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- 01.09.2005
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All Hail the Damned
Bevor Lena und Michi zu Balrog fuhren, sprachen sie mit einem Journalisten, der über den Fall geschrieben hatte. Er wollte nicht erkannt werden, Michi musste ihm versichern, dass sie sein Gesicht verfremden würden. Lena hatte das Gefühl, dass der Schreiberling sich wichtig machen wollte. Alles an Balrog schien so überhöht, und alle spielten sie mit, ließen sich im Medienstrudel treiben. Dabei war er doch nur ein Mensch, höchstwahrscheinlich.
„Ist das sein Wagen?“, fragte Michi und zeigte ungläubig auf die himmelblaue Ente, die in der Einfahrt geparkt stand.
Lena grinste. „Film das mal gleich zum Einstieg. Das ist echt ein schöner Opener.“
„Ach, komm.“ Michi schüttelte den Kopf. „Zeig den Leuten, was sie sehen wollen. Du versaust die Stimmung, wenn du Bilder von Nosferatus Kutsche da publik machst.“
Die Sonne war schon zur Hälfte im Fjord versunken, die Dunkelheit zog heran.
„Das“, sagte Michi, „ist ein Opener.“ Er stieg aus, schob den Schirm seiner Mütze nach hinten und nahm die Kamera vom Rücksitz des Mietwagens.
„Was ist?“, fragte er. „Wollen wir anfangen?“
Lena löste ihren Gurt. „Sollen wir ihn vielleicht erstmal rausklingeln? Wenn er überhaupt da ist, wir sind fast zwei Stunden zu spät.“
„Für das Intro brauchen wir ihn nicht. Und wenn wir es zur Magic Hour schaffen wollen, müssen wir jetzt sofort anfangen zu filmen.“
„Happy Hour?“
„Überlass den Technikkram mir, schließlich bist du nur ein Mädchen.“
Lena schleuderte eine der sieben leeren Flaschen Dr.-Pepper-Cola nach Michi, die im Fußraum lagen. Er wich der zum Geschoss umfunktionierten Hülle seines Lieblingsgetränks aus und sagte: „Komm jetzt.“
Draußen gab Michi Regieanweisungen und bugsierte Lena so, dass die verräterische Ente im Hintergrund nicht zu sehen war.
„Ich schwenke vom Sonnenuntergang über den Fjord zu dir und gebe dann ein Zeichen“, sagte er.
„Aber ein einfaches, das ich verstehe, ich bin nämlich nur ein Mädchen.“
„So ist es.“
Lena zeigte Michi den Mittelfinger. Sie atmete tief ein, während er sich langsam zu ihr umdrehte, die Kamera im Gesicht, das freie Auge zugekniffen. Als die Linse auf sie gerichtet war, schnippte Lena mit den Fingern und zeigte auf ihr zukünftiges Publikum.
„Hi Heads, ich bin Lena und Ihr schaut das Dark-Blades-Video-Magazin. Damit sind wir auch schon mittendrin, es wird nämlich gerade ziemlich dark, und Kamerakind Michi und ich ...“
Michi richtete sein Werkzeug gegen sich selbst und schlabberte mit der Zunge eine Hommage an Gene Simmons.
Zurück zu Lena.
„Wir sind hier nach mehrstündiger Irrfahrt angekommen am Arsch von Norwegen. Es ist wunderschön, aber auch sehr einsam, durch das letzte bewohnte Dorf sind wir vor etwa einer Stunde gefahren. Und warum nehmen wir das alles auf uns?“
Lena verharrte einige Sekunden statuengleich. An dieser Stelle würden später epileptische Filmschnipsel flimmern, keiner davon länger als eine Sekunde, abwechselnd schwarz-weiß und in Farbe, ein blutweinender Jesus, Vollmond über einem alten Friedhof, dazu Gekreische, Blastbeats, ein schnelles Gitarrensolo.
„Also, ihr Kinder des Zorns, in dem Haus da hinter mir wohnt das aktuelle Opfer von Who the fuck is … Michi und ich werden eine Nacht und einen Tag verbringen mit Balrog von Jörmungandr.“
Ein Baby am Bratspieß, Doublebass, Gitarre, vielleicht ein paar Bilder aus Die Passion Christi, reingeschnitten wie Lauch in einen Eintopf.
„Es ist das erste Interview, das er seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis gibt, eine große Ehre, aber wenn ich ehrlich bin, krieg ich allmählich auch ein bisschen Angst.“
Lena lächelte schweigend in die Kamera. Michi schien im Stehen eingeschlafen zu sein. Als Regentropfen ihn trafen, schützte er die Elektronik mit seiner Jacke, sah in den Himmel und dann zu Lena.
„Ernsthaft jetzt?“
Lena steckte die kalten Hände in die Potaschen ihrer Jeans.
„Er hat schon jemanden umgebracht. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass es dunkel wird, aber ich glaube, mir wird das gerade erst so richtig klar.“
Michi sah an ihr vorbei.
„Was hast du?“
Er nickte in ihre Richtung. Lena fuhr herum. Balrog hatte die Vorhänge im Fenster zur Seite geschoben und grinste sie an, als säße er im Knusperhaus. Er winkte und verschwand aus dem Fenster. Lena drehte sich wieder um. Einen Moment lang hatte sie gefürchtet, Michi zum Auto sprinten zu sehen. Er würde weinend zurück nach Oslo fahren und sich selbst immer wieder versichern, dass er nichts mehr für sie hatte tun können, dass er wirklich alles versucht hatte. Stattdessen schirmte er die Kamera vor dem stärker werdenden Regen ab, hielt sie im Arm wie ein Neugeborenes und sagte: „Also, zu Hause ist er schon mal.“
Balrog begrüßte sie auf Deutsch mit einem dicken Akzent. Seine Hand war schwach und knochig wie die eines Vampirs, der seine volle Stärke erst bei Dunkelheit erreicht. Ein dünnes Hemd flatterte im leichten Wind um seinen Oberkörper, um den Hals hing allerlei Silberschmuck. Aus dem Wust der Anhänger stachen Pentagramme und Petruskreuze hervor.
„War es sehr schwer zu finden?“, fragte er. Er hatte ins Englische gewechselt und sprach leise, wie jemand, der weiß, dass man ihm zuhört, sobald er den Mund aufmacht.
„Oh, ja“, entfuhr es Lena. „Die Landschaft ist schön, aber echt gemein, wenn man sich nicht auskennt.“
„Die Landschaft ist schön“, bestätigte Michi und nickte wild. Er bringt uns zum Quatschen, dachte Lena. Genauso plapperst du drauflos, wenn die Polizei dich angehalten hat.
„Streng genommen gibt es nur zwei Straßen“, sagte Balrog. „Dann musst du noch wissen, in welche Richtung du willst. Nord, Süd, Ost, West. Na ja, ich kenne mein ganzes Leben lang nichts anderes, deshalb erscheint es mir wahrscheinlich logischer, als es tatsächlich ist.“
„Ja“, intonierten Lena und Michi im Chor. Balrogs Lächeln schien das letzte Licht zu verschlucken.
„Es wird dunkel“, sagte er zufrieden. „Kommt rein.“
Balrog servierte ihnen Bordeaux. Es schien ein guter zu sein. Nicht, dass Lena es wirklich hätte beurteilen können, aber sie hatte sich schon oft mit billigem Rotwein betrunken, und der hatte anders geschmeckt. Metallischer. Ironischerweise.
Michi nippte enttäuscht an seinem Glas. Er hatte sich auf Øl
gefreut und erstaunt glotzend festgestellt, dass Balrog kein Bier trank. Der Musiker und Mörder stocherte immer mal wieder im Feuer des Kamins herum, über dem ein skelettierter Ziegenbockkopf hing. Während er etwas über die Benzinpreise in Skandinavien erzählte, ließ Lena den Blick abwesend über die Rücken der Bücher in einem Regal schweifen. Vieles war norwegisch, einiges englisch. Bücher über Dämonologie, Aleister Crowley, nordische Mythologie, Der Herr der Ringe, fast eine komplette Reihe mit Werken von Astrid Lindgren.
„Kann Michi anfangen zu filmen?“, fragte Lena.
Balrog nickte mit einem Minimum an Bewegung, sodass sie kurz überlegen musste, ob sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte. Michi kippte seinen Wein herunter und ließ sich von Balrog das Glas nachfüllen. Er schmollte nicht länger und schien sich mit dem trinkerischen Status Quo abgefunden zu haben.
Feuer, die Kamera fährt durch die Erde in ein Grab, Würmer, Gitarrensolo.
„Steigen wir mit der Musik ein“, sagte Lena. „Das neue Album heißt All Hail the Damned. Was ist daran anders im Vergleich zu den früheren Scheiben?“
„Es ist kein neues Album, das meiste war schon fertig, bevor ich meine Auszeit genommen habe.“ Er lachte. „Im Grunde bringe ich es nur auf den neuesten Stand. Ich experimentiere im Moment gern mit Elektronik. Wahrscheinlich kann man das Endergebnis gar nicht mehr Black Metal nennen.“
Lena verschluckte sich an ihrem Wein und hustete in ein Taschentuch.
„Entschuldigung. Das ist schon heftig. Keine Angst, die Fans zu enttäuschen?“
„Wenn ich Fans haben wollte, wäre ich Fußballer geworden.“
Gitarrensolo, eine verwesende Leiche schlägt die Augen auf.
„Du hast gerade deine Auszeit angesprochen. Du hast wegen Körperverletzung mit Todesfolge fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Eine harte Zeit?“
Balrog hatte die Beine übereinander geschlagen, die Arme über den tiefroten Sessel ausgebreitet, als säße er auf einem Thron. Sein milde lächelndes Gesicht bewegte sich ebensowenig wie der Rest des Körpers.
„Die Nazis haben mich schnell als Maskottchen entdeckt. Ich habe mitgespielt und hatte so meine Ruhe.“
„Du hast einen 17-jährigen Pakistani getötet. Tut dir das leid?“
„Wir haben gestritten. Er hat übrigens angefangen, ich habe mich verteidigt. Der Ausgang war unglücklich, aber von mir nicht beabsichtigt. Deshalb kann mir das auch nicht leid tun.“
„Der Richter hat das anders gesehen.“
„Der Richter hat vor allem eine Gelegenheit gesehen, jemanden aus dem Weg zu schaffen, der die Wahrheit über die christliche Diktatur sagt, und die hat er genutzt. Noch Wein?“
Lena bejahte, Balrog füllte die Gläser und entkorkte eine vierte Flasche.
„Was ist die christliche Diktatur?“, fragte Lena.
„Norwegen ist ein heidnisches Land. Wir wurden überrannt von einer dummen Schafherde, die alles tut, was man ihr sagt. Wir sind aber keine Schafe.“ Er zeigte auf den Tierschädel über dem Kamin, ohne sich danach umzudrehen. „Der Ziegenbock ist störrisch und hat seinen eigenen Kopf. Er tut aus Prinzip nicht, was man ihm sagt.“
„Waren die Kirchenbrandstiftungen also ein Akt der Rebellion gegen diese Diktatur?“
„Ich habe nie eine Kirche in Brand gesteckt. Niemand bei Jörmungandr hat das getan.“
„Aber ihr habt dazu aufgerufen.“
„Tatsächlich? Gibt es einen Text von uns, in dem wir sagen ,Geht raus und zündet Kirchen an'?“
„Das Cover eurer EP Fuck Empyreum zeigt die abgebrannte Ruine der Fantoft Stabkirche, der Limited Edition lag ein Feuerzeug mit dem Bandlogo und dem Schriftzug ,Have Fun' bei.“
Balrog seufzte. Er redete jetzt mit Lena, als würde er ein unterdurchschnittlich intelligentes Kind belehren.
„Wenn jemand Lungenkrebs kriegt, und er hat mit dem Feuerzeug seine Zigaretten angesteckt, ist das dann auch unsere Schuld? Die Mitglieder von Jörmungandr sind selbst nie bei diesen Brandstiftungen dabei gewesen, und wir haben auch niemanden dazu aufgefordert. Aber ...“ Er betrachtete nachdenklich den verbliebenen Schluck Wein in seinem Glas.
„Aber?“, fragte Lena.
Balrog leerte sein Getränk in einem Zug. Er drehte sich zur Seite und stieß mit vorgehaltener Hand leise auf, so als säße er in einem Restaurant. Dann sagte er: „Aber wir verstehen die Brandstifter. Man kann nicht schlucken, schlucken, schlucken, ohne irgendwann kotzen zu müssen.“
„Was heißt das?“
„Das habe ich doch gerade gesagt. Vor tausend Jahren haben die Christen mein Volk unter das Kreuz gezwungen. Die Schafe gehören hier nicht hin. Da ist eine Generation herangewachsen, die das spürt.“
Lena trank einen Schluck Wein. Doublebass, vielleicht die Szene aus Der Exorzist III, in der die Holzfigur des Gekreuzigten die Augen aufschlägt.
„Ich würde gern noch einmal auf deine Zeit im Gefängnis zurückkommen.“
„Ich aber nicht. Jedenfalls nicht mehr heute, ich bin müde und besoffen. Morgen zeige ich euch was. Dann werdet ihr es verstehen. Vielleicht.“
„Es?“, fragte Lena. „Du meinst dich?“
Balrog nickte ungeduldig. „Morgen. Ich zeige euch, wo ihr schlafen könnt.“
Das Zimmer war eine gemütliche, aber muffige Dachkammer, die Betten zu klein für Lena, Michi passte eben so auf die Matratze. Außerdem standen ein Tisch und ein Stuhl darin. Beim Betreten hatte Lena den Kopf einziehen müssen. Sie saßen sich gegenüber, jeder auf seinem Bett. Michi studierte das bis dahin gesammelte Material auf dem winzigen Bildschirm der Kamera.
„Und?“, fragte Lena.
Michi nickte, ohne zu ihr aufzusehen.
„Sieht gut aus. Ich hab die ganze Zeit den Ziegenbock im Hintergrund, dazu das Feuer. Das müssen wir kaum noch bearbeiten. Er hat sich gut vorbereitet.“
Einen Moment lang ließ Lena ihren Blick nachdenklich durch das karge Gästezimmer schweifen.
„Meinst du, das hat er? Sich vorbereitet?“
Michi zuckte die Schultern und legte die Kamera zur Seite.
„Ich bin die Technik, du die Journalistin. Sag du's mir. Ist das Image oder hört er die Einschläge wirklich nicht mehr?“
Michi imitierte Balrogs Akzent beim Englisch sprechen, als er sagte: „Wir befreien Norwegen von der christlichen Diktatur.“
Lena kicherte, bedeutet Michi aber mit dem Zeigefinger an den Lippen, still zu sein.
„Nicht so laut“, flüsterte sie.
„Ach.“ Michi winkte ab. „Der hat sich längst in seinen Sarg in den Kellergewölben gelegt.“
Lena lachte auf und drückte sich selbst erschrocken ihr Kopfkissen ins Gesicht. Sie spürte das Wasser in ihre Augen treten, als Michi aufstand, sich das Bettdeck umschwang und die untere Hälfte seines Gesichtes darunter versteckte, sodass er aussah wie Bela Lugosi als Dracula.
„Du bist besoffen, du Spinner“, sagte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Und du nicht, oder was?“, fragte Michi.
„Weiß nicht, ich denke schon. Ich muss mich selbst erstmal von einer Diktatur befreien.“ Mit einem erleichterten Stöhnen zog Lena die skandinavientauglichen Wanderschuhe und Wollsocken von den Füßen, die sie fünfzehn Stunden zuvor im Hotelzimmer in Oslo angezogen hatte. Sie wackelte mit den schwarz lackierten Zehen und stellte angenehm überrascht fest, dass sie noch Gefühl in ihnen hatte.
„Das kann nicht dein Ernst sein“, stöhnte Michi. „Wir haben nicht mal ein Fenster hier drin.“
Lena warf das Kissen nach Michi, er fing es auf und warf es zurück, hin und her, hin und her. Schließlich behielt Michi das Wurfgeschoss und prügelte spielerisch damit auf Lena ein.
„Hör auf!“, lachte sie. „Hör auf!“
Mit einem Schlag riss Michi sich selbst von den unsicheren Füßen. Er saß neben ihr, ihre Gesichter so nah beieinander, dass Lena seine Fahne gerochen hätte, hätte sie nicht selbst nach Alkohol gestunken. Seine Hand streichelte die Innenseite ihres Oberschenkels. Lena sprang auf und stieß sich den Kopf an der Decke.
„Michi! Aua!“
„Tut mir leid“, sagte er erschrocken. Er saß auf der Bettkante, die Fußspitzen zeigten nach innen, die Hände hatte er in den Schoß gefaltet. „Tut mir leid. Zuviel getrunken. Ich weiß, ich bin nicht dein Typ. Zu dick und so.“ Mit einem Blick voller Verachtung krallte er die Finger in seinen Bauchspeck, als wolle er ihn sich abreißen. „Und du siehst halt aus, wie du aussiehst. Ich hab mich wohl überschätzt, tut mir leid.“
Lena spürte, dass sie etwas Großes sagen musste, hier und jetzt, etwas Großes, über die Liebe. Bevor sie aus dem Zimmer floh, sagte sie: „Ich geh mir die Zähne putzen.“
Das Badezimmer war ein Sarg. Man konnte sich gleichzeitig auf der Toilette erleichtern und dabei einen Schluck Wasser aus dem Hahn nehmen, natürlich nur, wenn man es darauf anlegte. Lena ließ es, auch weil der Sarg nicht abschließbar war.
Sie putzte ohne Zahnpasta. Die musste in der Tasche liegen, die sie im Auto gelassen hatten. Sie wollte Balrog nicht um welche bitten und sie wollte Michi nicht nach den Autoschlüsseln fragen. Zweimal strich sie vorsichtig mit den Borsten über die Backenzähne. Die Säure des Weins hatte sie empfindlich gemacht, es fühlte sich an wie Stromstöße. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, die Fliesen brannten eiskalt unter ihren Sohlen. Es roch nach Schimmel. Trotzdem wollte Lena diesen engen Kack-Kerker nie wieder verlassen, wenn die Alternative hieß, zurück ins Gästezimmer zu gehen, solange Michi noch wach war.
Sie sah im Spiegel ein Gesicht, von dem sie wusste, dass es hübsch war. Es wäre stillos gewesen, zuzugeben, dass ihr die Blicke der Männer zwischen fünfzehn und fünfundsechzig selbstverständlich auffielen, aber Herrgott, sie hatte nun einmal Augen im Kopf. Große, dunkle Augen, die sie jetzt zurück anstarrten, darunter das Abbild ihres Mundes mit den drei Lippenpiercings, der sagte: „Er hat recht. Er ist dir zu dick, du oberflächliche Kuh.“
„Ich bin nicht oberflächlich“, giftete sie zurück, ob laut oder leise, das wusste nur die Lena von vor der dritten Flasche Wein. Sie hatte nach der Ausbildung mit der Bank gebrochen, hatte es besiegelt mit der Landschaft aus Schädeln, Grabkreuzen und dunklen Engeln, die sie sich am Hals unter die Haut hatte stechen lassen. Sie würde nie wieder hinter den Schalter zurückkehren, vor den Bildschirm, an den Konferenztisch mit der immer gleichen Keksmischung darauf. Ihr Vater hatte deswegen geweint. Natürlich nicht vor ihr, Mama hatte es erzählt. Wie konnte jemand oberflächlich sein, der so entschieden für seine Individualität eintrat?
„Du denkst, du hast was Besseres verdient“, sagte die Spiegel-Lena. „Du hast dein putziges Näschen, deine hohen Wangenknochen, deine prallen Möpse und den tollen Hintern, und deshalb willst du einen harten Bauch streicheln und nicht so einen Schwabbel. Das wäre ein Verlustgeschäft.“
Lena rammte der verräterischen Reflektion die Faust auf das putzige Näschen. Glas splitterte, Blut tropfte von ihren Knöcheln auf das weiße Waschbecken, wo es sich mit Wasser vermengte. Sie hörte Balrog die Treppe hochstürmen.
„Scheiße!“ Lena wischte mit Toilettenpapier ihren Saft auf, aber für jeden Tropfen, den sie beseitigte, regneten drei neue aus der Wunde auf die Keramik. Sie hob Splitter auf und fügte sich weitere Schnitte bei dem Versuch zu, den Spiegel wieder zusammenzusetzen. In ihrem Kopf stand Balrog vor Gericht und sagte: „Sie hat übrigens angefangen.“
Lena schrie auf, als es an der Tür klopfte. Balrog fragte, ob alles okay sei.
„Alles in Ordnung“, antwortete Lena mit zitternder Stimme. „Alles, bis auf, der Spiegel ist leider irgendwie kaputt gegangen.“
„Darf ich?“, fragte Balrog und öffnete die Tür. Er trat zu Lena, ohne ihre Antwort abzuwarten.
„Ach du Scheiße, bist du in Ordnung?“ Er griff nach ihrer verletzten Hand. Lena wich erschrocken zurück und landete auf der Toilettenschlüssel. Das Blut hat ihn angelockt, dachte sie. Genau wie einen Hai.
„Ich hab schon im Bett gelegen“, sagte Balrog. Er trug nur eine schwarze Unterhose. Seine Haut spannte sich scheinbar ohne jede Schicht dazwischen direkt über die Knochen, obwohl Lena einmal gelesen hatte, dass der norwegische Strafvollzug nach sehr liberalen Maßstäben arrangiert sei und die Speisepläne in den Gefängnissen entsprechend weit über Wasser und Brot hinausgingen. Nur Balrogs Hände, Füße, Kopf und Hals waren frei von Kriegsbemalung. Die Güteklasse der Tätowierungen schwankte stark, einige der Gehörnten, Gepfählten und Gemarterten mochten zwei bis drei Monatsmieten gekostet haben, andere waren wohl mit Kugelschreibertinte im Gefängnis entstanden. Oder auf dem Schulhof.
„Was ist passiert?“, fragte Balrog, während er Lenas Wunden auf Splitter untersuchte und mit nassem Toilettenpapier vorsichtig das Blut von ihren Händen wischte.
Lena überlegte kurz. Zu kurz. „Ich bin mit der Zahnbürste ausgerutscht.“
Balrog erstarrte einen Moment lang und sah sie an. Dann widmete er sich wieder ihrer Hand.
„Du solltest dir eine elektrische kaufen“, sagte er. „Empfehlen auch fast alle Zahnärzte. Schläft dein Freund schon?“
„Mein Kollege.“
„Was?“
„Er ist mein Kollege, nicht mein Freund. Er ist natürlich ein Freund, aber er ist nicht der Freund.“ Friend und Boyfriend. Hätte sie sich in der sechsten Klasse doch alle Besonderheiten des englischen Vokabulars so gut merken können, ihren Eltern wäre die Demütigung erspart geblieben, die ach so schlaue Tochter vom Gymnasium auf die Realschule wechseln zu sehen. Wahrscheinlich hatte Papa damals auch geweint.
„So genau will ich es gar nicht wissen“, sagte Balrog. „Ich hab mich nur gewundert, dass er nicht hier ist, also schläft er wohl schon.“
„Er war ziemlich besoffen“, sagte Lena.
„Ja?“
„Ja. Auf jeden Fall.“
Beim Frühstück hatte Michi zunächst darauf geachtet, nur Dinge auf den Teller zu laden, von denen auch Balrog schon gegessen hatte. Jetzt legte er ein Spiegelei auf sein Brot, darauf eine dicke Scheibe weißen Schinkenspecks. Er nahm eine Tomate und betrachtete sie herablassend, legte sie ungenutzt neben seinen Teller und begrub den Schinken unter einer weiteren Schicht Eier.
„Du solltest dir ein Beispiel nehmen“, sagte Balrog zu Lena, die an einer Scheibe Brot mit etwas Butter und Salz knabberte. „Der Weg ist lang.“
Michi starrte die Bandagen an Lenas Händen an, Eigelb floss seine Mundwinkel herab.
„Wie ist das jetzt genau passiert?“, fragte er.
„Im Bad, mit dem Spiegel irgendwie“, antwortete Lena. „Ich bin ausgerutscht. Ist ja ziemlich eng da drin. Balrog hat mich verbunden. Keine Ahnung, ich war auch betrunken, so genau weiß ich es echt nicht mehr.“
Michi nickte. „Ja, ich weiß auch quasi nur noch, dass wir hier aus dem Auto gestiegen sind und dann Filmriss.“
Er sah Lena in die Augen und schien darin etwas zu erkennen. Er mied ihren Blick für den Rest des Frühstücks und konzentrierte sich auf seine Eier- und Schinken-Schichtarbeit.
Ein kurzes Stück des Weges ging Michi rückwärts und filmte Lena und Balrog von vorn. Da die Strecke nicht eben blieb, hielt er das nicht lange durch. Zunächst machten sie für die Interviewpassagen kurze Pausen, doch irgendwann wanderte Balrog einfach immer weiter wie eine Maschine oder als wäre er in Trance. Die anfänglich gemache Spazierstrecke führte sie stetig tiefer in den Wald, an Stellen, an denen trotz der Mittagssonne Dunkelheit herrschte. Außerdem ging es die meiste Zeit bergauf. Lena spürte die jungen Wunden an ihren Händen pulsieren und das nasse T-Shirt unter dem Pullover und der Jacke kalt an ihrer Haut kleben. Hinter ihr hechelte Kamerakind Michi wie ein zu alter Hund. Das Gefühl, dass sie bei dem Geräusch empfand, erschreckte Lena. Es war Genugtuung.
„Filmst du?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
„Immer mal wieder.“ Das letzte Wort hatte sie kaum noch verstanden, es war im Hecheln aufgegangen. „Wenn du sagst film, film ich“, keuchte Michi. „Aber komm mir nachher nicht blöd, wenn man auf total verwackelten Bildern nur eure Rücken sieht. Zaubern kann ich auch nicht.“
„Film einfach“, sagte Lena. „Balrog?“
Er blieb stehen, die Hände in den Taschen seines schwarzen Ledermantels, ein wenig Schweiß auf der Stirn, aber die Atmung ruhig, als würde er schlafen. Als Lena bei ihm war, ging er weiter, deutlich langsamer als zuvor.
„Würde das Album anders klingen, wenn du zwischendurch nicht im Gefängnis gewesen wärst?“, fragte Lena.
„Sicher.“
„Inwiefern? Schneller, langsamer?“
„Bei Jörmungandr ging es immer um Inhalte. Es interessiert mich nicht, ob irgendwelche Schwachköpfe denken, man könne dazu headbangen oder nicht.“
„Eure Fans sind Schwachköpfe?“
„Neunzig Prozent der Leute, die ich auf einem Konzert sehe, sind da, um zu saufen und sich vor der Bühne zu prügeln.“
„Und die anderen zehn Prozent?“
„Hören zu.“
„Das ist dir lieber?“
„Ja.“
„Und was sagt ihr den zehn Prozent auf All Hail the Damned?“
„Was wir ihnen immer sagen. Denk an dich.“
„Also keinerlei Veränderung nach dem Gefängnis?“
„Es klingt entschlossener als alle Vorgängeralben.“
„Frag ihn mal bitte, wohin wir gehen“, winselte Michi hinter ihnen. „Und vor allem wie weit es noch ist. Mir wird nämlich zwischendurch schon manchmal schwarz vor Augen. Ernsthaft.“
Die Bäume hatten sich gelichtet, der Schnee, durch den sie stapften, wurde dichter und dicker. Lena fragte und Balrog zeigte auf einen Punkt vor ihnen, der in Schweden liegen mochte, irgendwo kurz vor Moskau oder auch da, wo sie von der Weltenscheibe runterfallen würden ins Höllenfeuer.
„Wir sind ziemlich fertig“, sagte Lena. „Kannst du es uns nicht einfach sagen und wir gehen zurück?“
Balrog lächelte sanft und setzte seinen Weg fort.
Lena bedeutete Michi ihre Machtlosigkeit. Es war das erste Mal seit gut einer Stunde, dass sie sich zu ihm umdrehte. Fast hätte sie geschrien. Sein hochroter Kopf schien kurz vor der Explosion zu stehen.
„Ich sehe das nicht mehr ein“, sagte er. „Ich riskiere einen Kollaps, damit der Antichrist selbstzufrieden in Rätseln sprechen kann. Wenigstens weiß ich jetzt, warum er mich heute morgen so gemästet hat. Er will mich kotzen sehen.“
Balrog blieb stehen und drehte sich um. Michi hielt den Atem an, aber nur kurz. Seine Zellen schienen um Sauerstoff zu betteln.
„Ich hab ihr gesagt, ich krieg kaum noch Luft“, sagte er auf Englisch. „Wird ziemlich schwer so langsam.“
Balrog musterte Michi, das bedauernswerte, fette Schaf.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte er. „Wir gehen langsamer.“
Die Bäume verschwanden schließlich ganz, es gab nur noch Hügel und Schnee, eine Aussicht ohne Häuser und Straßen, die man bei höheren Temperaturen wohl hätte genießen können. Ein schwacher aber eisiger Wind verbiss sich in Lenas Gesicht, sie zog den Kragen ihres Pullovers über die Nase.
„Das ist so krank“, stammelte Michi hinter ihr. „Ich fasse nicht, was ich hier tue.“
Lena fuhr herum. Sie wollte Michi anfahren, er solle sich verpissen und ihr die Kamera geben. Sie hatte Eis in den Lungen, Schmerzen in den Fingern und Zehen und spuckte dunkelgelbe Schleimpfützen aus, obwohl sie drei Monate zuvor aufgehört hatte zu rauchen. Das alles nahm sie auf sich, für das Magazin, für das Interview.
Michi sank auf die Knie, die Kamera fiel in den Schnee. Er stützte sich ab, seine nackten Hände im brennend kalten Weiß. Er würgte kurz, aber alles, was da von seinen Lippen hing, war ein langer, beneidenswert klarer Speichelfaden. Solange Lena ihn kannte, hatte sie Michi noch nie mit einer Zigarette gesehen.
Ob Balrog wirklich nicht bedauerte, was er getan hatte? Auch Lena konnte behaupten, dass Michi angefangen hatte. Trotzdem tat er ihr plötzlich unendlich leid, wie er da auf allen Vieren kroch und versuchte, mit ihr Schritt zu halten.
Sie hob die Kamera auf. „Ist alles in Ordnung?“
Er zeigte ihr den Mittelfinger.
Lena zuckte die Schultern. „Blöde Frage, aber du hast doch früher schon gemerkt, dass du's nicht schaffst. Warum hast du nichts gesagt?“
Michi spuckte aus und sagte: „Fick dich.“ Der Rotz hing von seinem Kinn wie ein Eiszapfen. Balrog stand auf einer Anhöhe, er sah über die Wälder, über die Schafe hinweg.
„Ich glaube, wir haben's geschafft“, sagte Lena.
Michi winkte ab. „Noch ein Schritt und ich werde ohnmächtig.“
Lena unterdrückte das Bedürfnis, ihn über den Kopf zu streicheln.
„Ich gehe rauf, ja? Das wird die irrste Ausgabe aller Zeiten. Da kriegen wir einen Preis für. Wir bauen uns selbst einen, wenn wir keinen kriegen. Wir haben's echt verdient.“
Michi ließ sich stöhnend auf den Hintern fallen. „Aber beeil dich, ich geh gleich zurück.“
„Quatsch“, sagte Lena. Sie sah von oben herab auf den Wald, durch den sie gekommen waren. Er erstreckte sich bis zum Ende der Weltenscheibe. Wahrscheinlich würden sie ihn nicht vollständig durchquert haben, wenn es dunkel wurde.
„Wir gehen zusammen“, sagte sie. „Ja?“
„Klar.“ Er lag mit angewinkelten Knien auf dem Rücken und starrte in den Himmel.
Auf dem Weg die verschneite Anhöhe hinauf rutschte Lena zweimal aus. Beide Male hob sie instinktiv die Kamera in die Höhe und fing sich mit der freien Hand ab. Beim ersten Mal schrie sie, weil die frisch verkrusteten Schnitte wieder aufplatzten. Der rote Fleck auf ihrem mittlerweile schmutzig weißen Verband wuchs. Beim zweiten Sturz spürte Lena ein heißes Stechen im Handgelenk. Balrog starrte ungerührt geradeaus, als bemerke er die Eleganzlosigkeit nicht, mit der sie angekrochen kam. „Arschloch“, flüsterte Lena.
Sie richtete die Kamera auf Balrog und drückte den Aufnahmeknopf. Das Haus, vor dem er stand, war kein Haus, eher eine Hütte, in der Lena wohl ebenso den Kopf hätte einziehen müssen wie in dem Gästezimmer.
„Was ist das?“, fragte Lena.
Balrog ließ das Ende der Welt nicht aus den Augen.
„Meine Großeltern haben es selbst gebaut“, sagte er.
„Kann man da reingehen?“, fragte Lena.
„Du kannst mal hineinsehen. Aber kein Filmen.“
Balrog legte einen Arm um Lena und drückte die Kamera sanft runter. In einer Wand war ein Loch, das einst als Fenster gedient haben mochte. Schmutziges, löchriges Tuch füllte es aus. Balrog presste es nach unten, sodass sie durch den entstandenen Spalt hineinsehen konnten. Auf einem Ofen stand ein Teekessel, ein Topf hing an einem Haken von der Decke. Ein Gewehr lag auf dem Boden zwischen den Knochen, die in ewiger Umarmung zerfielen. Nur einer der menschlichen Schädel war als solcher zu erkennen, er musste sich den Lauf in den Mund gesteckt haben, sodass nur der Hinterkopf gesprengt worden war. Das Gesicht der Frau lag in Trümmern wie ein unfertiges Puzzle. Balrog dichtete das Fenster sorgfältig wieder ab.
„Wir müssen zurück“, sagte er.
Michi und Lena stützten sich gegenseitig wie verwundete Soldaten, die von einem Schlachtfeld kamen. Balrog sputete voran, ohne sich nach ihnen umzudrehen. Sie riefen seinen Namen, aber er winkte sie nur ungeduldig heran und rief, sie sollen sich beeilen, es werde dunkel.
„Was ist da oben?“, fragte Michi. „Seine Pornosammlung?“
„Seine Großeltern“, sagte Lena.
„Was?
„Das Haus seiner Großeltern.“
„Aha.“ Michi spuckte aus.
„Und die leben noch?“
Lena schüttelte den Kopf.
„Nein. Die leben nicht mehr.“
Ein kurzes Stück stolperten sie schweigend voran.
„Spinner“, sagte Michi schließlich.
„Beeil dich“, befahl Lena, denn Balrog hatte recht.
Es wurde dunkel.