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All die ganzen Jahre
Das Heroin verteilte sich in seinem Körper. Er spürte die Leichtigkeit. Sie half ihn über den Tag hinweg. Die Schwerelosigkeit, das Vergessen all seiner Schmerzen und Probleme. Seit fünf Jahren hing er an der Nadel. Damals, er war 15, begann sie, die Sucht, die Abhängigkeit. Sein Körper war ein Wrack. Schöne Tage, für in waren es die Tage, an denen seine Einstichlöcher am linken Unterarm nicht entzündet waren und nicht den süßen, verfaulten Geruch von Eiter absonderten. Er war 15 als seine Mutter starb, sein Vater war der Situation nicht Herr. Er suchte nach anderen Vorbildern. Vielleicht sogar war es die Sehnsucht nach einer neuen, starken Familie, die ihn in die Arme von Pietro trieb. Pietro war Ukrainer. Drogendealer. Pietro wurde sein Freund. Er schenkte ihm Aufmerksamkeit und Drogen. Ein halbes Jahr lang. Danach begann er sich für die Droge zu prostituieren. Pietro vermittelte ihn an wohlhabende Geschäftsmänner, keiner jünger als 50. Sie genossen es, ihm, wie sie es nannten, Gehorsam einzuprügeln. Ihre dicken, harten Schwänze bohrten sich in seinen Enddarm und ließen ihn vor Schmerzen schreien. So finanzierte er sich sein kleines, unbedeutendes Drogenleben.
5 Jahre hält seine Drogenkarriere an. 5 Jahre, in denen er seine Leben ruinierte. Sich immer wieder sehr nah an den Abgrund des Todes wagte. In den wenigen klaren, und nicht durch die Sucht bestimmten, Momenten, realisierte er seine Situation. Fast schon zu klischeehaft hatte sein Leben diesen Wandel genommen. Er sagte sich selber, dass er in so einer Situation nichts verloren habe. Wie komme ich, Stefan Herzner, nur in so eine Lebenslage?
Die Wirkung des Heroin ließ nach. Er erwachte. Es hatte begonnen zu regnen. Die Menschen, die die Fußgängerunterführung betraten, hatten alle ihre Schirme aufgespannt. Sie kamen aus, oder waren auf den Weg in die Stadt. Noch auf die Schnelle Weihnachtseinkäufe erledigen. Stefan erhob sich, und stütze sich mit beiden Händen gegen die, mit Plakaten und Graffiti übersäte, Betonwand. Über ihm führten Schienen entlang. Jeder Zug, der dort entlang ratterte, rief Kopfschmerzen hervor. Eines war klar, er bräuchte einen nächsten Schuss, und das schon möglichst bald.
Es gab da nur ein Problem, er hatte nicht mehr das nötige Geld. Es würde reichen, um sich bei den Crack- Dealern am Bahnhof was zu holen. Doch seiner Erfahrung nach, war das Zeug von dort nicht sauber. Es blieb nur einer übrig, bei dem er seine Ration bekommen würde. Pietro. Doch Pietro will Bares sehen.
Stefan hatte sich geschworen, nie wieder seinen Körper zu verkaufen. Nie wieder würden ihn alte Männerhände anfassen, würden ihm kranke Schweine in den Arsch ficken. Aber er brauchte Geld, und das wirklich schnell.
Der etwas in die Jahre gekommene, aber dennoch jugendlich wirkende Mann öffnete ihm die Tür. Stefan trat ein und schaute sich um. Er befand sich in einem schlecht ausgeleuchteten Keller, der keine Kellerluke oder ähnliches aufwies, so dass er von der Straße nicht einzusehen war. Der Mann drehte sich um. Mit freundlicher, aber bestimmter Stimme wendete er sich an Stefan.
„Willst du das Ding mal anfassen?“
Stefan wirkte etwas eingeschüchtert und zurückhaltend. Nach kurzem Überlegen willigte er ein.
„Ist wirklich ein Prachtstück.“ sagte der Mann. Stefan nickte.
„Was willst du dafür haben?“
„Hmm…gib mir fünfzig, ok?“
„Ja, ok.“
Stefan drückte dem Mann das Geld in die Hand.Er hatte einen Freund angepumpt, mit dem Versprechen, es ihm möglichst bald wiederzugeben. Im Gegenzug überreichte er ihm die Pistole. Eine 45mm Halbautomatik.
„Neun Schuss in 5 Sekunden“ gab sich der Alte als Experte.
„Ok, wie sieht’s mit Kugeln aus?“
„Warte“
Nachdem Stefan die Kugeln erhalten hatte, verließ er den Keller. Die Pistole hatte er sich in den Hosenbund gesteckt und seinen Pulli darüber geschoben. Es war spät geworden.
Stefan stand schon eine ganze Weile vor dem McDonalds Restaurant. Drinnen war es leer. Er nahm noch einen letzten Schluck 80er Strohrum, stellte die Flasche behutsam auf dem Boden und begab sich in Richtung Eingang. Gleich würden seine Geldsorgen verschwunden sein, jedenfalls für die nächsten Wochen. Mit entschlossenen Schritten betrat er den Laden. Ein blondes Mädchen stand hinter der Theke. Er hatte die Kapuze seines Pullis weit ins Gesicht gezogen, bis unter die Nase hatte er einen Schal geschoben. Als er direkt vor der Theke stand riss er die Waffe hervor.
„Keine falsche Bewegung, halt die Fresse und gib mir das Geld aus der Kasse“ schrie Stefan das Mädchen an.
Die junge Frau wurde bleich. Panische Angst erfüllt sie.
„Mach schneller“ Stefan wurde ungeduldig.
Plötzlich hob das Mädchen ihren aus Angst gesenkten Kopf.
„Stefan?“ fragte sie vorsichtig.
Scheiße, dachte dieser sich. Er hatte das Mädchen schon beim Betreten erkannt. Sie hieß Jana, war genau so alt wie er, und damals die Einzige, die versucht hatte, nach dem Tod seiner Mutter, sich um ihn zu bemühen. Sie wollte ihm helfen. Aber das war Vergangenheit. Stefan hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Einen Weg, für den er nur Vertrauen in sich selber brauchte.
„Mann, was machst du hier für eine Scheiße?“ schrie Jana.
Stefan sagte nichts.
„Willst du dir etwa dein ganzes Leben kaputt machen? Leg die Waffe weg. Bitte!“
Sein rechter Zeigefinger zog sich zusammen. Langsam betätigte er den Abzug. Die Kugel traf Jana direkt links neben der Nase. Sie durchstieß ihren Wangenknochen und trat aus ihrem Hinterkopf wieder heraus. Dabei riss sie die Hälfte ihres Schädels mit sich. Wie ein Kürbis, der aus einem Hochhaus geworfen wird und auf dem Asphalt zerschmettert, zerplatzte der hintere Teil ihres Kopfes. Völlig in Trance griff Stefan in die offen stehende Kasse. Er stopfte sich das Geld in seine Hosentaschen und rannte hinaus in die dunkele Nacht.
Kurze Zeit später stand er vor dem Haus, in dem Pietro wohnt. Er schellte. Durch die Gegensprechanlage meldete sich mit knarrender Stimme der Dealer.
„Ja, wer ist da?“
„Ich bin’s, Stefan“
Es summte. Stefan stieß die schwere Haustür auf. Pietro hatte seine Wohnungstür offen stehen lassen. Stefan betrat die Heimat des Ukrainers. Er fühlte sich immer wohl bei Pietro. Die Wohnung war recht klein. Sie bestand aus einem kombinierten Wohnzimmer und Schlafzimmer mit Küchenzeile, so wie einem Bad mit Dusche und WC. Pietro saß auf der braunen Ledercouch, die parallel zum Fernseher stand. Die drei überfüllten Ascher auf dem Tisch wiesen auf Pietros Nikotinsucht hin. Die einzige Sucht, die Pietro hatte. Er verdiente nicht schlecht mit dem Drogengeschäft. Aber er war auch nicht so blöd, seinen Reichtum in aller Öffentlichkeit zu präsentieren, zumal er auch noch Sozialhilfe kassierte.
„Was willst du?“ fragte Pietro.
„Ich brauche Stoff“
„Hast du Cash“ grinste Pietro. Stefan wusste, dass er keine Scherze machte. Er zog zwei Scheine aus der rechten Tasche seiner hellen, ausgeblichenen Jeans, und legte sie auf dem Tisch. Pietro nahm sie und ging mit ihnen zu einem kleinen Schreibtisch, der in der Ecke des verrauchten Raumes stand. Mit der linken Hand schaltete er eine Tischlampe ein, er hielt die Scheine darunter und überprüfte im Schwarzlicht ihre Echtheit. Er knipste die Lampe wieder aus, zog eine Schublade aus dem Schreibtisch, legte die Geldscheine hinein und nahm mit der anderen Hand ein kleines Päckchen mit weißem Inhalt heraus.
„So, viel Spaß damit“ er schmiss Stefan das Päckchen zu. Stefan fing es, sagte nichts mehr und verließ die Wohnung.
Als er den Löffel mit Heroin über das Teelicht hielt, das vor ihm auf dem Boden stand und erneut ein Zug über seinen Kopf hinweg fegte, da fiel ihm Jana ein. Sie hatte immer versucht ihm zu helfen. Sie wollte mich vor meinem jetzigen Leben bewahren, dachte sich Stefan. Selbst heute Abend hatte sie noch versucht mir zu helfen und ich habe sie erschossen. Einfach so. Stefan musste weinen. Das letzte Mal hatte er geweint, als seine Mutter gestorben war.
Noch bevor die letzten Tränen getrocknet waren, spürte er, wie die Blutzirkulation in seinem linken Unterarm, aufgrund des Lederriemens, den er um den tätowierten Oberarm gebunden hatte, nachließ. Die Spitze der Spritze durchstach die ersten Hautebenen. Bald, sehr bald, würde er Jana, sein Leben und seine Probleme vergessen haben. Die Passanten würdigten ihn keines Blickes und liefen in die Stadt, um noch schnell Weihnachtsgeschenke zu kaufen.