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All-Tag
„Ey!“, riefen sie, „Fette Kröte, Priva!“ Der hob die Arme wie ein Marathonläufer, der gerade das erste Mal durchs Ziel läuft: todmüde und sauglücklich. „Ich bin auch todmüde und sauglücklich, habe aber schon das nächste Ziel im Visier: aus dem gemachten Nest flüchten! Das wird der Coup des Jahres", brüllte er ihnen entgegen, was naturgemäß niemand verstand, weswegen Privas Gedanken die Richtung wechselten: „ Stehen die Nuttenkinder wieder faul in der Gegend rum. Und für Kruppzeug wie euch geh ich arbeiten.“
Er grüßte die einen per Handschlag, die anderen mit Kopfnicken, manche übersah Priva absichtlich und die taten, als hätten sie das übersehen. Nach dem kleinen großen Hallo nahm er einen Rucksack von der Bank, um sich dahinzusetzen. Als wäre der Rucksack mit einem Stolperdraht gesichert oder als wäre darin alles, was ihm lieb und teuer und übrig geblieben war auf dieser Welt, kam sofort nach Hochnehmen des Rucksacks ein Typ angelaufen, schmutzigblonder Bart und rissige Weißhaut, und fragte mit leichtem Kieksen in der Stimme, was Priva mit dem Rucksack machen wolle. „Den wegnehmen, um da zu sitzen“, kommentierte der seine Handlung und dankte dem Herrn, dass ihm ein so großes Herz mitgegeben worden war. „Gib den sofort her“, sagte der abgerissene, aufgebrachte Penner und Priva gab den sofort her. „Wollte den nicht behalten, keine Sorge, kannst dich wieder abregen.“ Tat der aber nicht, sondern fing an von wegen sich korrekt zu verhalten und dass das nicht gehe, einfach irgendwo dazukommen und am Rucksack rummachen. Priva dachte, dass eher das Gegenteil der Fall ist und es fast überall völlig unproblematisch ist, sich irgendwo hinzusetzen und einen Rucksack beiseite zu stellen, sagte aber nichts, blickte den Dröhner nur kurz an und setzte sich auf die jetzt freie Bank. Der andere stand weiter vor ihm und machte sich Luft. „Jetzt reiß dich mal zusammen“, sagte Priva drei Sätze später, „ich hab heute frei und werde meinen Tag bestimmt nicht damit beginnen, bei dir Trauerarbeit zu leisten."
"Trauerarbeit?", fragte der Typ.
"So wie du Schwuchtel hier rumningelst", sagte Priva.
„Die Schwuchtel!“, sekundierte Maksym und die Runde lachte und der Typ hielt die Fresse und ging ein paar Schritte zurück mit dem Rucksack in der Hand, kuckte noch verbissen, bis sich seine Kauleiste in ein schmieriges Grinsen auflöste, das im feuchten Boden versickerte.
Tea vertickte gerade die letzten Subutex und fragte, ob Priva noch welche habe, der schüttelte den Kopf und sagte, dass nun Schluss sei, er habe frei und gerade keinen Bock mehr auf nen Zweitjob mit so hohem Organisationsaufwand. „Der Markt ist offen und das Bett gemacht. Digger! Biste Käufer oder Ticker?“
„Beides“, sagte Maksym.
Priva musste erst mal verdauen, dass ihm jemand tatsächlich zugehört und geantwortet hatte, nickte dann, stolz auf sich, auf eine Reaktion angemessen zu reagieren „zugegeben. Trotzdem liegt es jetzt an euch. Wer will sich ins gemachte Nest setzen. Ich verkaufe meinen Kontakt in Berlin für 500, istn Schnäppchen. Mein Ali ist der einzige, den ich in monatelanger Suche finden konnte, der in Berlin wenigstens mittlere Mengen am Start hat.“
Keiner reagierte. Die meisten hatten ihn auch gar nicht gehört. Alles andere hätte ihn auch gewundert, aber er wollte das mal gesagt haben. Priva tauchte in sich selbst zurück, ließ seine Gedanken mit den Gesprächsflüssen der Umgebung mitschwimmen, hörte davon, wie sie über Butterpreise sprachen und dass die im Kaufland jetzt zwei Euro kostete. Ein anderer warf ein, dass er letztens gesehen habe, wie einer zwölf Stück Butter mitgenommen habe, und Priva fiel wieder auf, dass dem zu jedem Gesprächsthema eine eigene Geschichte einfiel, in der er die Hauptrolle spielte als Akteur oder scharfer Beobachter. Manchen fliegen die Stories halt einfach so zu, dachte er und hörte, wie der zugehackte Skin sagte, dass man nur handelsüblichen Mengen der Butter mitnehmen dürfe. „Und nicht in szenetypischer Stückelung!“, unterbrach Priva ihn laut. Keiner lachte und es fing an zu nieseln. „Aber von dir“, sagte er dann, stand auf und ging zu König rüber, „haste Braunes?“. Der nickte und holte seine Dose raus und kramte vollgekritzelte Briefchen hervor, „hier ist ein Plus drauf“, sagte er, „da ist das richtig Gute drin“, und er fummelte mit seinen fetten Fingern am Briefchen rum und versuchte es zu öffnen und erzählte zwischendurch, was er alles in welchen Geschmackssorten und Härtegraden hatte und Priva zog Grimassen und kommentierte die Geschichten mit seiner Mimik und jetzt lachten alle, aber König war so beschäftigt mit seiner Marketingkampagne, dass er nicht bemerkte, dass sein Kunde aus dem Verkaufsgespräch gefallen war. „Du bist jetzt das erste Mal bei mir, deswegen kriegste für 10 das, wo 15 draufsteht und eine Plus.“ Frickelte drei Briefchen auf, wobei er sich fast die Finger brach, was verdammt lange dauerte, bestimmt zwanzig Sekunden, in denen Priva unruhig warten musste und diesen Snacker verfluchte und an das Gedicht von Brecht denken musste, wo der unruhig auf den Reifenwechsel wartete, obwohl er da, wo er herkam, nicht sein wollte, und dort, wo er hingefahren wurde, nicht hin will. König zeigte endlich Inhalte. Szenetypische Stückelungen des hell- bis dunkelbraunen Pulvers. Priva nickte. „Halt mehr oder weniger Manithol, ja. Ist gut. Gib her jetzt.“
König reichte ihm das rüber und gab noch mit auf den Weg, dass er wenigstens eine kleine Nase ziehen solle, das rieche wie in den Neunzigern, und ob er noch C wolle, das könne er auch auf dem Blech laufen lassen. Dafür dass der meinte, ich kaufe das erste Mal bei ihm, scheint der mich aber gut zu kennen, dachte Priva und hatte König kurz in unbestimmtem Verdacht, bis er sich selbst verdächtig wurde und er den Verdacht gegen König in einen Verdacht gegen sich umprägte und dann aber die ganze Scheiße abhakte und schlicht als weiteres Indiz für Paranoia im Anfangsstadium verbuchte, was okay war, die hatte er sich verdient.
„Nee, kein C. Ich nüchtere gerade aus. Momentan nur Heroin.“ Und wieder lachten die Bastarde. König sprach noch davon, vielleicht noch H und D auf die Päcken zu schreiben, damit er wisse, wo das helle und wo das dunkle Pulver drin sei. Priva lachte nur, grüßte in die Runde, latschte mit Schmackes in eine schlammige Pfütze, ignorierte den ständigen Warnruf seiner Kollegen, „Schnürsenkel!“, nahm billigend in Kauf, dass seine Schnürsenkel durch den Matsch schleifen, legte sich die Hörer wieder auf die Ohren, tippte auf Play und hörte weiter rock on von den Beginnern, erinnerte sich an sein Leben vor 18 Jahren, als er morgens auf dem stets schwankenden Weg zum Schulbus dieses Lied gehört hatte, nachdem der morgendliche Bongblast mit Vollgas in den Kopf gerauscht war, und dass er dieses Album seitdem tatsächlich mittlerweile tausende Male gehört haben musste, aber ihm erst letzte Woche aufgefallen war, dass Denyo davon rappte, sein Geld in die Beginner zu investieren, nicht in die Gewinner, wie er das so ungefähr die letzten zwanzig jahre lang verstanden hatte.
Auf dem Weg zurück vom Knochenpark dachte Priva an Omar von The Wire und dass der eigentliche Rausch darin bestand, sich diese Umwelt zurechtzuschnitzen, sich in diesem feindlichen Milljöh durchzusetzen, und dann erst zu gehen, auch wenn alles in einem ruft, das nicht zu tun. "Er hat sich ganz ganz dolle gewünscht, der sympathischste Heroinhändler der Stadt zu werden und wir freuen uns, ihm jetzt zu seinem Nummer-1-Move gratulieren zu können: ein ganz großer Applaus für Priva, der sich ganz ganz fest vorgenommen hat, aus dem Nest zu fallen, in dem so viel harte Arbeit steckt, was wahrscheinlich nie jemand angemessen würdigen können wird", kommentierte seine innere Showmasterin.
Bis jetzt hatte er alle Teile seines Plans umgesetzt, sich in den belly of the beast abgeseilt und war mit dem Monster mitgereist, wie Jonas oder Jason im Wal. Der Wal ist bekanntermaßen eine Metapher, wie der Bus, aber die Metapher ist gleichfalls ein Bus oder ein Wal, die andere Möglichkeiten der Fortbewegung bieten. Zu manchen abgelegenen Gegenden führen nur wenige Wege, die schwerer zu bereisen sind, was wahrscheinlich der Grund ist, weswegen sie noch immer abgelegen sind.
Wieder alles aus dem Nichts aufgebaut, organisiert und hingekriegt und Geld verdient und verprasst. Schulden aus den letzten zwei Jahren getilgt, die sich angesammelt hatten, als er einen Ort zum Leben suchte und haltlos durch die Zeitgeschichte tingelte, immer wieder gegen die Seile taumelte und nicht zu Boden ging, immer wieder zu Boden ging und immer wieder aufstand, immer wieder KO ging und weiterkrabbelte, bis er wieder OK war.
Sieben Wohnungen und drei Städte in den letzten zwei Jahren, resümierte Priva. Was wahr war, aber sich mittlerweile schon wieder so weit weg anfühlte, dass man die Realität dieser Erinnerungen bezweifeln könnte.
An der Haltestelle Koehlerstraße kam ein Punker mit Kötern auf ihn zu. Wie immer bei Sichtkontakt, seitdem das erste Mal gefaltetes Kleingeld im Klingelbecher gelandet war. „Ein letztes Mal auf dicke Hose machen, bevor ich wieder ins geldwertschätzende Denken zurückfinde“, sagte Priva und faltete einen Fünfer.
Boah nee Mann, das sei jammerschade, sagte der Punk, aber er habe diese Lebensphase gern begleitet und wäre auch beeindruckt gewesen und habe sich noch Stunden später in nächtlichen Stunden bisweilen fragen müssen, was es mit diesem Priva nur auf sich habe. Der täuschte einen linken Haken an, knuffte dann aber doch mit ner rechten Geraden die rechte Schulter des Punks, spielte seine Rolle ordnungsgemäß und wie vorgesehen zu Ende. Die Köter kläfften, der Punker lachte wie über einen gelungenen Scherz, drückte in vielen Worten seine Dankbarkeit aus, wozu Priva sein ernstes Das-ist-doch-nicht-nötig-Gesicht anzog, ohne die er aber nie wieder auch nur einen verdammten Pfennig in des Punkers Becher klingeln ließe.
Die Bahn kam, Priva stieg ein. Wie immer kuckten ihn die Menschen an wie eine Erscheinung, eine Frau beobachtete ihn in der Spiegelung der Scheibe. Kann sein, dachte er, kann sein. Priva suchte sich einen Platz, zog das Buch des Schreibkollegen raus, der im Gegensatz zu ihm was auf die Kette kriegte und übte sich lesend in neidfreier Mitfreude, was er vor Jahren bei Polylove gelernt und noch nie gekonnt hatte.
Er konnte sich gerade ohnehin nicht aufs Buch konzentrieren oder auf irgendwas außerhalb seiner Selbst. Überlegte, dass er gestern Karl das letzte Mal dieses Jahr eingeladen hatte und gesagt, dass er künftig nurmehr vom Gehalt leben wolle, sonst werde er das kräftemäßig nicht hinkriegen auf Dauer und wie Karl genickt hatte beim Inder im Hauptbahnhof und Priva auslachte und meinte, er solle ruhig mal die anderen wieder zahlen lassen, und dass er gespannt sei auf Privas nächste Gestaltwandlung. Über Fettliebe, Verlagsgründung und Karls neueste Oper, die diesmal für noch nen Tausender mehr nach Esslingen verkauft worden war, hatten sie nicht geredet. „Kuck mal, die Rache des Patriarchats“, hatte Karl mittenrein gesagt und auf die Werbung für Sultan gezeigt, dutzende Ausschnitte des Films: wie Sultan mit Hanteln ein paar Boxbewegungen übt, Traktoren zieht, sich mit einer Frau ins Maisfeld legt, der nächsten die teure Bluse aufknöpft, einen Gegner im Käfig niederschlägt, tanzt und singt und all das immer wieder aufs Neue in variierten Bildern. Priva hatte gefragt, ob Karl jetzt ne Antwort erwarte oder er auch was ganz anderes sagen könnte. Karl hatte leicht lächelnd genickt und gemeint, dass es Priva wahrscheinlich auch einfach schwerer falle, sein Geld zu verprassen, wenn es wieder stundenweise verdient werden musste und Sozialabgaben und Steuern abgezogen werden. „Meinst du“, hatte Priva geantwortet, „wo hast du das denn aufgeschnappt?“
Und Karl hatte gelächelt und genickt und Priva spürte Liebe in sich aufsteigen, die wie eine Welle allen Ärger fortspülte und er freute sich sekundenlang einfach nur. In der ersten Welt zu leben als überprivilegierter Egomane, von Mama geliebt, vom Vater gefürchtet. Dass sie ziemlich exakt das Leben lebten, was sie immer gewollt hatten. Was angesichts ihrer Vorstellungen schon für die Offenheit und Toleranz und Freiheitlichkeit ihrer Gesellschaft sprach, „wenn Freaks wie wir nicht in KZ’s gesperrt werden, sondern bezahlte Beschäftigung über dem Subsistenzlohn finden.“ Karl schielte aus dem Augenwinkel zu Priva und fragte, ob er mit ihm geredet habe. Der räumte ihr Geschirr zusammen, nickte und sagte, „haben wir das jetzt auch“, ging zum Bezahlen, gab keinen Zehner Trinkgeld, weil er die Bedienung unfreundlich fand, wie beim Asiaten nebenan, und redete sich gut zu, sich darüber mal nicht aufzuregen. „Wärest du freundlich, wenn du dir den ganzen Tag in so nem Imbiss die Beine in den Bauch stehen würdest, für kleines Geld den besten Teil des Tages vom Boss gehetzt wirst und du vielleicht noch zu jedem Kunden höflich sein musst, egal, wie eklig der ist?“
Priva überschlug, was noch da war. Vom Umsatz des letzten Monats war kaum mehr was übrig, nach Schuldendienst, und Netbookkauf zum Schreiben, und Lokalrunden ohne Ende, und ein paar Tausendern im Stash, und Flugtickets nach Peru, und so ungefähr zwanzig kleinen Scheinen, die in den Bechern von Verkäufern von Kippe oder Straßenfeger oder Hinz & Kunzt gelandet waren, manchmal auch in den für-Gras-Becher der Punkermeute am Hauptbahnhof, aber Priva bevorzugte die Straßenzeitungsverkäufer, ohne zu ahnen wieso, ohne sich deswegen zu befragen.
Am Augustusplatz, drei Haltestellen weiter, ging er hinunter die drei Stufen des alten Straßenbahnwagens – Tatra hießen die, meinte jemand vor kurzem und dass sie ausgewechselt werden sollen, weil sie zu schwer seien und die Schienen beschädigten – und sah sich auf dem Weihnachtsmarkt um. Erinnerte sich an das Foto des Nazis, mit dem zusammen sie heckweise Gras verkauft hatten im Sommer, der sich grinsend vor einem Glühweinstand hat fotografieren lassen, unter dem Schild „Bitte rechts anstellen.“ Die Fettliebe-Praktikantin hatte zurecht darauf verwiesen, dass mensch mit Nasen nicht rumhängen darf, aber Priva suchte ja keine Freundschaft, sondern nur die Nähe der kommenden Mehrheitsmeinung. Der Kardinal hatte ihm das Foto gezeigt, und sie beide mussten lachen, als sie sahen, dass sie so einen genügsamen Freund des witzigen Gedankens hatten. „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“, summte Priva, schlenderte an Schienen entlang, schrieb eine SMS an Miri, die in Essen bei ihren Eltern war, eigentlich Mara hieß und gerade ein Buch von Siri Hustvedt las. Fotos von sich und der Landschaft ohne Wölfe postete, und Priva fiel das erste Mal auf, dass Wölfe dabei waren, die neuen Einhörner zu werden, und dass es nur natürlich war, sich doll zu wünschen, einen Wolf zu sehen. Er kannte aber auch die Gefahr und wusste, man muss vorsichtig sein und weiß trotzdem nie, welcher Wolfsdarsteller sich am Ende als Schaf herausstellt. Die Redaktion ließ ganze Wolfsherden steckbrieflich suchen.
Miri hatte auf Facebook aus Siri zitiert, mit einem Foto des Buchs, das sie locker im Schoß hielt, von wo aus ihre langen Beine in den Nylonstrümpfen bis zum Fußboden reichten. Das war ja ein öffentliches Posting und also an niemanden adressiert, aber Priva wusste, dass sie ihn meinte und reagierte also nicht darauf.
Und er fragte sich mal wieder, als er an der Ampel wartete, die den Verkehr zwischen Johannisplatz und Augustusplatz teilte, wie sich verrückt werden anfühlen könnte, was Nietzsche in den letzten Stunden gedacht und gefühlt haben mag, und dass ihm mitunter mit Grund vor kurzem aufgefallen war, dass das, was er so vor sich herbrabbelte, sich immer wieder nach gefährlicher Nähe zum Beziehungswahn anfühlte, und es auch einen Spezialisten gäbe, der ihm diesen Stempel aufdrücken würde, wenn er kein funktionierender Irrer wäre, und dass das vielleicht sein Schicksal ist, falls es eines gibt.