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Alina kommt heim
Als das Flugzeug am Moskauer Flughafen Scheremetjevo landete, klatschten nur wenige Leute, denn die meisten Fluggäste waren Russen. Alina schaute aus dem Fenster und sah Reihen von identischen Betonhäusern, die aus der Ferne wie aufgestellte Streichholzschachteln aussahen, und spürte plötzlich, dass ihr das Atmen wehtat. Jedes Mal, wenn sie in Moskau ankam, fühlte sie einen seltsamen Schmerz in den Lungen, und sie stellte sich vor, die Lungen wären ihre Seele. Und das seit zehn Jahren. Man hat nur eine Heimat, dachte sie, aber man merkt es erst, nachdem man sie verlassen hat. Alinas Freundinnen saßen daneben, sahen das Gleiche und langweilten sich. Sie waren Gäste.
Man hat nur eine Heimat, und, wenn man Glück hat, einige Freunde. Alina hatte zwei Freundinnen, Leonie und Yang. Sie hatten sich dieses Mal mit nach Moskau eingeladen. Diese Eigeninitiative verursachte logistische Probleme, denn sie mussten irgendwo schlafen und irgendwie unterhalten werden. Alina freute sich trotzdem darüber, dass sie mitgekommen waren, denn sie hatte keine Freunde mehr in ihrer Heimat, somit war die Heimat nur noch ein Denkmal an die dort verbrachte Kindheit, die mit der Zeit immer heller und schöner erschien.
„Ich will nicht, dass diese deine Leonie mitkommt“, hatte Alinas Mutter zu ihr gesagt. „Dass sie mir eine Miene verziert, wenn sie unsere Wohnung sieht, und ihren Eltern erzählt, in welchen furchtbaren Bedienungen die Russen leben. Yang kannst du mitnehmen. Sie ist nicht so verwöhnt.“ Aber Leonie war mitgekommen, sie saß nun hinten im Auto und folgte den grauen Wohnblöcken mit den Augen. „Sieht aus wie Peking vor dreißig Jahren“, sagte Yang. Leonie sagte nichts. Als sie ankamen, erklärte sie sich freiwillig bereit, auf dem Klappbett zu schlafen. Keiner lobte sie dafür. Es war spät, und alle waren müde.
Alina saß mit ihrer Mutter in der Küche, sie tranken Tee und erinnerten sich an die alten Zeiten. Aus dem Fenster sah man Alinas Grundschule. Das Fensterbrett war vergilbt, die Tapeten hatte in den zehn Jahren ihrer Abwesenheit keiner gewechselt. Die Wohnung erschien immer kleiner, je mehr der Tag ihrer Emigration in die Vergangenheit rückte. Alinas Tante wohnte hier mit ihrem Mann, Tochter, Schwiegersohn und Enkelin. Sie waren für zwei Wochen zu ihrer Datscha abgereist, damit Alinas Familie in dieser Zeit in Moskau leben konnte. Sie waren weg, doch ihre Sachen lagen überall in der Wohnung rum. Alina sagte zu ihren Freundinnen, sie dürften nichts anfassen, was nach dem Privatbesitz der Tante aussah, wohl wissend, dass der Hinweis überflüssig war. Leonie würde auch ohne ihre Predigten nichts in die Hand nehmen, und Yang bastelte bereits eine Kette aus Tantes glitzernden Haarklammern.
Am nächsten Morgen besuchten sie den Kreml. Leonie hatte einen Plan erstellt, wohin sie jeden Tag gehen könnten, dabei gab es mehrere Alternativen, damit für jeden etwas dabei war. Aber der Kreml war das Herz von Moskau und damit Pflicht. Yang lernte dort chinesische Touristen kennen, sie waren jung und trugen große Rücksäcke, vermutlich Studenten. Sie luden Yang irgendwohin ein. Yang sagte, sie würde es sich überlegen und gab ihnen eine falsche Handynummer. Leonie lernte niemanden kennen, obwohl sie Menschen Deutsch reden hörte. Sie dachte darüber nach, dass eine Hauptstadt nichts über das ganze Land aussagte. Leonie war mit ihren Eltern oft gereist und hatte viele Hauptstädte gesehen. Sie hatten alle ihren eigenen Charme, und doch waren sie alle ähnlich pompös. Diesmal verreiste sie mit fremden Eltern, lebte in ihrer ohnehin kleinen Wohnung, dabei hatte Leonie gedacht, in Moskau wären alle wohlhabend. Jetzt luden sie die fremden Eltern auch noch in ein Café ein, bestellten Pfannkuchen und zahlten dafür. Ihr blieb ein Stück Pfannkuchen im Hals stecken, als sie das sah, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Während sie mit ihrem Gewissen kämpfte, aß Alina ihren Pfannkuchen auf, den sie unvorsichtigerweise zu lange im Teller liegen gelassen hatte. Die fremden Eltern bestellten ihr dann einen Neuen.
„Zieht Absätze an, möglichst hohe“, sagte Alina, als sie sich am Abend zum Ausgehen kleideten. Die Mädchen hatten beschlossen, in einen beliebten Club mit schlechtem Ruf zu gehen. Leonie zog einen langen grauen Top an, das betonte ihre Figur.
„Was ist das? So wirst du nicht reinkommen“, warnte Alina.
„Man muss es ja nicht übertreiben mit den Klamotten“, antwortete Leonie mit einer Lehrerstimme. Sie war etwas gekränkt, das graue Top war ihr Lieblingskleid. Aber das behielt sie für sich.
„Wenn ihr euch besäuft, braucht ihr nicht mehr nach Hause zu kommen. Ihr könnt dann gleich zurück nach Deutschland fliegen und dort weiter saufen. Was lachst du? Hast du vergessen, wie gefährlich es hier ist? Wenn deine Leonie irgendwo vergewaltigt wird, werde ich schuld daran sein, weil ich euch nachts aus dem Haus ließ. Eigentlich sollte ich euch nirgendwohin gehen lassen. Habt ihr am Tag nicht genug Zeit?!“ Alina versprach ihrer Mutter, um drei zu Hause zu sein. Wären sie nicht ausgewandert, dann würden sich ihre Eltern nicht so paranoid anstellen, dachte sie. Dann wäre alles anders. Aber nicht unbedingt besser.
Sie kamen tatsächlich nicht rein, aber nicht wegen Leonies Lieblingskleid, sondern wegen der langen Schlange, die sich keinen Millimeter voran bewegte. Ein Teil der Schlange zog zu einem anderen Club mit dem kommunistisch angehauchten Namen „Red Oktober“. Dort verlangte man 20 Euro Eintritt, das ließ Alinas Nostalgie sofort verschwinden. Sie gingen trotzdem rein. Der DJ spielte nur russisches Elektro. Die Besitzer vom „Red Oktober“ bemühten sich um eine noble Einrichtung und schöne Tänzerinnen. Die Ausstattung grenzte an Kitsch, die mit Samt überzogenen Wände ergaben eine absurde Kombination mit den fünfzackigen roten Sternen an den Barthecken. Die Tänzerinnen glänzten, wie Fische, und bewegten sich, wie Brasilianerinnen auf Extasy. Keiner schien hier zu wissen, dass man es nicht übertreiben sollte. Die Clubbesucherinnen sahen aus wie teure Prostituierte, gebräunt und knapp bekleidet. Leonie wurde traurig, sie mochte keine Glitzer. Ihr wurde plötzlich klar, dass sie nicht tanzen konnte. Sie stand einige Minuten lang verloren auf der Tanzfläche und ging dann zur Toilette.
Alina und Yang fanden ein freies Sofa und setzten sich. Sofort tauchten junge Männer auf, die es vor ihnen besetzt hatten, und forderten die Mädchen auf, zu verschwinden. Sie hatten eigene Frauen dabei und brauchten keine neuen, aber das Sofa brauchten sie. Im Stehen zu saufen war ungenießbar, davon wurden die Beine müde. Sie äußerten ihren Wunsch höflich, aber entschlossen. Yang lächelte unverstehend und blieb sitzen, sie verstand alle Sprachen intuitiv. Die Männer standen da und warteten.
Als Leonie aus der Toilette zurückkam, entschieden sie sich plötzlich um. Es sei genug Platz für alle da, sie können ja aufrücken. Ein junger Mann, der sich als Igor vorgestellt hatte, setzte sich neben Leonie und erzählte ihr von sehenswerten Orten in Moskau. Seine Hand lag auf ihrem Oberschenkel und rutschte immer höher. Leonie schwieg, lächelte und trank den dritten Wodka Lemon.
Leonie war groß und blond, sie hatte immer Männer in Clubs angezogen, wie ein Magnet. Es war die Art von Typen, die in der Hoffnung auf schnellen Sex alle attraktiven Mädchen anmachten. Meistens bekamen sie eine Abfuhr, selten, wenn sie Glück hatten, einen Quickie. Doch Leonie war höflich und zurückhaltend, deshalb blieben die Männer stundenlang an ihr kleben. Sie hatten den Eindruck, dass sie ihnen zuhörte und sie vom tiefsten Herzen verstand. Manche vergaßen sogar ihr ursprüngliches Vorhaben und erzählten Leonie von ihrem harten Schicksal, bis sie von Yang oder Alina weggezogen wurde.
Igor und seine Hand an Leonies Oberschenkel waren somit nicht überraschend und sogar vorhersehbar. Er bestellte Absinth für alle. Auf Alina hatte der Absinth eine seltsame Wirkung, sie legte sich auf den Boden und lachte hysterisch. Auf Leonie hatte er überhaupt keine Wirkung. Yang trank keinen Absinth und schaute oft auf die Uhr.
„Sag mal, siehst du die Leo irgendwo?“, fragte sie Alina etwas später.
„Aaaah. Wen?“
„Leo. Hast du sie gesehen?“
„Ja“
„Wo?“
„Aah. Nein.“
Yang lächelte nicht mehr. Ihr wurde klar, dass sie aus dem Club nicht rauskommen konnte. Alina war nicht mehr zurechnungsfähig. Leonie war vor kurzem mit dem Russen verschwunden und kam nicht zurück. Es war halb drei. Sie hatte keine Adresse.
Leonie lief mit Igor durch nächtliche Straßen. Sie gingen an Cafes vorbei, die wie mit buntem Licht gefüllte Aquarien aussahen. In Moskau gab es Restaurants, die rund um die Uhr offen waren. Das gab es in Kirchheim nicht. In Kirchheim gab es keine Männer, die eine Ausländerin um drei Uhr nachts zum Essen einladen, damit sie nicht nach Hause fährt. Leonie hatte Hunger, sie wollte bei McDonalds essen und in den Club zurückkommen. Warum McDonalds? „Restaurants sind doch teuer“, sagte sie. Aber es war weit und breit kein McDonalds in Sicht.
„Ich habe noch nie gesehen, dass eine Frau so viel trinken kann, und du bist nicht einmal betrunken“, lachte Igor. „Sind in Deutschland alle so?“ Leonie zuckte mit den Schultern. „Natürlich bin ich dicht“, sagte sie nüchtern. Sie reagierte langsam. Was hätte eine betrunkene Frau sonst machen sollen, sich auf den Boden legen, wie Alina? Man sollte es nicht übertreiben. Es ist durchaus möglich, das eigene besoffene Verhalten in anständigen Rahmen zu halten.
Sie saßen in einem Restaurant und redeten. Igor erzählte, er hätte eine Firma, die mit Schmuck handelte. Leonie glaubte ihm nicht. Igor war 24. Er wollte cool dastehen und log, um ihr zu gefallen, dachte sie. Sie wollte nicht, dass er für sie zahlt, traute sich aber nicht, das zu sagen. Leonies Gedanken vermischten sich mit den Restaurantlämpchen, sie blinzelte langsamer als sonst. Die Wand war aus Glas, sie saßen fast im Himmel, der sie in die endlose schwarze Weite rief. Von oben würden sie Moskau sehen.
„Weißt du, ich will immer … jung bleiben … so wie jetzt. Weil danach nichts mehr kommt. Glaubst du nicht? Leonie, Leonie. Ich will mein Leben verbrennen, wie ein Streichholz …“ „Was? Warum?“, fragte Leonie verwirrt. Das macht keinen Sinn, dachte sie. Das macht alles keinen Sinn. Man lebt lang. Sie wollte zu McDonalds und zurück. Das hier war nicht geplant. Mann, Mädels, wo seid ihr? Antworten nicht … Verdammte Tastatur … Treffe die verdammten Tasten nicht.
„Warum? Das ist doch eine romantische…mmmh…romantische Vorstellung, nicht? Manchmal sieht man jemanden, und dann dreht sich alles um. Man kann sich verlieben, so, auf den ersten Blick, und dann… als ich dich dort sah, in diesem verdammten… in diesem verdammten „Oktober“, du warst dort wie ein Engel, du solltest da nicht hingehen, in diesen verdammten… Mit mir kannst du hingehen, aber sonst nicht… Du bist wie ein Engel, weißt du das? Du bist hell. Ich habe mich in dich verliebt, vielleicht deshalb? Glaubst du mir?“ Igor lachte.
„Ich weiß nicht“, sagte Leonie.
„Glaubst du mir nicht?“
„Männer sind alle so zynisch“, antwortete sie.
„Dann bin ich ein zynischer Romantiker… Und du bist ein Engel…“
„Ich bin eine Realistin.“ „Aah, Realisten sind doch … die schlimmsten Zyniker. Du bist nicht so, neeein, du hast … eine reine Seele. Das sieht man gleich …“ Besoffen ist er, dachte Leonie. Aber ein guter Mensch. Redet wirres Zeug. Wer fährt mich jetzt nach Hause? „Gehen wir!“
Igor wollte nicht gehen. Im Club war seine Freundin, Lena, sie würde eine Szene machen. Das war zu anstrengend. Igor wollte keine Szene. Lena, Leonie, ist doch alles gleich. Er wollte mit dem deutschen Mädchen trinken und Sterne anschauen. Oder was auch immer da im Himmel zu sehen war.
Leonie übernachtete bei Igor. Sie war berauscht von einer betrunkenen Leidenschaft und wollte Sex. Sie biss die Adern auf seinen Armen. Die Decke schaukelte vor ihren Augen, ihr war etwas schwindelig.
Während Igor schlief, wurde Leonie allmählich nüchtern. Ihr war heiß. Sie fand ihre Unterwäsche nicht und ging nackt auf den Balkon, um sich abzukühlen. Es kannte sie sowieso keiner hier. Leonie atmete die Morgendämmerung ein. Sie verstand plötzlich, dass sie lebte, und wollte weinen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie zitternde, bunte Atome.
Leonie verschlief den halben Tag auf dem Klappbett. Alina stritt sich mit ihrer Mutter. „Und dass so was nie wieder vorkommt! Und sag deiner Freundin auf Deutsch, sie kann bei sich zu Hause rumhuren, nicht vor meinen Augen!“, schrie sie Alina an. „Obwohl, soll sie doch machen, was sie will. Ist nicht meine Tochter“, fügte sie bitter hinzu. Alina richtete ihrer Freundin aus, ihre Mama sei schlecht drauf, aber sie könne machen, was sie wolle. Leonie fand diese Erlaubnis aufgrund ihres Alters redundant. Ihre eigene Mutter hatte sie einmal angerufen und gefragt, ob alle gut angekommen waren. Wünschte ihnen viel Spaß. Das war’s.
Yang war nach der Party als Einzige nüchtern nach Hause gekommen und ließ sich jetzt diplomatisch das Bortschkochen beibringen. Sie schnitt Zwiebeln.
„So ungefähr?“
„Ja, ist gut.“
„Kann man in Russland mit einem Typ beim ersten Date schlafen?“, fragte Leonie vorsichtig. „Oder ist es bei euch nicht ok?“
„Date, so nennt man es also heutzutage“, antwortete Alina skeptisch.
„Naja, wir waren zusammen essen, von daher ist es ja schon wie ein Date.“
„Nein, das ist bei uns nicht ok“, sagte Yang. „Dafür wirst du feierlich hingerichtet. Du sollst mit ihm Händchen haltend unter dem Mond spazieren gehen, um lokale Anstandsvorschriften zu erfüllen, und das mindestens ein halbes Jahr. Nimm einen Urlaubssemester, ist doch cool. Ich werde auch mit dir bleiben.“
„Nee, danke!“
„.Das war ein Witz, Leo, du musst jetzt lachen und klatschen.“ Yang nahm Leonies Hände, klatschte und lachte selbst, ihre Augen tränten von den Zwiebeln.
Yang und Alina gingen in eine Karaoke-Bar. Leonie wollte nicht vor anderen Menschen singen. Sie traf sich mit Igor in seiner Wohnung. Offenbar verdiente Igor doch gut. Die Wohnung war groß, mit moderner minimalistischer Einrichtung. Igor hatte einen wesentlich besseren Geschmack als die Besitzer von „Oktober“. In seinem Schlafzimmer hingen vier Bilder von Nobuyoshi Araki. Natürlich Kopien, dachte Leonie.
Er schlug anstandshalber vor, einen Film anzuschauen, aber es fand sich keine DVD mit englischen Untertiteln, deshalb schliefen sie gleich miteinander. Igor flüsterte Leonie ins Ohr: „Ich liebe dich“. Er liebte sie wirklich in diesem Augenblick. Leonie hatte eine besondere, nordische Schönheit. Sanfte Gesichtszüge, helle Wimpern, blasse Porzellanhaut, sie glich einer märchenhaften Elfe.
„Danke“, antwortete Leonie und fügte nach einiger Überlegung hinzu: “Dito.“
„Was willst du in Zukunft machen, so in 10 Jahren?“, fragte sie ihn später, als sie durch Moskauer Stadtzentrum fuhren.
„In 10 Jahren? Keine Ahnung. Man kann nie wissen, was in der Zukunft passiert. Was meinst du eigentlich? Glaubst du an die ganzen Magier und Wahrsager? Nein, das passt nicht zu dir, du bist doch so eine Realistin.“
„Ich meine was anderes. Ich meine, was willst du im Leben erreichen? Oder wo willst du in Zukunft sein?“ Ich weiß nicht einmal, wo du jetzt bist, dachte sie.
„Ich will … Ich hoffe, ich werde glücklich sein. Wer weiß, ob ich da überhaupt noch lebe… Gott hat uns nicht die Fähigkeit gegeben, die Zukunft zu sehen. Vielleicht ist es das einzig Gute, was Er getan hat …“, sagte Igor nachdenklich. „Wir nennen es Hoffnung, aber wer weiß, was es ist.“
„Du bist schon lustig. Welcher Gott? Welche Magier? Ich will zum Beispiel eine Weltreise machen“, erklärte sie. „Ich werde zuerst arbeiten, um genügend Geld zu sparen, und dann mache ich eine Weltreise. Das ist wichtig für die eigene Entwicklung, verschiedene Orte zu sehen und verschiedene Kulturen, weißt du…“
Leonie hatte für diesen Tag Shopping mit ihren Freundinnen geplant, aber jetzt machte jeder, was er wollte. Alles ging durcheinander. Jetzt ging sie mit Igor shoppen. Leonie wollte zu H&M, aber sie fanden keinen. Sie fanden eine Chanel Boutique.
„Such dir aus, was du willst“, sagte Igor. Mit ihm machte Shoppen keinen Spaß. Leonie wollte keine Geschenke, vor allem wollte sie nicht mit Markenartikeln beschenkt werden. „Mir gefällt hier nichts“, versicherte Leonie. „Ich mag Chanel überhaupt nicht.“
„Warum?“
„Sie war mit einem Nazi zusammen.“
„Zu hart“, lachte Igor. „Nazis sind auch Menschen. Vielleicht hat sie ihn geliebt, ne?“ Leonie hatte eine interessante Aussprache, wie er fand. Fast korrekt, aber nicht englisch. Zu hart. Alles, was sie sagte, klang streng.
„Ich will dir etwas zur Erinnerung schenken. Damit du mich nicht vergisst.“
„Na gut, kauf mir ein Eis. Es wäre eine schöne Erinnerung, ein russisches Eis mit dir zu essen.“
Leonie war wie aus einer anderen Welt, edel und bescheiden. Sie hatte kein Fältchen zwischen den Augenbrauen und keine braun angemalten Wangenknochen, wie alle russischen Frauen, die er gekannt hatte. Sie war perfekt. Igor wollte sie nicht verlieren, er würde ein solches Mädchen nicht zum zweiten Mal treffen. Mit ihr erschien ihm das Leben nicht gut oder schlecht, sondern einfach und richtig.
„Wann gehst du zurück nach Deutschland?“
„In fünf Tagen.“
„Bleib.“
„Wie?“
„Mit mir.“
Alles leere Worte, dachte Leonie. Sie musste doch studieren.
„Du kannst hier auch studieren.“
Natürlich konnte man Wirtschaftswissenschaften im Ausland studieren. Aber das müsste man doch mindestens ein Semester im Voraus organisieren. Und Moskau wäre nicht ihre erste Wahl für ein Auslandsstudium, Igor hin oder her.
„Du bist anders als alle Frauen, die ich je getroffen habe. Andere wollten nur mein Geld, sie haben mich nicht geliebt. Und du willst nichts. Vielleicht hast du alles. Vielleicht kennst du das Geheimnis vom Glück. Geheimnisvolle Leonie.“
Leonie küsste ihn auf die Lippen. Sie spürte plötzlich eine endlose Weite und eine unerklärbare Sehnsucht in sich. Ihr tat Igor leid, den niemand liebte. Alinas Eltern taten ihr leid. Sie tat sich selbst leid.
„Hör mal, Leonie, dieser Igor gefällt mir nicht. Ich habe mit ihm geredet. Er macht kriminelle Sachen“, sagte Alina am nächsten Tag, als sie in der Küche Tee tranken.
„Wie?“ Leonie blieb der Atem stocken.
„Er und seine Partner kaufen alten Schmuck bei armen Menschen, meistens bei Rentnern, zahlen ihnen dafür nur ein Paar Euro. Darunter gibt es wertvolle antiquarische Sachen, die sie dann zu krassesten Preisen verkaufen.“
„Ist es hier illegal?“
„Hier ist alles legal“, seufzte Alina. „Aber es ist doch furchtbar, was sie machen! Sie rauben ja Menschen aus! Alte Menschen, manche waren im Krieg, sie haben für unsere Heimat gekämpft, damit der Arschloch Igor hier leben kann, und er nimmt ihnen das letzte weg, verstehst du?“
Leonie atmete wieder aus. Sie war nicht mit einem Kriminellen zusammen, das war wichtig. Billig anschaffen und teuer verkaufen, war doch der Grundprinzip der Marktwirtschaft, oder nicht?
„So kann man jedem Unternehmer Vorwürfe machen. So muss man die meisten Marken boykottieren. Du kaufst doch Klamotten bei H&M. Das ist im Prinzip das Gleiche“, antwortete Leonie. „Reg dich doch nicht so auf über Igor, wir fliegen eh in ein paar Tagen nach Hause“, fügte sie hinzu.
Leonie lud Igor in die Oper ein, um das ganze Essen in Restaurants etwas auszugleichen. Sie wollte ihm nicht auf der Tasche liegen. Außerdem hatte sie geplant, eine Oper zu sehen. Nach 15 Minuten wollte sie aus der Oper raus. Im stillen Gedenken an die teuren Eintrittskarten blieb sie sitzen. Während des ersten Aktes schrieb sie Yang in WhatsApp. Im zweiten Akt fragte sie Igor, ob sie nicht lieber aufs Klo gehen und rummachen könnten. Igor lachte und sagte, im Theater zu vögeln sei absolut respektlos. Sie taten es trotzdem.
„Wohin gehen wir?“
„Einfach so, spazieren. Warum magst du keine Oper?“
„Ich finde es langweilig, man versteht nichts von der Handlung, wenn die ganze Zeit nur gesungen wird.“
„Kannst du singen?“
„Nicht wirklich. Ich habe früher Ballett gemacht, aber dann hatte ich einen… wie heißt es…“ Kniescheibenvorfall. „Mein Knie ging kaputt. Und es musste dann operiert werden und so. Guck, ich habe immer noch eine Narbe.“
„Nein, Quatsch, du hast sehr schöne Beine.“
Leonie schaute ihn etwas beleidigt an, hatte sie etwa das Gegenteil behauptet?
„Danke. Diese weiße Narbe am Knie, siehst du? Ja, und dann… Dann habe ich noch eine Zeit lang Volleyball gespielt, und da habe ich mir den Ellbogen kaputt gemacht, den rechten. Ich musste danach zur Physiotherapie. Es ist ganz gefährlich mit den Gelenken beim Sport, ich hab mich schon so oft verletzt.“
„Interessant“, sagte Igor, Leonies Gelenke langweilten ihn. „Was denkt man in Deutschland eigentlich über Hitler?“
„Alina, stell dir vor, er hat gesagt, man sollte alle Juden nach Israel schicken. Sie haben alles in Russland geklaut, hat er gemeint, sie sind jetzt Politiker und Oligarchen, und andere Leute leben in Armut.“
„Man sollte ihn selbst sonst wohin schicken, am besten nach Sibirien, diesen Typ. Juden haben ihm alles geklaut, und das sagt der“, antwortete Alina genervt.
„Und Hitler findet er ok. Er glaubt, er war ein starker Leader und so. Ich hab ihm schon gesagt dass es falsch ist ... “
„Und?“
„Ich kann halt nicht so gut reden. Wie soll man jemandem erklären, dass Hitler schlecht war, das ist ja irgendwie selbstverständlich. Voll Scheiße. Er wird jetzt immer diese komische Überzeugung haben. Aber er kann ja auch nichts dafür, dass es hier in der Schule nicht so unterrichtet wird wie bei uns, die ganze Geschichte mit dem Dritten Reich … Und dann hört man irgendwas Radikales und glaubt das. Vor allem, wir haben das Thema in der Schule so oft durchgekaut, und ich konnte trotzdem fast nichts dazu sagen, wie dumm.“
„Tja, im Dritten Reich wärst du nicht gerade Goebbels rechte Hand, Leo“, lachte Yang. „Such a shame.“
Als Leonie vom Igors Haus zum Metro ging, bemerkte sie, dass etwas fehlte. Als sie zu Igor gekommen war, hatte sie eine Tasche gehabt, jetzt nicht mehr. Die Tasche lag wohl in Igors Wohnung. Leonie lief zurück. Vor den Wohnungstüren stand eine junge Frau und rauchte. Als Leonie näher kam, versperrte die Frau ihr den Weg und musterte sie mit einem schweren Blick. Sie hatte glatte, schwarze Haare, weit aufgerissene blaue Augen, und trug einen roten Balzer. Diese Details blieben Leonie in Erinnerung, denn im nächsten Augenblick schlug sie Leonie ins Gesicht. Leonie zuckte zusammen. Es war wie ein lauter Knall hinter dem Rücken. Wie ein Elektroschock. Es tat nicht weh. Igors Freundin war schwach, oder sie wollte nicht wehtun.
Leonie lief schnell die Treppe hinunter, mitten auf der Treppe blieb sie stehen. Die Frau schaute von oben auf sie, in ihren Augen schwamm schwarzer Hass. Sie verstand nicht, warum die schamlose Ausländerin immer noch da war. „Diese Missgeburt da“, die Frau zeigte auf Igors Tür, „diese Missgeburt ruiniert mein Leben. Und du, Hure, ruinierst mein Leben. Geh, Verschwinde! Oder ich weiß nicht, was ich mit dir mache. Mit ihm kann ich nichts machen.“
Die schwarzhaarige Frau sprach Russisch, und Leonie konnte sie nicht verstehen. Von ihrer Stimme bekam sie einen leichten Schauder. Ohne die Tasche konnte sie nicht nach Hause fahren. Ihr ganzes Geld, ihr Personalausweis und Alinas Adresse waren darin. Leonie stieg die Treppe wieder hoch und lief an der Frau vorbei. „Ich muss meine Tasche abholen“, sagte sie, zu niemandem gerichtet.
Leonie war mit ihren Eltern viel gereist. Sie hatte auf Reisen immer ihre Gedanken und Eindrücke aufgeschrieben. Dieses Mal hatte sie viele unbeantwortete Fragen. Warum hatte Alinas Mutter sie nicht gemocht? Von der Geschichte mit der Tasche wusste Alinas Mutter nichts, daran konnte es nicht liegen. Warum hatte Alina bei der Abreise am Flughafen geweint? Man kann sich nicht ewig an der Vergangenheit festhalten, sie ist vergangen. Man liest nicht immer wieder die gleiche Seite in einem Buch. Wenn Leonie ihre Kinderfotos anschaute, freute sie sich. Es war eine schöne Zeit gewesen. Sie kannte keine Nostalgie.
Leonie träumte davon, eine Weltreise zu machen. Nicht in jedem Land, aber zumindest auf jedem Kontinent wollte sie einmal gewesen sein. Auf Reisen schoss Leonie Fotos und schrieb Notizen, die sie zu Hause in einen Album mit braunen Seiten einklebte. Leonie konnte gut fotografieren, ihre Bilder waren nachdenklich, verträumt und künstlerisch. Davon wussten aber nur ihre Eltern, Alina und Yang. Von dem Album wusste überhaupt niemand, es war ihr geheimes Reisetagebuch. Leonie stellte sich vor, wie sie als alte Oma dieses Tagebuch durchblättern und sich daran erinnern würde, wie sie einmal jung gewesen war, lange Haare gehabt hatte, wie sie mit ihrem grünen Koffer durch fremde Städte gereist war, und sie würde bei diesen schönen Erinnerungen lächeln. Natürlich nur, wenn sie da noch lebte. Aber wenn sie da noch lebte, würde es bestimmt so sein.