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Alive!
Ihr Finger lag am Abzug. Sie zitterte. Der Lauf der Waffe schwang leicht auf und ab. "Das wollen Sie nicht wirklich..." - Beruhigend klang seine Stimme, fast beschwörend.
Beschwichtigend hob er die Hände.
"Arme runter!", schrie sie. Dicke Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Ihr ungesund weißes Gesicht hob sich merkwürdig geisterhaft von den grauen, schmutzigen Wänden dahinter ab. Sie zog die schmalen Lippen auseinander. Blass wirkte sie, anämisch, als befände sich kaum noch ein Tropfen Blut in ihrem Körper. "Hast du nicht gehört?", schrie sie und riss den Arm hoch.
Ein lauter Knall.
Abraham zuckte unwillkürlich in sich zusammen. Sein Glück! Direkt hinter ihm zersprang eine Glasscheibe.
"Hoch! Hoch mit dir, aber schnell!" - Gefährlich nachlässig fuchtelte sie mit der Waffe herum. Sein Leben schien für sie ohne Bedeutung.
Besorgt registrierte er den fiebrigen Glanz in ihren Augen. Ein Junkie? Wusste sie überhaupt, was sie tat?
Nur keine Provokation! Abraham richtete sich gerade auf. "Was wollen Sie? Mein Geld? Meine Brieftasche?" - Er machte Anstalten in sein Jackett zu greifen.
"Lassen Sie das!", fauchte sie. Ihr Finger am Abzug krümmte sich bedächtig.
Langsam ließ er seine Hand zurück sinken. "Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?" - Seine Stimme klang so ruhig und bedächtig, wie es unter diesen Umständen nur möglich war. Von Angst war ihm nichts anzumerken. Sicher, er schwitzte ein wenig mehr als sonst unter dem schicken neuen Anzug, einem Maßanzug aus Italien. Aber selbst, wenn er darin in seinem eigenen Saft geschwommen wäre, hätte es seiner würdevollen Ausstrahlung keinen Abbruch getan.
"Mir helfen?", schrie sie aufgeregt. Ihre Stimme klang schrill. Für einen Moment hatte es den Eindruck, als würde sie gleich abdrücken.
Selbst in diesem kurzen, bangen Augenblick verlor Abraham seine Beherrschung nicht. Sein Gesicht blieb entspannt. Freundlich, ja geradezu liebevoll ruhten seine kleinen, grauen Augen auf der Frau.
Entsetzten in ihren Augen. Ihr Atem beschleunigte sich. Hecheln. Röcheln. Ein grauenvolles Husten. Sie krümmte sich vor Schmerz. Trotzdem, die Waffe blieb auf ihn gerichtet. Keine Chance.
"Schau mich nicht an... - Schau mich ja nicht an! - Los hinknien! Du Dreckschwein, los, auf die Knie!"
Sie kam näher. Die Waffe zielte auf sein Gesicht.
Abraham nickte und ging langsam auf die Knie hinunter. Noch bis vor Kurzem hatte er fast täglich auf dem Tennisplatz seinen Ärger heraus gespielt. Jetzt bevorzugte er Golf. Dennoch, seine Bewegungen zeugten von gutem Körpertraining. Für einen Mann seines Alters mehr als ungewöhnlich.
Er kniete in einer Pfütze, die vom letzten Regenschauer übrig geblieben war. Das Wasser drang durch den Stoff der Hose. Es fühlte sich kalt an. Eiskalt.
Die Frau trat hinter seinen Rücken. Er spürte den Lauf der Waffe an seinem Hinterkopf. "Ich werde dich abknallen!", zischte sie. Ihre Stimme quietschte ein bisschen, als wäre sie außer Kontrolle geraten.
"Ich bin ein alter Mann.", sagte Abraham ruhig.
"Halt´s Maul, alter Mann!" - Blanker Zynismus. "Halt´s Maul!"
Schluchzen.
Der Lauf an seinem Hinterkopf schliff durch sein volles, silbernes Haar.
"Warum bist du hergekommen? Warum..." - Tränen erstickten ihre Worte.
Es donnerte. Der nächste Regenschauer kündigte sich an. In der abgelegen Seitengasse hinter dem alten Fabrikgelände wurde es merklich dunkler.