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Alle Jahre wieder

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09.06.2006
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Alle Jahre wieder

Alle Jahre wieder sitze ich vor dem hübsch dekorierten Weihnachtsbaum und schlürfe meinen heißen, leckeren Kaffee. Es ist die Zeit der Liebe, der Geburt Christi, alles singt, alles lacht. Sämtliche Fenster sind bunt ausgeleuchtet und jeder noch so unschuldige Baum ist behängt mit allerhand glitzernden Ketten und Kugeln. Es duftet nach Zimt und Kerzen.
Die Sonne ist untergegangen, Zeit für die Bescherung. Die Päckchen ruhen friedlich unter den Ästen, liebvoll verpackt warten sie auf freudige Hände, die nach ihnen greifen. Als ich den Boden der Tasse sehen kann, stelle ich sie beiseite und reibe mir in Gedanken die Hände. In den Geschenken steckt mein Herzblut. Ich hoffe sie werden nicht enttäuscht sein. Ich läute traditionell die kleine, goldene Klingel.
Die Kinder sind die ersten, die übermütig ins Zimmer stürzen und sich unter den Tannenbaum werfen. Ruhig bleibe ich sitzen, genieße die Begeisterung der Kleinen. Danach kommen auch die Erwachsenen angetrabt. Mit einem Lachen im Gesicht beugt sich meine Exfrau zu mir hinunter und drückt mich herzlich.
„Ist das nicht schön?,“ sagt sie.
Fragend sehe ich sie an. „Was meinst du?“
„Na, die ganze Familie glücklich vereint. Die lächerlichen Streitigkeiten des vergangenen Jahres sind für einen Abend vergeben und vergessen.“
„Ja, unersetzbar. Für dich habe ich auch etwas.“ Ich deute auf den Wust aus Geschenkpapierfetzen, den die Kinder unter dem Baum angerichtet haben. „Muss irgendwo da sein.“
„Danke.“ Sie gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und geht zu den Geschenken.
„Gern geschehen,“ murmle ich ihr leise hinterher.
Ebenso begrüßen mich meine Eltern. „Fröhliche Weihnachten, Sohnemann. Deine Frau ist ja auch gekommen.“
„Exfrau,“ berichtige ich meinen Vater.
„Ja, stimmt.“ Der alte Mann schnappt sich sein Präsent und gesellt sich zu denen, die ihre schon aufgelesen haben.
„Total senil, der Kerl. Wäre ich nicht, würde er irgendwann seinen Kopf vergessen,“ bemerkt meine Mutter schmunzelnd und tut es ihrem Mann gleich.
Bald darauf sitzt die ganze Familie und viele Bekannte, wie jedes Jahr um diese Zeit, in der Sofaecke im Kreis und wartet darauf, die Päckchen endlich öffnen zu dürfen.
Zuerst jedoch meine obligatorischen Weihnachtsworte: „Es freut mich, dass ihr es alle zu mir geschafft habt. Ich weiß nicht, wie mein Leben ohne Weihnachten aussähe. Und jetzt,“ ich lege eine kurze rhetorische Pause ein. Mein Publikum starrt mich gespannt an. Ich lächle. „Viel Spaß mit euren Geschenken.“
Papier zerreißt, wird achtlos weggeworfen. Prahlend wird vermeintlichen Konkurrenten die Beute unter die Nase gehalten.
Zuerst ist meine Exfrau dran. „Ui, toll, schaut mal: Ich habe seine Selbstachtung bekommen,“ ruft sie begeistert.
Meine Eltern schwingen glücklich meine Selbstständigkeit durch die Gegend.
Die Kinder streiten sich um mein Pflichtbewusstsein, sogar mein nicht existierender Bruder stolziert mit meinem Sozialgefühl an mir vorbei.
Immer mehr Leute fühlen sich dazu verleitet mitzuziehen, Leute die eigentlich nicht auf meiner Weihnachtsfeier sein sollten: Mein Chef zieht mit meinem Ehrgefühl von dannen, mein Armeeausbilder mit meinem Selbstvertrauen. Die Liste nimmt kein Ende.
Während ich dem Treiben zusehen muss, festgekettet an meinen Stuhl, unfähig einzugreifen, schmilzt mein Lächeln wie der Schneemann im Garten. Es wird Frühling und noch immer sitze ich alleine vor meinem verdorrten Tannenbaum. Die braunen Nadeln stehen mir schon bis an die Knöchel.

 

Hallo Psyco,

nette, kleine, groteske Miniatur. Zuerst dachte ich schon oh je, oh je ...

Mit dem Schluss hadere ich etwas ... wer war letztendlich echt und wer virtuell? Gibt es die Kinder, die Exfrau, die Eltern noch?

Die letzten beiden Sätze wirken wie eine Pointe, diese bleibt mir aber nach der grotesken Vorgeschichte unverständlich.

Die Idee mit den (unfreiwilligen) Geschenken ist gut.

LG,

N

Textkram:

der Geburt Christus’

besser: der Geburt Christi

 

Hi Nicole,

Danke, dass du dir meine Geschichte durchgelesen und dir die Mühe gemacht hast zu antworten.

Mein Vorhaben war es eigentlich, das Auftreten der Gäste so rüberzubringen, dass man nicht weiß, ob oder welche Personen anwesend sind. Das ist mir scheinbar recht gut gelungen, jedoch nicht besonders angekommen.

Psyco

 

Hi Psyco,

also ich fand vor alle den Schluss gut, die Idee mit diesen ideellen "Geschenken". Sie gibt sehr viel her, die könnte man ausbauen zu ner ganzen Erzählung, einer philosophischen

Gruß
Bacardi

 

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