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Alle Sorgen vergessen
Haben sie es sich mal angesehen, also ganz in Ruhe? Allein, die Jalousien heruntergelassen, die Haustür verschlossen und - Jesus - es sieht so sanft aus. Fast butterweich. Als wenn etwas Heißes in Butter versinkt, so in der Art. Und es ist die ganze Zeit über nichts zu hören, absolut kein Geräusch. Auch wenn man meint, es müsste jeden Moment die Hölle losbrechen, ein Riesenknall oder so, aber es ist alles totenstill. Und in Zeitlupe ist es so sacht, gleitet hinein, ineinander, fast sexuell. Nimmt es irgendwie stumm in sich auf und lässt auf seiner anderen Seite eine sechsstöckige rote Lilie aus dem Beton erblühen.
*
Es ist das zweite Flugzeug, Frank. Das, wovor wir alle Angst haben. Immer dasselbe. Glaub mir, ich hab an dem Tag wie jeder andere vor der Glotze gesessen, sah den rauchenden Turm und las immer wieder das Wort "Flugzeug" in der Tickerzeile. Und im Ernst, es konnte ein Unfall gewesen sein. Es war möglich - unwahrscheinlich - aber möglich, Frank. Die Zeit vergeht, ich sitze mit dem Rest der ganzen Welt vor dem Bildschirm und sage mir immer wieder, dass es ein Unglück war, ein Unfall, Lieber Gott, das musste es einfach sein. 9:03 Uhr verließen mich all meine Sorgen. Das zweite Flugzeug kam wie aus heiterem Himmel und erreichte punktgenau sein Ziel. In diesem Moment, Frank, als jedermann schon die Hände vors Gesicht schlagen wollte, die Augen immer noch irgendwie hoffnungsvoll nach oben gerichtet, wusste ich, dass ich meinen persönlichen Fluch gefunden hatte. Mein Kryptonit. Ein tonloses Bumm. Ich habe gebetet, dass es mich wieder loslässt, dieses zweite Flugzeug, aber das tat es nicht. Bis zum heutigen Tag nicht, es ist da und schlägt ein. Wie ein zweiter Herzschlag. Nachts, wenn die Gedanken kommen, werden beide Pulse schneller. Es gleitet hinein.
Ich glaube, das ist es, was uns ein Leben lang in Schach hält, Frank. Das zweite Flugzeug. Auf das wir warten, Tag und Nacht, und versuchen nicht daran zu denken. Die Bestätigung unserer schrecklichsten Ahnungen. Nur ein paar Lichtpunkte auf dem Bildschirm, von A nach B, sie bilden eine glänzende Vogelform, die sich westwärts schiebt, stumm mit der aschgrauen Steilwand verschmilzt. Das allein genügt, um einen Menschen zu zerbrechen. Grandma sprach immer davon, dass jedermann sein Päckchen zu tragen hätte, ich trage dieses zweite verdammte Flugzeug. Wir alle tun das in irgendeiner Form, glaube ich und hoffen, dass es irgendwie doch nicht mehr kommt, dass es nur eine Schleife über JFK fliegt, wegen was-weiß-ich schlechtes Wetter, Landebahn besetzt; im letzten Moment doch noch zur Erleichterung aller umdreht und sie alle sicher Heim bringt und alles war nur ein kurzer Schreckmoment. Man lacht nervös, versichert sich, in Zukunft nicht immer gleich vom Schlimmsten auszugehen. Doch das tut es nicht, Frank. So sehr du flehst und bettelst, deinem beschissenen Toshiba-Flatscreen die gefalteten Hände entgegen reckst und betest wie ein Chorknabe, es dreht nicht um. Es fliegt keine Schleife über JFK, sondern macht seinen Weg und lässt dich all deine Sorgen vergessen.
Kein Alptraum.
Und falls doch, dann ist er noch nicht zu Ende. Wenn du dein zweites Flugzeug gefunden hast, weißt du, wovon ich rede.