Alle lieben Otto
In Kleinheroldsheim war die Welt sprichwörtlicherweise noch in Ordnung. Jeder kannte jeden, man traf sich abends immer in der einzigen Gaststätte im Dorf und besprach wichtige Sachen. Wie zum Beispiel die Organisation des nächsten Erntedankfestes, oder die Wahl des neuen Bürgermeisters, obwohl sowieso alles immer beim alten blieb. Es gab nur selten Streit in dem kleinen Dorf und wenn es einmal krachte, dann versöhnte man sich spätestens am Abend wieder bei einem Malzbier. Jeder mochte jeden... und alle mochten Otto. Otto war der Zeitungsausträger. Morgens um sieben warteten die meisten schon vor der Tür um sich persönlich für das Überbringen der Zeitung zu bedanken. Manche waren zu der Zeit allerdings bereits auf dem Feld oder in der Großstadt beim Einkaufen. Jedoch legten sie Otto immer etwas Gebäck, oder ein Stück Apfelstreuselkuchen neben den Briefkasten. Deshalb konnte es vorkommen, dass Otto einen ganzen Vormittag nur mit Zeitung austragen beschäftigt war und zwischendurch eine längere Pause zum Essen einlegte. Doch niemand beschwerte sich. Alle mochten Otto. Vor allem die ledigen Mädchen aus dem Dorf ließen keine Gelegenheit aus, ihm wie zufällig auf der Straße, im Tante-Emma-Laden oder im Wald zu begegnen. Otto freute sich über die Aufmerksamkeit, die ihm zu teil wurde und verbrachte den Nachmittag im allgemeinen mit einer Clique aus Mädchen. Ab und zu fragten sich Touristen, die Urlaub auf dem Bauernhof machten, was das besondere an diesem jungen Burschen ist. Besonders schön war er nicht. Nun, er war nicht einmal besonders intelligent. Nach der zweiten Klasse in der Volksschule meinte seine Lehrerin, er sollte vielleicht besser Zeitungen austragen. Der gutmütige Otto tat dann auch gleich wie ihm geheißen. Und seitdem füllt er morgens die Briefkästen in Kleinheroldsheim. Das war eben Otto! Leider konnte er mit seinem gelähmten Bein nicht besonders gut laufen, aber wie gesagt nahmen es ihm die freundlichen Leute im Ort nicht übel. Die Auslieferung dauerte halt immer ein bisschen. Otto war trotzdem der beliebteste Bewohner des kleinen Dorfes. Abends wurde auf sein Wohl getrunken, wobei er immer glänzend-rot anlief und über das ganze Gesicht strahlte. Er war einfach ein prima Kerl. Nicht hübsch, nicht klug aber immer nett und hilfsbereit. Nach dem tragischen Tod seines allein erziehenden Vaters, hatte er dessen Bauernhof geerbt. Leider bewies er nicht viel Geschick in der Landwirtschaft, so dass er nach kurzer Zeit alle Tiere an einen Fremden zu einem Dumpingpreis verkaufen musste. Wie so oft hatte er sich über den Tisch ziehen lassen. Otto war leicht zu betrügen. Er war nun mal ein lieber Kerl und verstand nichts von geschäftlichen Verhandlungen. Aber dennoch war er der beliebteste Junggeselle im Ort. Er genoss ein sehr angenehmes Leben und hatte eine Menge Freunde in Kleinheroldsheim. Ach ja... und Otto hatte im Lotto gewonnen!