand so etwas tun wird, weil es einfach zu schrecklich ist. Diese Illusion ist lebensnotwendig, sonst könnte man sich gleich aus dem Fenster stürzen, kaum dass man in der Lage ist, zu laufen.
Und gerade diese Realitätsbeschönigung ist dem Prot genommen worden, er stürzt in depressive Desillusionierung.

Das stellst Du angenehm unaufdringlich dar, das gefällt mir.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass Du ausgerechnet den 11.9. als Folie dafür benutzt. An diesem Hyperereignis kann man fast alles und jedes aufhängen, Tiefgang gewinnt es dadurch nicht unbedingt, macht mir die Angelegenheit eher suspekt. Der Text an sich hätte die Twin Towers auch gar nicht nötig, er würde mit jedem anderen Trauma funktionieren.

LG, Pardus

 

oh mann, danke für die kritik, sowas hört man natürlich gerne. die sache mit dem elften september ist in gewisser weise auch etwas egoistisch gewählt, weil das zufällig mein geburtstag ist. (deshalb auch ein stück weit selbsttherapie, darüber zu schreiben;)
nochmal vielen dank für deine worte.

 

Die Sache mit 9/11 hat mich anfangs ein wenig abgeschreckt und ich hätte wohl nicht zu Ende gelesen, wären da nicht die wundervollen einleitenden Worte gewesen, die wie aus einem Guss wirken und einen Punkt ganz tief drinnen ansprechen. Herrlich gelungen wie ich finde.

Zur Thematik ist zu sagen, dass trotz der Kürze wie durch ein Schlüsselloch auf einen ganzen Kosmos psychologischer Phänomene geschaut wird, ohne dabei die Philosophie als Mutter dieser Disziplin zu vernachlässigen. Auch wenn der Erzähler hin und wieder versucht, seine Gefühle im Allgemeinen einzuordnen, wird mir persönlich zu wenig auf die philosophische Metaebene eingegangen - das muss aber nicht unbedingt ein Nachteil sein, denn so bleibt dem Leser die Freiheit zum Selbstdenken und Selbstverknüpfen, ohne dass bereits Bahnen vorgegeben wurden, die ja bekanntlich dazu verführen, eben jene Gleise zu nehmen.

Eine sehr gelungene Kurzgeschichte, die ich zwei Mal lesen musste, weil sie sprachlich ein Genuss war. Dankeschön dafür!

 

Hej Richy Flussfrau,

jetzt habe ich Deinen Text schon zig mal gelesen in der Hoffnung, dass ich dann ein klareres Bild bekomme und dementsprechend kommentieren kann.
Fällt mir ziemlich schwer.
Ich finde, was Du unheimlich gut schaffst, ist die unbewussten Ängste einzufangen und zu vermitteln, mit denen zweifellos jede/r Mensch zu tun hat.

Ich weiß nicht, ob es dazu den 11. September gebraucht hätte, aber egal.

Was stört und auf mich wenig philosophisch wirkt, ist die Tatsache, dass der Text darüber hinaus nichts bietet. Ja, wir haben alle Ängste, jeden Menschen trifft früher oder später das "zweite Flugzeug" (wenn ich Dich richtig verstanden habe). Aber was schliesst Du daraus? Der Text scheint nahezulegen, dass nichts weiter übrig bleibt, als den Flug zu verfolgen und zu warten, dass es kracht.

Eine Depression - er klingt schon ziemlich deprimierend, Dein Monolog, oder nicht? - philosophisch zu betrachten, hm, schwierige Kiste.

Viele Grüße
Ane

 

@teetante: vielen, vielen dank für deinen kommentar, ich brauche hier wohl nicht zu sagen, dass man sich kaum eine nettere kritik wünschen kann.

@ane: du hast vollkommen recht, dass der text eine depressive note hat, nicht zuletzt weil die meisten von uns - mich mit eingeshclossen - die eine oder andere depressive phase durchmachen, also etwas, dass nichts zu tun hat mit bloßer traurigkeit, sondern eher mit resignation und das wollte ich festhalten.
wenn ich diesen text nicht als autor, sondern als leser betrachte, dann würde ich ihn am ehesten als fragment ohne spezifische moral einordnen. wie du schon sagst, kreist für uns alle irgendwo dieses zweite flugzeug am himmel, die frage bleibt nur folgende: betrachten wir es in stummem grauen, warten, dass es sein ziel erreicht, setzen uns mit ihm auseinander - manchmal resigniert, manchmal obsessiv - oder versuchen wir trotz seiner existenz weiter zu leben, d.h. es gewissermaßen links liegen zu lassen und zu versuchen, ein möglichst erfreuliches dasein zu fristen und sich dabei weitesgehend abwenden von den abgründen der eigenen seele.

auch wenn es äußerst fadenscheinig klingen mag, aber mir fällt es wirklich schwer, traditionell philosophische texte zu schreiben - stichwort metaebene - und diese zu lesen nicht minder. deshalb komme ich deutlich besser zurecht mit dieser leicht rahmenlosen und alltäglichen textform, finde sie auch für die vermittlung mancher "erkenntnisse" einfach geeigneter - was nicht heißen soll, dass ich nicht daran arbeite, mich auch in traditionellen gefilden weiter durch zu arbeiten und für jeden rat dankbar bin.

 

Hallo Richy Flussfrau,

eine gut erzählte, runde Geschichte ist dir gelungen. Das Philosophische ist zwar leider nur sehr indirekt angesprochen und ausgeführt, aber vorhanden. Letztlich kumuliert es in dem Satz:

„lässt dich all deine Sorgen vergessen.“

Die dem Ganzen innewohnende Dramatik wird durch das ruhige Erzählen, die „Ruhe“, die sachte „Zeitlupe“ zur Wirkung gebracht.
Dieses herbeiflehen eines Unfalls, auf den ersten Blick paradox, ist ein starkes Bild, auch der Vergleich mit dem „Kryptonit“.

Tschüß,

Woltochinon

 

hey woltochinon, vielen, vielen dank auch für deine worte! es stimmt, das es gerade das paradoxe ist, was überhaupt den ganzen reiz an der thematik ausmacht. das ein derart schreckliches ereignis manchmal das einzige ist, das gewisse andere "sorgen" verblassen lässt und dieser umstand eben das gewissermaßen perverse darin darstellt. dazu fällt mir auch ein zitat aus einem tool-song ein - frei übersetzt etwa: "Wir alle ernähren uns von Tragödien
Wie der Vampir vom Blut. Stellvertretend lebe ich während die ganze Welt stirbt." die frage ist, ob man diese einstellung verurteilen sollte/oder überhaupt verurteilen kann (wenn man ehrlich zu sich selbst ist(?))
so in der art stelle ich mir auch den erzähler vor, jemand der auf den ersten blick vielleicht obsessiv und sogar voyeuristisch wirkt, auf den zweiten aber einfach nur im angesicht tiefsitzender ängste sein leben zu bestreiten sucht - also jemand wie du und ich. ist natürlich nur meine meinung, interpretationen sind sehr willkommen.

 

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