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All I wanted was a vacation. All I got was a Coup d` État.

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11.11.2003
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All I wanted was a vacation. All I got was a Coup d` État.

Coup d` État.

Coup d` État.

„Wäre ich doch ein Fisch in einer Rakiflasche“.
Orhan Veli

Als ich in Istanbul landete roch die Stadt nach leeren Bäuchen und schlechter Laune. Der Typ an der Passkontrolle sah kurz auf meinen Ausweis, würdigte mich aber kaum eines Blickes. Mein Zeug kam nach kurzer Zeit aus den Eingeweiden des Flughafens gekrochen und die Kerle am Zoll wollten sich auch nicht so recht mit mir beschäftigen: Kein neugieriges Betasten meines Insulinpens, keine skeptischen Blicke auf meine Insulinpatronen. Ich war überrascht und zugegeben auch etwas beleidigt, weil ich unerwartet problemlos ins Land einreisen konnte. Niemand hier schien mir einen terroristischen Angriff zuzutrauen, nur einen Tag nach dem Attentat auf den Flughafen Atatürk.

Auf der Fahrt vom Flughafen Sabiha Gökcen nach Kuzguncuk, stank es im Taxi dermaßen nach Nikotin, dass mir nicht einfiel zu fragen ob es in Ordnung wäre, wenn ich mir eine Zigarette anzünden würde. Natürlich war es das nicht. Aber wen sollte das scheren, in einer solch schwülen Nacht in dieser verwundeten Stadt, in diesem zugemüllten Taxi? Ich zündete mir eine Kippe an, fragte erst gar nicht. Der unrasierte Fahrer mit den dunklen Ringen unter seinen Augen hielt sich sicher nicht an das Fastengebot, so wie er weder rote Ampeln, andere Verkehrsteilnehmer oder Geschwindigkeitsbegrenzungen achtete. Am Mahlen seines Kiefers konnte ich erkennen, dass vermutlich Speed eher sein Ding war. Endlich wieder so eine Fahrt, dachte ich mir und begab mich in die Hände des Schicksals. Erst so fühlte ich mich, zugegeben lächerlich, frei. So holte ich mir den ersten Kick in Istanbul ab. Das gibt es in Deutschland nicht mehr: Taxen, die von Menschen gesteuert werden, denen weder ihr eigenes noch das Leben ihrer Passagiere auch nur einen Cent wert sind. Die Kunst besteht darin, solche Fahrten zu genießen ohne durch sie umzukommen. Darin bin ich gut, natürlich nur solange ich nicht durch sie umkomme. Wir sind nichts, das Schicksal ist alles, man kann allenfalls etwas an den Wahrscheinlichkeiten drehen. Daran sollte ich im Istanbul dieser Tage noch erinnert werden: Dass die Umstände, die in einem Augenblick friedlich gesonnen aus schlummernden Augenschlitzen harmlos daher blicken, uns im nächsten Moment mit ihren scharfen Zähnen vollkommen humorlos zerreißen können. Allerdings ist es eben diese Illusion, dass wir unser Leben fest in der eigenen Hand halten, dass wir unsere Zukunft über den Moment hinaus selber gestalten können, die uns am Leben festhalten lässt. Uns davon abhält, dass wir uns nicht einfach den Schädel wegblasen. Ich genoss die irre Fahrt durch dieses scheinbar dösende Raubtier.

Ich wollte die Mischung aus Tränengas und familiärer Liebe aufnehmen und die Spannungen in der Stadt spüren. Ich wollte teilhaben am Wahnsinn, dem sich diese Stadt in den letzten 15 Jahren unter dem Regime eines Präsidenten Erdogan - von dem ich nicht sicher bin ob er einen Schatten wirft oder ein Spiegelbild hat - und seines Clans voll schräger Zirkusfreaks zunehmend hatte hingegeben müssen. Ich vermisste die traditionelle türkische Küche und nächtelange Rakigelage. Den derben Humor und die würzigen Flüche der Istanbulaner. Die weißen Bosporusfähren und die bunten Gewänder der Romafrauen die Blumensträuße verkaufen. Istanbul ist eine Ansammlung von diversen Mikrokosmen, jede Straße ist ein anderes Land, jeder Stadtteil ein anderer Kontinent mit anderen Sitten und Bräuchen, und dass macht diese Stadt so liebenswert und überaus dramatisch. Ich hatte auch gespürt, dass Maja einige Tage Abstand von mir brauchte.

In Kuzguncuk besitze ich gemeinsam mit meinem Bruder auf der Icadiye Caddesi, die gesäumt ist von mächtigen Bäumen, feingliedrigen Moscheen, orthodoxen Kirchen und einer jüdischen Synagoge, eine Wohnung. Auf einer Straße, auf der sich ein verspieltes Café neben dem anderen reiht. Vor denen die Menschen bis spät in die Nacht die Zeit totschlagen. Tavla spielen, dummes Zeug erzählen, und Geschäfte machen. Dort wo sich das Läuten der Kirchenglocken mit dem Gesang des Muezzins mischt, der Fisch fangfrisch auf deinem Teller landet, die Kinder im Sommer bis zwei Uhr nachts auf den Spielplätzen spielen, im öffentlichen Stadtgarten Il Postino mit Phillipe Noiret gezeigt wird, sich Brautpaare zum Fotografieren ihrer Hochzeitsfotos hinbegeben, einst der große Dichter Can Yücel wüst vor sich hin schimpfend im Bademantel barfuß und sturzbesoffen durch den Stadtteil tobte und man noch gelegentlich das Sephardische hört, da wohnen wir in Istanbul. Oder vielmehr bewohnt uns dort das reichhaltige, das bunte, das reizende Istanbul selbst, wenn uns Deutschland aus dem Halse hängt. An einem der alten und aufwendig restaurierten Holzhäuser aus osmanischer Zeit hängt an der kunstvoll geschnitzten Tür ein mit der Hand geschriebener Zettel: Brautpaare die hier vor unserer Haustür fotografiert werden, lassen sich scheiden!

Nach zwei Wochen in Istanbul sollte es mit Maja nach Olympos beziehungsweise nach Cirali gehen. In das vor Geschichte trotzende Land der Carreta Carettas, der vom Aussterben bedrohten Mittelmeerschildkröte. Cirali liegt etwa zwei Stunden westlich von Antalya. Dort wollten wir unter Zitrusbäumen und wilden Lorbeersträuchern am smaragdgrünen Meer und im Schatten Lykischer Hinterlassenschaften die halbvolle Beziehung wieder auftanken. Wie einfach ist doch das Leben einer Schildkröte. Man trifft sich nur zum Sex. Danach trennen sich die Wege.

Obwohl ich kaum noch die Augen offenhalten konnte strömte augenblicklich Adrenalin durch meine Adern als ich den Bosporus erblickte, auf dem die Fähren und Tanker, Containerschiffe und Jachten elegant hinweg glitten. Ich war plötzlich hellwach und es erging mir als würde ich eine alte Liebe wiedersehen von der ich mich nie hatte lösen können. Einem trockenen Alkoholiker gleichend, dem man ein eiskaltes Glas Raki serviert, wanderten meine Blicke gierig umher.
„Was sind das für Muslime“, dröhnte Recep Tayip Erdogan mit der unangenehmen Stimme eines strengen Vaters, der seine ungezogenen Kinder - nur zu ihrem Besten – schlägt, aus dem Autoradio. „Sie haben sich mit dieser Tat keinen Platz im Cennet, sondern in der Hölle reserviert.“ Es sind deine Kinder, Tayip, dachte ich, Kinder von deinem Schlag. Der Staatspräsident, der mich ein wenig an den großen Bruder aus Orwells 1984 erinnert, ist omnipräsent. Ob im Fernsehen, auf Plakaten, in den Zeitungen oder im Radio. Immer wieder neue Bündnisse eingehend, die sich wiedersprechen, herrscht der türkische Präsident dadurch, dass er weite Teile der Gesellschaft gegeneinander aufhetzt. Aus dem Mund eines Präsidenten, welcher Gestern noch Waffen zum Islamischen Staat nach Syrien liefern ließ, um diese Terrororganisation heute öffentlich zu beleidigen, weil sie offensichtlich doch nicht ganz so tickt wie er sich das wünscht und ihnen jetzt den Kampf ankündigte, klang diese Empörung über den Islamischen Staat wie ein Hohn. Der Fahrer blickte kurz zu mir rüber und fluchte „Du sollst zur Hölle fahren, Erdogan. "Verfick dich“. Er wusste sofort als er mich sah, dass er mit solchen Flüchen bei mir nichts zu befürchten hatte. In diesem Moment fühlte ich eine gewisse Vertrautheit mit ihm. Der Deutschländer auf Türkeiurlaub und der lebensverachtende türkische Taxifahrer vereint in ihrer Geringschätzung dem türkischen Staatspräsidenten gegenüber. In der Türkei erkennst du die Menschen und ihre innere Haltung immer noch an ihrem Aufzug, dem Bart oder der Art das Kopftuch zu tragen und manchmal einfach an ihren Blicken. Als ich mein Handy einschalten wollte seufzte ich, weil der Akku leer war. Der Fahrer erstaunte mich mit der Bemerkung "Bruder, das Leben ist voller Verheißungen, die uns immer nur enttäuschen. Bald erreichen wir den Mars, aber der erste Satz den wir hören werden wird sein: Houston, unser Akku ist leer". Dann zündete er sich auch eine Kippe an.

Im Treppenhaus fiel mir die Flasche Famous Grouse, die ich am Flughafen gekauft hatte aus der Hand und zerplatze. Ich wischte den Scotch halbherzig mit Handtüchern auf in der Hoffnung, dass der Geruch nach Kneipe am nächsten Morgen verschwunden sein würde, und hasste mich für dieses Missgeschick. Frohes Ramazan und Cheers Tayyip, dachte ich, und schlief auf dem Sofa zum Gesang des Muezzins ein. Ich hatte schließlich noch eine halbe Flasche Istanblue Wodka im Kühlschrank gefunden, denjenigen, der diese Flasche hinterlassen hatte, gepriesen und sie, während ich aus dem Fenster schaute, den Bäckern gegenüber zusah, den Möwen lauschte und die Sommernacht genoss, ausgetrunken. Schließlich kam ich aus einer Familie veritabler Trinker, und musste einiges verdrängen.

Maja sollte in 10 Tagen nachkommen, also verbrachte ich meine Tage derweil damit, mich ziellos durch die Stadt treiben zu lassen. Endlich keine Pläne mehr, keine Deadlines, keine Verträge, keine verregneten ostwestfälischen Nachmittage. Keine Ausreden. Keine Lügen. Keine peinlichen Geständnisse. Ich unternahm Ausflüge in die nähere Umgebung und besuchte gelegentlich Verwandte, die ich lange nicht gesehen hatte. Trank viel Tee. Aß viel Börek. Staunte über die zahlreichen Veränderungen in Kuzguncuk. Ich pflückte Feigen, streunte auf Friedhöfen, las Bücher von Ray Bradbury, und die Dissertation meines Bruders. Manchmal fuhr ich einfach auf die europäische Seite der Stadt, nur um mit der Fähre fahren zu können und in Eminönü auf den Stufen der Yeni Cami ein Fischbrot zu Mittag zu essen.

Die Abwesenheit westlicher Touristen, die verunsichert von dem im Osten des Landes wieder aufgeflammten Konflikt mit kurdischen Separatisten, der rasenden Schlachterei im Nachbarland Syrien, den Attentaten seitens des IS und der diktatorischen Politik eines Erdogans wegblieben waren und dem Tourismus in der Türkei einen Kinnhaken versetzt hatten, fiel sofort ins Auge. Touristen sind immer Opportunisten und schätzen keine unangenehmen Überraschungen. Auffällig war auch die massive Präsenz von schwer bewaffneten, hochgerüsteten Robocops an den zentralen Punkten der Stadt. Istanbul hatte sich in einen Polizeistaat mit annähernd der doppelten Einwohnerzahl Griechenlands und einer Menge neuer Einwohner gewandelt. In erster Linie Syrer.

Bei meinen abendlichen Spaziergängen wurde ich von meinem Cousin Selcuk begleitet. Selcuk ist Angestellter einer Firma für die er Kritiken zu Online Spielen und E-Sports schreibt, Nachrichten aus diesem Bereich aufbereitet und die Online Performance der Firma auf verschiedenen sozialen Netzwerken betreut. Wir liefen durch die windschiefen Straßen oder saßen in Rooftop Bars über der Stadt, während ich ihn über dieses für mich vollkommen unbekannte Genre ausquetschte. Er erzählte mir vieles über die Verquickungen der Spieleindustrie und dem Militär. Dass das Militär die besten Spieler observierte und für ihre eigenen Zwecke zu rekrutierten suchte und mit Investitionen die inhaltliche Ausrichtung dieser Spiele in ihrem Sinne beeinflusste. Dass in der Türkei zuletzt Spiele aufgetaucht waren, die von Irakischen Aufständischen entwickelt und von erstaunlich guter Qualität waren. Depressive, hoffnungslose Rollenspiele, in denen die Spieler zunächst die Rolle von Kindern einnahmen, welche Steine gegen die amerikanischen Besatzer warfen, sich dann weiter entwickelten zu Rebellen, die als Sniper oder mit der Panzerfaust in der Hand gegen die Amerikaner kämpften, um am Ende des Spiels in diesem Kampf als Selbstmordattentäter zu sterben. Ziel war es immer, US Soldaten zu töten und dabei sein eigenes Leben zu lassen. Selbst im Spielerischen lockte für sie nur das Jenseitige. “Allah gibt und Allah nimmt” sagte Selcuk und schnalzte hintergründig mit der Zunge. „Und du hast Maja wirklich betrogen?“ fragte Selcuk. „Sie weiß es“, hatte ich geantwortet.

Eines Abends besuchte ich Selcuk in Aksaray, einem Stadtteil in Istanbul, in dem die meisten syrischen Flüchtlinge in der Stadt Zuflucht finden. Kaum jemand spricht dort die Landessprache, nahezu alle Aushänge, Schilder und Plakate sind in arabischer Schrift verfasst. In Aksaray hat man nicht mehr das Gefühl, sich in der modernen Türkei zu befinden. Stattdessen wähnt man sich in den Kulissen einer Szene der US-amerikanischen Serie Homeland die sich in Damaskus, Beirut oder Teheran abspielen könnte. Auf einem Platz unweit der Wohnung meiner Tante werden Schwimmwesten für die Überfahrt nach Europa verkauft. Wie mein Cousin bemerkte, waren diese Westen eher mit Schwämmen oder Papier gefüllt als mit Polystyrol. Während er das erzählte, lachten seine asiatisch anmutenden Augen dieses für ihn typische, fatalistische, zynische Lachen. Kaum drei Straßen weiter hatten die Selbstmordattentäter vom Flughafen Atatürk gewohnt und eifrig an ihren Bomben gebastelt, während sie gottesfürchtig Ayran getrunken und Oliven gegessen hatten. Ich wurde Zeuge einer Schlägerei, ehe die Polizei eingriff und sich als der bessere Schläger entpuppte. Die Kombination aus Hitze, Überlebenskampf und Fasten an langen Sommertagen erzeugt wirklich nichts Gutes im Menschen. Aksaray ist eine der wichtigsten Etappen auf der Flucht vom mittleren Osten nach Europa. Oder wenn es schlecht läuft, einer Reise in den Tod. Und dann stand ich nun in der Tür eines Friseurs, die Sonnenbrille aufgesetzt und diese Prügelei vor meiner Nase. Und allein mit dem Gedanken, dass ich in einem Land lebe, welches mitverantwortlich dafür ist, dass einige dieser Menschen ertrinken werden. Und dass ich uns das an ihrer Stelle nicht verzeihen würde. Menschen verzeihen sehr schwer.

Es waren heiße Nächte, die das Bett in einen Ofen verwandelten, und in denen ich ohne Decke bei laufendem Ventilator schlief. Selbst das half nicht, und wenn ich dann trotzdem einschlief verfolgten mich wilde Träume, die mich weckten, an die ich mich aber meistens nicht erinnerte. Ich vermisste Maja. Aber tat sie das auch?

Mittlerweile waren die Bayramferien angebrochen. Millionen Menschen verließen die Stadt, um in den Urlaub zu fahren, Familienangehörige zu besuchen und am Meer oder in den Bergen der Hitze dieser in ihrer Ausbreitung nicht enden wollenden Metropole zu entfliehen. Am zweiten Tag der Ferien überredete mich Selcuk zu einem Besuch bei meiner Großtante und deren Enkelin Tülin. Sie und Selcuk berichteten mir von den Gezi Protesten, an denen sie teilgenommen hatten. Dass ihnen irgendwann klargeworden war, dass es um Leben und Gesundheit ging, wenn sie das Haus verließen, um an den Protesten teilzunehmen, damit dieses kleine Stückchen Grün im Herzen der Betonwüste von Taksim erhalten bleibt. Dass sie jedes Mal ihr Leben riskierten, wenn sie mitmarschierten. Tülin erzählte mir von einem Tag, als sie mit ihrem Vater an einer Demonstration teilnahm und die Cops plötzlich mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstranten vorgingen. Dass sie plötzlich gemeinsam einem Polizisten gegenüberstanden, der ihrem Vater das Gewehr direkt an den Kopf hielt. Dass ihr Vater nur verschont geblieben war, weil ein anderer Kerl von der gegenüberliegenden Straßenseite die Hure von Mutter, den Vater, die Sippe und das Vaterland des Polizisten beleidigte und der Cop seine Tränengaskartusche auf diesen Mann verschoss. Nach diesem Vorfall beteiligte sie sich nicht mehr an den Protesten. Tülins Blick bat mich um Verständnis. Als könne ich, der ich in der Sicherheit meiner hermetisch abgeriegelten Raumstation Deutschland mit all seinen selbstzufriedenen Annehmlichkeiten lebte, einem Deutschland, welches sich an den weltweiten Konflikten mehr als sattsam nährte und diese auch allzu oft schürte, es jemandem Übel nehmen, dass er sich nicht mehr so öffentlich politisch exponiert, wenn das eigene Leben dadurch immerzu in Gefahr gerät. Vielmehr überkam mich selbst ein Gefühl der Scham. Ich schämte mich, weil ich noch nie so viel Mut hatte aufbringen müssen. Nicht auf der Straße und nicht in der Liebe.

Selcuk erzählte mir, dass es mittlerweile Kopftuchparties gab, bei denen junge Frauen zur Feier des Anlegens ihres Kopftuches mit ihren Freundinnen feierten. Ich konnte kaum glauben, dass es inzwischen eine ganze Industrie gab, die sehr gut davon lebte, derartige Partys mit Tänzerinnen und Torten mit Koranzitaten zu organisieren. Er berichtete auch davon, dass mittlerweile viele junge Frauen Kopftuch trügen, weil sie fürchteten, sonst keinen Job zu bekommen oder im Job gemobbt zu werden. In unserer Familie wurden diese Frauen mit Kopftüchern Pinguine genannt, weil sie uns mit diesen Kopftüchern an diese putzigen, flugunfähigen Vögel erinnerten. Es war ein deprimierendes Gespräch, in dem immer wieder der Unmut mitschwang, dass es jungen Türken fast unmöglich gemacht wurde, das Land zu verlassen, und dass der Westen Erdogan viel zu weit entgegengekommen war und Menschen wie sie im Stich ließ. Der Gedanke, dass das Pendel vielleicht erst wieder in zwanzig oder dreißig Jahren in die andere Richtung schwingen würde, musste für die zwei niederschmetternd sein. Ich fühlte erneut, wie privilegiert ich war, in Deutschland zu leben. Und die Erkenntnis, dass unsere Realität für die Mehrheit der Menschen auf der Welt unerreichbar und undenkbar ist, traf mich mal wieder mit voller Wucht. Aber immerhin hatten sie besseres Klima, das Mittelmeer, die Küsten, dieses Istanbul und eine phantastische Küche, dachte ich. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass die Menschen wirklich an etwas glauben, bereit sind für die Dinge, an die sie glauben, zu kämpfen, sich ihrer selbst nicht so dermaßen entfremdet sind wie wir. Aber das ließ ich ungesagt. Man sollte nicht immer sagen was man so denkt.

Die meiste Zeit hörte ich nur zu oder stellte knappe Fragen. Und wieder wurde mir bewusst, wie groß meine Schwierigkeiten mit der türkischen Sprache waren. Als ich von meinem Job in der Kulturbranche erzählen wollte, winkte ich irgendwann resigniert ab. Ich musste an ein Interview zurückdenken, dass ein Freund nur zwei Wochen zuvor im Rahmen seines Studiums bezüglich der Sprachentwicklung türkischstämmiger Menschen in Deutschland mit mir geführt hatte. Einige Tage später berichtete er mir, dass es seiner Professorin aufgefallen sei, dass ich der Einzige von den Interviewten war, der von „den Deutschen“ und „den Türken“ sprach, so als gehörte ich nirgends dazu, oder wolle nirgends dazu gehören. Gut erkannt, dachte ich. Zu den Deutschen will ich nicht gehören, weil es hieße, mir ihre Geschichte zu eigen zu machen, und zu den Türken nicht, weil ich lange schon viel zu weit weg von der Gegenwart und der Sprache dieses Landes bin. „Du hast dich noch nie richtig entscheiden können, "Atilla“, hatte Maja gesagt. „In der Türkei werden wir Entscheidungen treffen“.

Um wieder mehr Gefühl für die Sprache zu erlangen und weil ich die politischen Entwicklungen in der Türkei verfolgen wollte, kaufte ich jeden Tag türkische Tageszeitungen, die ich beim Frühstück las. Ich war über das Ausmaß an rassistischen Äußerungen gerade der linken und Republikanischen Zeitungen gegenüber den syrischen Flüchtlingen erschrocken. Äußerungen, denen alles Emphatische für das Leid der Flüchtenden abging, so sehr, dass ich kaum glauben konnte, es mit liberalen Publikationen zu tun zu haben. So verstrichen die Tage, gemächlich, ohne viel Aufregung in Cafés, am Bosporus, friedlich rumquatschend mit Selcuk und Maja, die mittlerweile angekommen war und ungewöhnlich ruhig schien. Wir unterhielten uns in einem Mix aus Türkisch und Englisch. Abends kochte ich etwas und schrieb weiter an meinen Kurzgeschichten. Maja las und schlief viel. So konnte das Leben weitergehen, von mir aus bis an diesem sonnigen Ort die Hölle zufriert. Oder Maja eine Entscheidung trifft.

Am 15 Juli, einen Tag bevor wir am nächsten Tag nach Cirali fliegen wollten, saß ich abends gemeinsam mit Maja in Kuzguncuk bei Ismet Baba am Platz unter den Platanen. Wir tranken Tee und bestaunten die Schönheit des Bosporus, die mit ihren zahllosen Lichtern jedes Mal erscheint, als hätte eine unbekannte Kraft an einem der wundersamsten Orte der Welt glitzernde Diamanten verstreut und den Ort mit einer schmeichelnden Brise gewürzt. Gegenüber von Kuzguncuk schmiegt sich die hübsche Moschee von Ortaköy ans europäische Ufer, dahinter protzt selbstbewusst die Skyline mit den Wolkenkratzern, die von Jahr zu Jahr mehr werden. Links von uns ist der ausladende Dolmabahce Palast zu sehen, in dem Mustafa Kemal Atatürk, gleichermaßen brillanter und rücksichtsloser Architekt der modernen Türkei, verstorben war. Rechts von uns thront in einer Kurve, welche die Meerenge an dieser Stelle beschreibt, wunderschön, und architektonisch aus der Reihe fallend und strahlend ein weißes Gebäude. Die Kuleli Militärakademie. Scheinbar zum Greifen nah dominiert die Europa und Asien vereinende Bosporus Brücke den Ausblick und dahinter die Fatih Sultan Mehmet Brücke. Wenn man Glück hat, sieht man Delphine, denen die zahlreichen Fischer auf dem Wasser in ihren schwankenden Holzkuttern den Fisch neiden. Ein Anblick, der mir immer wieder den Atem raubt.

Einige Stunden zuvor hatte ich mit Maja das Nazim Hikmet Kulturinstitut in Kadiköy besucht, vor dessen Türen dutzende Gruppen junger Menschen Pokemon Go spielten. Ein herrlicher Treppenwitz der Geschichte. Auf der Rückfahrt auf einer der bezaubernden Fähren, so gegen 19.00 Uhr, zeigte Kerstin auf zwei Schnellboote der Wasserpolizei, die rasend schnell in Richtung der Bosporus Brücke fuhren. Wir malten uns aus wie schön es sein musste, in diesem Tempo über das Wasser zu gleiten, sahen ihnen sehnsüchtig nach und dachten uns nichts weiter dabei. „Ich würde gerne in einem der Boote sitzen und einfach davonfahren. Vielleicht nach Uruguay. Ich habe gehört Uruguay soll sehr schön sein“. Mir fiel auf dass ich in ihrer Überlegung keine Rolle spielte. „Wir wollten doch Entscheidungen treffen“, sagte ich. „Was meinst du eigentlich damit?“ Maja sah mich an und sagte: „Lass uns erst etwas Wein trinken“.

Als wir mittlerweile abends in Kuzguncuk am Ufer saßen, war mir aufgefallen, dass ich von Carolina, einer Freundin, die gemeinsam mit Maja Türkisch lernt, eine SMS bekommen hatte. Allerdings war ich in diesem Moment nicht gewillt, meinen Blick von dieser Aussicht abzulenken, die sich uns bot und sich ständig änderte. Gegen 23.30 öffnete ich schließlich doch die SMS mit folgendem Wortlaut:

Mein Kampfoutfit ist geschniegelt und gebügelt. Bin morgen um 13.00 Ortszeit in Istanbul…Schäume schon vor Wut!!! Carolina. Fr. 15. Juli 2016, 19:24

Ich zeigte Maja diese SMS, die ich zunächst überhaupt nicht deuten konnte. Längst war ich in diesem schwermütigen Zustand, in den man verfällt, wenn man an einem Ort ist, an dem man am liebsten bleiben will aber den man sehr bald verlassen muss. Wenn man weiß, dass man etwas verlieren wird was einem teuer ist. Ich dachte zunächst, dass ich etwas getan haben musste was sie zutiefst verletzt hatte. Dann aber erinnerte ich mich an unser Gespräch, in dem ich gesagt hatte, dass es viel wahrscheinlicher sei, in Istanbul an einem Verkehrsunfall zu sterben als an einem Anschlag, und jene, die Angst haben, als Pussies verleumdet hatte. An diese Worte sollte ich in dieser Nacht noch einige Male zurückdenken. Carolina hatte geantwortet, dass sie, wenn etwas passieren würde, ihren Kampfoutfit anziehen würde und uns da raushauen würde.

Etwas musste also vorgefallen sein. Ein erneuter großer Anschlag seitens des IS in Istanbul vielleicht? Ich musste daran denken, dass Selcuk erwähnt hatte, dass der US Präsident Barack Obama erst am Tag zuvor eine Rede gehalten hatte, in der er vor der Gefahr nuklearer Waffen in den Händen von islamistischen Terroristen gewarnt hatte. Wie wir uns in unserer Paranoia gefragt hatten, wieso er das ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt so angesprochen hatte. War eine unmittelbare Gefahr vorhanden? Ich dachte über diese Möglichkeit nach und begann zu schwitzen. Kurz stellte ich mir vor, dass damit alle Probleme ein für alle Mal gelöst wären, in Sekunden einfach so verdampfen würden. In diesem Moment bemerkten wir die erste Unruhe unter den anderen Nachtschwärmern um uns herum. Sie sahen abwechselnd ungläubig auf ihre Handys und dann auf ihre Begleiter und redeten durcheinander. Wir hatten mit unseren Smartphone keine Verbindung zum Internet und in dem Augenblick als ich den Kellner, der hastig Stühle und Tische zusammenraffte, fragen wollte, was denn zur Hölle passiert sei, kam eine in Englisch verfasste SMS von Selcuk:

hey brother. look at the news. through web there is something like state of emergency in istanbul. bosposus bridges are on lockdown. atatürk airport is on lockdown too. Fr.,15 Juli 2016, 23:23

Die Menschen verließen den Platz jetzt sehr schnell. Autos hupten, Busse hielten nicht an der Haltestelle und fuhren weiter. Ich zeigte Maja den Inhalt der SMS, die mich jetzt mit zusammengekniffenen Augen ansah. Ich war derart verwirrt, dass ich nicht einmal mit eigenen Augen hinüber zur Bosporus Brücke sah. Zu dieser Zeit war sie bereits von putschenden Teilen der türkischen Armee mit Panzern gesperrt worden. Das war jene Brücke, auf der Zivillisten einen Tag später fünf junge und wehrlose Soldaten, die sich längst ergeben hatten, totprügelten, einen von der Brücke warfen und einem im guten alten Stile des IS die Kehle durchschnitten. Zivillisten, die von Erdogan und seiner Clique mit Hilfe von SMS aufgefordert waren, auf die Plätze, die Flughäfen und Brücken zu strömen, um die „Demokratie“ zu verteidigen, während Kabinett und Präsident sich längst in Sicherheit gebracht hatten.

Wir schritten schnell die Icadie Straße hoch, die sich eilig leerte, und gingen in die Wohnung. Maja checkte die Seite des Auswärtigen Amtes. Ich öffnete Facebook, Spiegel Online, und CNN um Näheres zu erfahren. Facebook war nicht erreichbar. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass Facebook in der Türkei abgeschaltet worden war, entweder von den Putschisten oder der türkischen Regierung. Später erfuhr ich, dass diese Seite wegen der hohen Zugriffszahlen zusammengebrochen war. Ich versuchte mehrmals, telefonisch meine Stiefmutter und meine kleine Schwester, die sich in Atasehir mit Freunden in einem Cafe befanden, zu erreichen, vergeblich. In dem Moment kam die nächste Nachricht von Selcuk:

bruder. ausgangssperre ist verhängt worden. dass du bescheid weißt. Sa., 16. Juli, 00.11

Maja wollte, dass wir so schnell wie möglich das Land verlassen, zum Flughafen fahren und nach Deutschland fliegen, egal was es koste. „Scheiß auf den Urlaub, zum Teufel mit den Entscheidungen“, sagte sie auf eine für sie ungewöhnlich vulgäre Art. Ich sagte, dass das unmöglich sei, die Flughäfen gesperrt und von Militär besetzt seien und ohnehin eine Ausgangssperre verhängt sei. Kein Bus, keine Metro, keine Fähre und nicht ein Taxi würden fahren. Wir beide hingen an unseren Smartphones und liefen nervös durch das Wohnzimmer. Maja versuchte, ihre Eltern zu erreichen, um sie zu beruhigen, erreichte sie aber nicht und schickte ihrer Schwester eine SMS, damit ihre Familie sich keine Sorgen machen sollte. In diesem Moment kam über whatsapp eine Voicenachricht von meiner Stiefmutter:

Atilla, wir sitzen in einem Cafe fest. Falls ihr es nicht wisst, es ist ein Militärputsch im Gange. Das Militär hat die Macht übernommen. Erdogan soll auf der Flucht sein, in Deutschland oder tot. Wir kommen hier nicht raus. Es sind Schüsse zu hören. Wo seid ihr?

In diesem Moment hörten wir es auch. Maja war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Die schießen, hörst du das Atilla? Die schießen“, sagte sie. „Ja“, antwortete ich, „verfickte Scheiße, die schießen. Ich glaube, das sind Maschinengewehre. Ich meine, so klingt das doch, oder?“ Ich schrieb meiner Stiefmutter, dass wir in Sicherheit seien. Ich schrieb einem befreundeten Ehepaar aus Deutschland, das in Sirkeci in einem Hotel abgestiegen war, was vor sich ging und dass es auf keinen Fall das Haus verlassen sollte. Ich zog die Vorhänge zu, ließ allerdings die Fenster weit offen damit ich abschätzen konnte, wie weit die Auseinandersetzungen waren und ob sie näherkamen. In diesem Moment flog eine F16 so tief über uns hinweg, dass wir zusammenzuckten. Wir erstarrten. „Das kann doch alles nicht wahr sein“, sagte Maja. Plötzlich signalisierte mein Handy, dass der Akku leer war und verabschiedete sich mit einem idiotischen Piepen. „Maja“, flüsterte ich, „das Handy gibt den Geist auf. Wo ist mein Ladekabel? Hast du mein Ladekabel gesehen?“ Das Handy war die einzige Kommunikationsmöglichkeit, die mich mit meinen Verwandten verband. Ich musste kurz an den Satz denken, den der Kamikaze Taxifahrer am Abend meiner Ankunft in Istanbul gesagt hatte, und verfluchte mich. Nachdem wir einige endlose Minuten mein Ladekabel gesucht und es schließlich gefunden hatten, hatte ich Schwierigkeiten, mich an den Pincode zu erinnern. Der erste Versuch schlug fehl, der zweite ebenfalls. Bei der nächsten falschen Eingabe wäre das verdammte Gerät gesperrt. Ich legte das Handy vorsichtig wie eine scharfe Bombe auf den Esstisch, schloss einen Moment die Augen und konzentrierte mich, öffnete sie wieder und gab den Code ein. Er war richtig. Maja sah mich etwas vorwurfsvoll an. Jetzt kamen Nachrichten von Freunden, Verwandten, und Bekannten via whatsapp rein, die alle nach unserem Befinden fragten oder uns benachrichtigten, dass sie in Sicherheit waren. Die Nachricht hatte sich weltweit verbreitet. Ich antwortete den Freunden in Deutschland meisten kurz, fand sogar die Zeit, mich zu bedanken und erklärte, dass ich diesen Kanal jetzt ausschließlich zur Kommunikation mit meinen Verwandten bräuchte. Mittlerweile hatte Maja das Auswärtige Amt erreicht. Sie sagten ihr, wir sollen im Haus bleiben und dass sie noch keine näheren Informationen hätten. Ich wünschte auch sie in die Hölle. Wieder flog eine F16 über uns hinweg und es war über der Stadt das Rattern der Rotoren von Helikoptern zu hören. Die Gläser wackelten im Schrank. Ich ging ans Fenster und sah hoch. Überall öffneten sich Fenster und Köpfe streckten sich, und sahen hinauf in den sommerlichen Nachthimmel. Aus einem Fenster gegenüber hörte ich wie eine Frau versuchte, ihre Mutter am Telefon zu beruhigen. „Mutter, es ist ein Putsch. Nein, kein Scherz. Ein Putsch. Mutter, ich scherze nicht. Mutter…“.
Würden die Jets und Helikopter Bomben abwerfen wie im Nachbarland Syrien? War das der Beginn eines seit langem befürchteten Bürgerkrieges? Ich musste daran zurückdenken, wie während dem letzten gewaltsamen Putsch in der Türkei, 1980, Freunde meiner stramm moskauorthodox kommunistischen Eltern mitten in der Nacht bei uns vorbeikamen. Wie sie Bücher, die meine Eltern besaßen, weggeschafft hatten. Mein Vater las zumeist marxistische Literatur, meine Mutter hingegen hatte eine Vorliebe für klassische russische Autoren: Gogol, Dostojewski, Puschkin, Tolstoi, Gorki und Majakowski. Dass man es dem deutschen Staat zutraute, mit der faschistischen türkischen Junta zu kollaborieren, war damals nichts Ungewöhnliches unter türkischen Linken und auch nicht vollkommen abwegig. Es sollten keine Beweise für ihre politische Gesinnung zurückbleiben. Nach diesem Putsch konnte unsere Familie über zehn Jahre nicht mehr in die Türkei reisen. Das war wohl die schwierigste Zeit in der Beziehung meiner Eltern. Meine Mutter konnte nicht für ihre Mutter da sein als diese an Krebs starb und begann danach zu trinken. Aus diesem Grund gab es viele Auseinandersetzungen zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Ich erinnerte mich auch daran, dass der beste Freund meines Vaters verhaftet und im Knast gefoltert worden war. Dass ihn ein deutscher Freund meiner Eltern nach dessen Entlassung aus dem Knast im Kofferraum seines Autos nach Griechenland geschmuggelt und von dort nach Deutschland gebracht hatten, weil befürchtet wurde, dass ihn die Faschisten in seinem Zuhause ermorden würden. Ich musste an Filme wie Under Fire mit dem jungen Nick Nolte und Gene Hackmann oder an Missing von Coste Gavras mit Jack Lemmon denken. Dachte ich an einen Putsch, dachte ich vor allem an Chile und Argentinien. An willkürliche Tötungen auf offener Straße, an Armeelaster, mit denen Regimekritiker abtransportiert wurden, an Fußballstadien, in deren Katakomben Menschen gefoltert wurden und spurlos verschwanden. Dass ich nach diesem Putsch in den wir geraten waren keine Angst mehr davor haben sollte, welche Literatur man möglicherweise bei mir fände, sondern welche Einträge ich in sozialen Netzwerken gepostet hatte, ist bezeichnend für eine neue Gegenwart, die ganz anderen Maßstäbe setzt.

Inzwischen war Facebook wieder zu erreichen und ich postete einen holprigen ersten Eintrag:

liebe freunde. macht euch keine sorgen. uns gehts gerade gut. ausgangssperre. man hört schüsse, hubschrauber und den ganzen fuck. 15. Juli. um 22.54

Kurz darauf kam eine Voicenachricht von meinem Bruder, der sich zu dieser Zeit beruflich in Edinburgh aufhielt.

Atilla, hier in den Nachrichten sagen sie, dass in den Vorstädten Istanbuls gekämpft wird. Seid vorsichtig!

Verdammt Namik, dachte ich. Die schießen hier direkt um die Ecke. Selcuk rief an. Er sagte, dass es sein könne, dass am kommenden Morgen Soldaten und Panzer an jeder Straßenkreuzung stehen und uns am Verlassen des Hauses hindern könnten. Dass es ratsam sein, kurz aus der Wohnung zu gehen, sich umzusehen, um einen noch geöffneten Laden zu finden, sich für eine Woche mit Wasser und allem Nötigen einzudecken. Dass er hoffe, dass meine Traubenzucker und Insulinvorräte noch ausreichend sind. „Beeilt euch bevor es heftiger wird“, sagte er. „Mein Zimmer riecht nach Schießpulver und Tränengas. Wir mussten die Fenster schließen. Fuck me! Hier in Aksaray wird geschossen, Atilla. Take care ‚Brother. Ich melde mich später. Ich muss Tülin erreichen“.
Ich bat Maja zu warten, während ich draußen schnell nach einem Laden suchen würde. Sie bestand aber darauf mitzukommen, zum einen weil sie nicht allein bleiben wollte, zum anderen weil sie meinte, ich könnte Dummheiten machen und mich vielleicht aus Neugier den Auseinandersetzungen nähern. Damit hatte sie nicht ganz Unrecht. Mir war sehr wohl bewusst, dass wir uns sprichwörtlich mitten in einem historischen Augenblick befanden. Ich dachte die ganze Zeit: Fuck Alter, du bist mitten in einem Bürgerkrieg. Und in die Suppe aus Angst, Panik und Verwirrung mischte sich eine Prise Adrenalin, Neugier und Aufregung. Neugier zog an mir und flüsterte mir leise ins Ohr, das Adrenalin floss durch meine Adern und schoss meinen Blutzucker in die Höhe. Ich musste mir einen Schuss Insulin geben. "Die Aufregung reizt dich, oder?", fragte Maja.

Die Straßen waren leer. Alle Läden waren geschlossen, die Rollläden waren runtergezogen. In allen Fenstern brannte das Licht und flackerte der Fernseher. Am Ende der Straße fanden wir noch einen offenen Laden, vor dem sich bereits zahlreiche Menschen zu Hamsterkäufen eingefunden hatten. Während erneut ein Jet laut und tief über uns herzog und die Menschen die Köpfe einzogen, dachte ich keinen Moment darüber nach, was wir brauchen würden. Ich konzentrierte mich darauf, den Gesprächen der Menschen aus dem Kiez zu folgen. Manche lachten nervös und machten Witze. Der Mann vor mir sagte etwas, was ich nachher überall immer wieder hören sollte: „Alles Theater. Ein Spiel sage ich euch. Erdogan und seine Leute ziehen da an den Strippen. Alles Theater“. Jemand sagte, dass alle eine SMS von der Erdogan Regierung bekommen hätten und dass die AKP Anhänger und ihre Sympathisanten von Erdogan aufgefordert worden waren, auf die öffentlichen Plätze und zu den Flughäfen zu gehen und dadurch die sogenannte Demokratie verteidigen sollten. „Sollen doch Tayyips Leute dahin, dann sind wir einige von den Typen endgültig los“, sagte einer und lachte nervös. Während plötzlich aus allen Moscheen zu dieser ungewöhnlichen Zeit ein Gebet, welches ich noch nie gehört hatte, gesungen wurde, griffen wir uns Wasserflaschen, Schokoriegel, große Packungen Nudeln, Kekse, mehrere Flaschen Cola und Limonade. Die Imame bezogen Stellung in dieser Auseinandersetzung und schlugen sich damit unmissverständlich auf die Seite Erdogans, während ich über Kekssorten nachdachte. Ich bat den Mann an der Kasse, der auf mich einen durchaus zufriedenen Eindruck machte, um 8 Packungen Zigaretten. Rote Packung. Kurz. Der Name: 2001. Tatsächlich war eine meiner größten Sorgen, dass ich die kommenden Tage in solch einer Situation nur sehr schwer ohne Zigaretten überstehen könnte. Es war einfach nicht die Zeit, um mit dem Rauchen aufzuhören. Wir verließen den Laden, schritten mit Plastiktüten in den Händen schnell die Straße hinunter zur Wohnung, während wir immer wieder Schüsse hörten und die Helikopterrotoren wummern. Wir öffneten alle Schränke und machten eine Bestandsaufnahme dessen, was wir zur Verfügung hatten. Mein Insulin sollte noch eine gute Weile reichen, auch Traubenzucker hatte ich vorerst genügend. Wir fanden noch eine Flasche Wein, fanden Bohnen und Reis. Wir hatten Olivenöl, Salz, Zucker, Tee und der Kühlschrank war ohnehin ganz gut mit Gemüse und Obst gefüllt. Als wir das alles auf dem Esstisch ausgebreitet hatten, sahen wir uns an und mussten lachen. Echte Prepper sehen anders aus. Zahlreiche Endzeitfilme kamen mir in den Sinn: World War Z, Armageddon, I am Legend, Krieg der Welten. Ich wusste, dass zu Kriegszeiten Zigaretten und Alkohol zu einer zweiten Währung wurden, und wir waren im Grunde so kläglich damit ausgestattet. Gleichzeitig war mir die totale Absurdität dieser Gedanken vollkommen klar. Die Lage, in der wir uns befanden war vollkommen abseitig. Ausgeschlossen. Undenkbar. Schlicht surreal. Dann kam wieder eine Voicenachricht von meiner Stiefmutter:

Atilla, wir werden die Nacht hier im Cafe verbringen müssen. Wir haben es dreimal versucht nach Kuzguncuk zu kommen, sind aber immer wieder zurück, weil es zu gefährlich ist. Es wird zu viel geschossen.

In diesem Moment hörten wir eine starke Explosion. „Alter Schwede, was war das denn?“ fragte ich Maja, die mich ratlos ansah. Auf der Seite von Spiegel online war zu lesen, dass die Putschisten im staatlichen Fernsehen eine Verlautbarung verlesen hatten. Sie hätten vollständig die Macht übernommen, das Kriegsrecht erklärt, und eine Ausgangssperre verhängt. Andere Quellen im Internet berichteten darüber, dass der Putsch niedergeschlagen würde. Dass andererseits das Parlament in Ankara bombardiert wurde. Wohin soll das alles führen, fragte ich mich und sah hinüber zu Maja. Was meinte sie mit Entscheidungen?

Während meine elektronischen Geräte vor lauter eingehender Nachrichten piepsten, tuteten, husteten und vibrierten und draußen weiterhin Schießereien zu hören waren, mischte sich erstmals ein neues Geräusch in dieses akustische Durcheinander. Massen skandierten Allahu Akbar, weit weg, aber deutlich hörbar. Immer wieder dieses Allahu Akbar. Es waren in diesem Moment nicht die Explosionen, nicht die Schüsse, nicht die Jets, nicht die Helikopter und auch nicht die Ungewissheit, die mich einschüchterten. Vielmehr war es dieser Schlachtruf, der die Größe Allahs pries und den Untergang seiner Feinde ankündigen sollte und sich plötzlich wie ein dunkler Vorhang auf unsere Seelen legte. Ich fürchtete die entfesselte Rache des islamischen Prekariats an Liberalen, Apostaten, religiösen, ethnischen und sexuellen Minderheiten. Ich hörte den hässlichen Furor der Islamisten. Ich zündete mir eine an. Maja setzte sich zu mir und sagte: „Himmel die Berge, diese Arschlöcher! Echt jetzt? Ausgerechnet jetzt?“ Ich schrieb einen erneuten Eintrag auf Facebook.

ok, fb wieder da. ich berichte euch mal was hier los ist. soeben hat es eine ziemlich heftige explosion gegeben, keine ahnung woher das kam, war aber recht nahe. es sind menschenmassen zu hören die allahu akbar skandieren, und überall sind immer noch starke gefechte zu hören. die gerüchte überschlagen sich, tendieren aber immer mehr dazu dass der putsch niedergeschlagen wird, von dem aber gleichzeitig viele glauben dass es sich um eine false flag aktion der regierung handelt. ich enthalte mich zunächst einer politischen bewertung dessen was da passiert ist. wir hoffen erst mal dass wir inkommender zeit schnell hier raus kommen. haben gerade noch ein geschäft um die ecke gefunden vor dem sich bereits eine große schlange an menschen versammelt hatte und die hamsterkäufe für die kommenden tage gemacht haben. so haben wir es auch gemacht. jetzt wieder heftige maschienengewehrsalven zu hören. ansonsten ausnahmezustand, kriegsrecht, ausgangssperre. wir sind in sicherheit in der wohnung. so klingt krieg und er lässt einen nicht schlafen. soweit erst mal aus kuzguncuk/üsküdar.

Eine Freundin kommentierte meinen Eintrag auf Facebook:

Google DNS: 8.8.8.8 and 8.8.4.4 - damit du weiter berichten kannst. Kendine iyi bak, abi!“

Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie da sprach. Maja legte sich vollkommen erschöpft im Schlafzimmer ins Bett und versuchte, bei all dem Lärm zu schlafen. Ich konnte das nicht, obwohl ich auch ziemlich am Ende war. Zu groß waren meine Sorgen. Die Schusswechsel wurden allmählich etwas weniger. Man hörte keine Allahu Akbar Rufe mehr. Die Nachrichten im Netz deuteten darauf hin, dass die Putschisten offensichtlich phänomenale Stümper waren, und ich dachte, dass dieser Putsch das schlimmste sein würde, was den progressiven Kräften in der Türkei passieren konnte. Erdogan würde die Gelegenheit nutzen, um endgültig die Gesellschaft in seinem Sinne umzugestalten und in den Abgrund zu führen. Erdogan ist ein Bauer mit erheblicher Macht, der auf seinem ideologischen Misthaufen sitzt und denkt, dass dieser Haufen der schönste Ort der Welt ist, und nebenbei noch gewisse privatwirtschaftliche Interessen verfolgt. Jetzt konnte er den letzten Vorhang fallen lassen. Da ich nicht wusste, wer die Putschisten waren und was ihre Ziele waren, konnte ich mir nicht vorstellen, wie es wohl aussehen würde, wenn sie siegten. In den kommenden Tagen war immer wieder die Rede von Fettulah Gülen und seiner islamischen Sekte, die einst partnerschaftlich mit Erdogan ins Bett stieg und freudig mit ihm kopulierte, mit der Erdogan aber brach, als 2013 Staatsanwälte, die der Gülen Bewegung angehört haben sollen, in der sogenannten Schuhkarton Affäre gegen Erdogan ermittelt hatten und tatsächlich die gierige, die schmutzige Seite seiner Politik offenlegten. Wie in einem billigen Scheidungskrieg. Erdogans Medien skizzierten Fettulah Gülen, der den Eindruck eines netten alten Opas vermittelt und in Pennsylvania im Exil lebt, wie einen klassischen James Bond Bösewicht. Ihm fehlte nur noch eine siamesische Katze, und er hätte einen erstklassig besetzten Dr. No abgeben können. Sie zeichneten das Bild eines Paten einer religiösen Sekte, die junge, talentierte Kinder aus sozial schwachen Familien sucht, deren Bildung und Ausbildung finanziert und sie in Schlüsselpositionen der Gesellschaft platziert, um eines Tages die Gewalt über die Regierung zu übernehmen. Das war Stoff für mindestens einen Hollywoodfilm. Ich hatte mich nie mit dieser Bewegung auseinandergesetzt, nahm mir aber vor, das bei Gelegenheit nachzuholen.

Gegen halb sechs, als langsam die Sonne aufging schien es mir, als müsse es eine stille Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien geben. Kaum ein Schuss war mehr zu hören, nur gelegentlich flog ein Helikopter über uns hinweg. Ausgelaugt schlief ich auf dem Sofa am Fenster ein und wurde zwei Stunden später nach einem traumlosen Schlaf wieder wach und fühlte mich verkatert. Maja saß am Esstisch und beobachtete mich. Sie hatte sich die Haare abgeschnitten. Ich fand das stand ihr sehr gut.
Die meisten Geschäfte waren nicht geschlossen. Auch einige Cafes waren geöffnet. Die Menschen redeten gedämpft miteinander, über die Tische gebeugt, die Köpfe ineinandergesteckt, als wir das erste Mal gegen 09.30 Uhr morgens aus der Wohnung traten. Wie bei einem Leichenschmaus, dachte ich. Die Katzen sahen uns beleidigt an, als seien wir schuld am Lärm der letzten Nacht gewesen.
Der Verkehr lief zäh, als wir im Taxi auf dem Weg zum Flughafen Sabiha Gökcen waren, um den Flieger nach Antalya zu nehmen. Wir hatten uns entschlossen, in der Türkei zu bleiben, als abzusehen war, dass dies der dümmste und kürzeste Putschversuch aller Zeiten gewesen war, und wir erfahren hatten, dass alle Verwandten und Freunde unversehrt waren, und die Flughäfen bizarrer Weise wieder geöffnet hatten. Niemand sprach ein Wort, nur ab und zu brach ein Funkspruch unangenehm in die Stille ein. Wir sahen aus dem Fenster. Maja machte einen trotzigen Eindruck auf mich. Der Taxifahrer fragte mich, ob ich in der letzten Nacht geschlafen hätte. Er grinste dabei. Ich grinste müde zurück und antwortete nicht. Etwa einen Kilometer vor dem Flughafen kamen wir am Ende einer endlosen Schlange gelber Taxen, die nicht mehr vorankamen, zum Stehen. „Hier ist Endstation Freunde. Ab hier müsst ihr zu Fuß gehen. In diese Richtung“, sagte unser Fahrer und deutete auf einen Terminal. Ich zündete mir eine Kippe an. Als wir mit unserem Gepäck in den Händen die Straße hinunterblickten und uns dann ansahen sprachen wir nicht. Wir gingen einfach drauf los. Im Hintergrund standen Panzer im Sonnenlicht auf der Straße. Menschen machten Selfies vor ihnen und lachten. Wir gingen der Sonne entgegen, während sich für die Türkei ein Abgrund öffnete. Als das Flugzeug abhob roch die Stadt nach Rache, und Maja sagte: „Ich werde dich verlassen“.

 

Hola Caykhan,
nur eine Anmerkung:

Geburtsdatum 23.12.1971 (44)
31 Jahre alt, türkisch/deutsche staatsbürgerschaft,
Merkste was?

Auf jeden Fall willkommen bei den (friedlichen) Wortkriegern!
Deine ziemlich lange Geschichte erfordert viel Zeit, um dazu einen vernünftigen Kommentar zu schreiben – ich will nichts versprechen. Aber dass sie gut geschrieben ist, steht jetzt schon fest.
Schöne Grüße
José

 

Hey Meryem

Danke für deine Kritik. So böse bist du eigentlich gar nicht. Ich freue mich sogar über diese derbe Leidenschaft die aus deiner Kritik spricht. Wer sich derart über geschriebenes echauffieren kann, kann eigentlich nur in Ordnung sein. Ich nehme mal an dass du aus Österreich kommst? Ich musste kurz überlegen was Beistriche sind. Du meinst Kommata. Ja, darin war ich schon immer schwach. Wird überarbeitet. Versprochen. Der Titel ist noch ein Arbeitstitel. Mal sehen. Ja, es war ein Fehler vor Zehn Jahren so vorzugehen. Ich hatte im grunde nicht wirklich die Zeit zu Sorgfalt und Verbesserung. Auch mein Fehler. Ich hoffe diesmal wird das anders. Jetzt auf alles einzugehen ist müßig. Ich verstehe fast jeden Punkt deiner Kritik, und werde darüber nachdenken. Eine herrliche Kritik, abgesehen von den wohl eher persönlich gefärbten Teilen. Vermutlich die konstruktivste, wenn es denn jemals konstruktive Boxer gab. Cay.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo caykhan

den Text habe ich gelesen. Gar nicht ungern, trotz der Länge. Gar nicht uninteressiert, trotz der tendenziellen Attitüde.

Keine Ahnung, ob das, was du beschreibst, selbst erlebt ist, aber es klingt so.
Obwohl dein Ich-Erzähler quasi alle linksliberalen Positionen vertritt, die politisch korrekt und unangefochtene Meinung der deutschen Öffentlichkeit sind, bleibt er doch eine Hülle aus Selbstgefälligkeit. Der wankt nicht, der ist austauschbar, einer, der ganz unbedingt ein Gutmensch sein will, einer, der auf Wirkung zielt.

Da ist eine Menge Ballast in der Geschichte. Ständig wird kommentiert und politisch Position bezogen, aus der sicheren Entfernung, natürlich. Erdogan ist scheiße, weil er Dreck am Stecken hat und ein Diktator ist. Istanbul ist toll, weil die Menschen dort alle toll sind und das Essen besser ist. Undsoweiter undsoweiter...

Dabei gibt es ein paar Passagen, aus denen man erzählerisch wirklich etwas machen könnte. Zum Beispiel das mit dem Stadtviertel, in dem syrische Flüchtlinge leben und wie die türkische Bevölkerung auf sie reagiert. Oder die Szene in der Putschnacht, als die Muezzine rufen...

Im Text gibt es einige Rechtschreibfehler, Zeichensetzung und dergleichen, das Hauptproblem aber ist der Erzähler, der den Leser mit seiner Meinung zu allem und jedem belästigt. Das fängt schon ganz am Anfang an, mit den Zitaten. Sprachlich ganz gut, auch wenn die Begeisterung für die Stadt sich teilweise im Gebrauch von entsprechenden Adjektiven zeigt.

viele Grüße
Isegrims

 

Danke Isegrims. Bin ja nicht hier um Komplimente abzuholen. Habe dem ganzen einen anderen schwung gegeben, und hoffentlich die meisten Fehler korrigiert. Mehr kann ich aus dieser Story nicht raus holen. Hatte ich in der Türkei in einem Schwung runter gehackt.

 

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