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Alice
Sie hat eine Kugel, in der sich ein Dorf, ein Berg, ein Wald, eine Wiese, ein Tümpel und ein Fluss befinden. Im Wald lebt Bär, auf der Wiese Baum, im Tümpel Frosch, am Fluss Biber und auf dem Berg Adler.
Als sie sich dem Baum näherte, streckte sich dieser plötzlich.
"Du da! Was machst du hier noch? Wieso kümmerst du dich nicht um die Lieferung?"
Sie verstand nicht, stand nur da und wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Der Baum hatte schließlich kein Gesicht und keinen Mund.
"Beweg dich, oder ...", setzte er in einer plötzlichen Stimmungsschwankung an, beruhigte sich jedoch wieder, bevor er seine Drohung vollenden konnte. "Bitte, Kleines, würdest du einem alten Baum wohl einen Gefallen tun?"
"Sicher werde ich das. Sag mir, was ich tun soll", quietschte sie munter vor sich hin und setzte sich für einen Moment.
"Biber schuldet mir ... etwas, das mir sehr am Herzen liegt. Such ihn am Fluss auf und bringe es zu mir. Ich werde dich großzügig vergüten, Kleines!", kündigte er unangebracht zufrieden an.
Sie sprang auf, kehrte um und machte sich auf den Weg zum Fluss. Dort würde Biber bestimmt sein. Der Weg führte einen Hügel hinauf. Gerade, als sie den Fluss hätte sehen können, stolperte sie über Biber, der es sich im hohen Gras gemütlich gemacht hatte. Sie rollte hinunter bis zum Saum des Flusses. Ohne sich den Staub vom Kleid zu wischen, rannte sie zu Biber zurück und kniete sich neben ihn.
Dieser stocherte mit einem dünnen Ästchen in seinen Zähnen herum. Neben ihm lag ein toter Frosch im Gras. Dass Sie über ihn gestolpert war und sich hätte verletzen können, hatte ihn scheinbar nicht beeindruckt.
"Wo ist dein Damm, Biber?", fragte sie neugierig.
"Nirgends", antwortete er abrupt.
"Hast du keinen Damm, Biber?"
"Nein, wofür denn?"
"Bin mir nicht sicher. Ich weiß nur, dass Biber Dämme haben."
"Siehst du hier etwa noch weitere Biber, Kleines?"
"Nein. Wie auch immer. Baum hat mir aufgetragen, eine Lieferung abzuholen."
"Hat er das. Mal wieder. Seit Tagen schickt er mir diese Nachricht."
"Was ist nun, Biber?"
"Er wird seine Lieferung nicht bekommen und du auch nicht, Kleines."
"Wieso nicht? Es geht das Gerücht um, Baum hätte gute Beziehungen zu Bär. Hast du keine Angst vor seiner Wut?"
"Baum hat keine Beine. Bär gibt es nicht. Das weiß doch jeder hier im Wald."
"Wie auch immer, Biber. Ich brauche die Lieferung. Baum entlohnt mich gut dafür."
"Das wird er nicht, Kleines."
"Wieso denn nicht?"
"Er hat doch keine Beine."
Sie überlegte eine Weile und kam zu dem Schluss, dass Biber recht hatte.
"Aber sag, Biber, was schuldest du Baum?"
"Seine Ohren."
"Seine Ohren? Aber Baum hat doch kein Gesicht."
"Doch, hat er. Hast du es nicht gesehen?"
"Nein, leider nicht."
Sie erhob sich und machte sich auf den Rückweg, wurde aber ein letztes Mal von Biber unterbrochen:
"Kleines, wenn du Bär siehst, sag ihm, er hat sein Essen hier vergessen."
Sie nickte ihm zu. Er sah das zwar nicht, kümmerte sich aber auch nicht weiter darum.
Dieses Mal schlich sie sich an Baum heran, ohne dass er sie bemerken konnte. Sie sah dort kein Gesicht. Nur einen Stamm, Äste und Blätter.
"Ah, Kleines. Du hast meine Lieferung, bring sie zu mir", durchbrach seine knorrige, holzige Stimme die Stille.
"Woher weißt du, dass ich hier bin, Baum?", entgegnete sie entrüstet und erstaunt.
"Ich habe einen guten Informanten, Kleines. Er wohnt in den Gräsern des Waldes und in den Höhen der Berge. Nun komm zu mir."
Sie stand bereits ganz nah an Baum und wusste nicht, was sie tun sollte. Zumindest sein Gesicht wollte sie sehen. Er hatte ja schließlich keine Beine, was könnte er ihr schon tun?
"Kleines, nun komm schon hier herüber und gib sie mir", sprach er ungeduldig.
Erschrocken und verwirrt blickte sie sich um und lief zu Baum. Sie hatte ihn verwechselt, tatsächlich steckte er etwas entfernt im Boden und verbog sich ungeduldig. Er war ja nicht einmal ausgewachsen, ja, eher ein Steckling. Und tatsächlich: Ihm fehlten die Ohren. Seine Augen waren holzig, seine Haut war holzig. Überhaupt wurde er einem Baum ziemlich gerecht.
"Tut mir leid, ich habe deine Ohren nicht."
"Was? Du warst bei Biber, du musst meine Ohren haben."
"Nein, er hat sie mir nicht ausgehändigt. Tut mir leid! Ach! Ich soll Bär ausrichten, er habe sein Essen auf dem Hügel am Fluss vergessen."
"Werde ich weiterleiten, danke. Damit wäre ja alles geklärt."
Erleichtert lief sie los, um Biber von den Geschehnissen zu berichten. Dieser saß noch immer in der selben Pose, ein Bein über das andere gewinkelt, den Rücken bequem auf den Arm gelegt, mit dem Zahnstocher in der Hand im Gras, aber sie hätte schwören können, dass er älter aussah als bei ihrer letzten Begegnung.
Alles, was Biber antwortete, war: "Hättest du nur auf mich gehört, Kleines. Dann wären wir jetzt alle glücklich ... dann wären wir jetzt alle glücklich. Und nun verschwinde, Kleines, bevor Bär ankommt."
Sie war sich nicht sicher, in welche Richtung es weiterging, und beschloss, zurück zu Baum zu eilen und ihn um Rat zu fragen. Baum war pampig, aber hatte ja keine Beine. Außerdem war Baum verschwunden. Sie war sich sicher, am richtigen Ort zu stehen, doch er war einfach nicht mehr da.
Orientierungslos folgte sie dem einzigen Weg, den sie noch nicht begangen hatte, und wurde fündig. Ein Berg türmte sich vor ihr auf, und ein Briefkasten säumte den Weg. Jetzt wusste sie, wieso Biber die Ohren von Baum nicht aushändigen konnte. Aber gab es im Dorf einen Briefträger?
Sie bestieg den Gipfel und sah schon von weitem Adler auf dem Fels sitzen. Sie näherte sich, doch Adler schien sie auch nicht zu bemerken.
"Was machst du hier oben, Adler?", begann sie.
Adler erschreckte sich sichtlich, zuckte in die Höhe und drehte sich um.
"Was soll ich schon tun. Ich bin seit langem schon zu nichts mehr gut", antwortete er wehleidig.
Sie setzte sich neben ihn auf den kalten Fels und starrte in die weitläufige Ferne.
"Wieso so griesgrämig? Du bist der König der Lüfte. Es gibt nichts, das du fürchten musst."
"Woher willst du das wissen, Kleines? Siehst du hier etwa noch andere Vögel?"
"Nein, tu ich nicht. Aber nur zu jammern hilft nicht weiter."
"Ich habe allen Grund zu jammern, Kleines. Ich kann nicht fliegen."
"Das verstehe ich nicht."
"Es ist ganz einfach. Ich habe es nie gelernt. Ich habe alle Bewohner gefragt, doch niemand konnte mir zeigen, wie ich fliege. Alle erwarten von mir, dass ich fliege, doch ich kann es nicht. Deswegen bin ich traurig, Kleines."
"Das tut mir leid für dich, Adler, aber ich denke, ich kann es dir beibringen."
"Du? Kannst du denn fliegen?"
"Das nicht, aber ich kann es dir beibringen."
"Das wäre toll. Lass es uns tun."
Sie hob Adler auf und warf ihn mit aller Kraft, die Sie aufbringen konnte, in die Luft. Ein kräftiger Windstoß erfasste Adler und trug ihn über das Land. Erst über dem Fluss klang er ab und überließ Adler sich selbst. Sie konnte nur zusehen, wie er hinab in die Fluten segelte. Adler konnte nicht schwimmen, er hatte es schließlich nicht gelernt.
Hätte Biber doch wenigstens einen Damm gebaut, dann könnte Adler den Fluten entkommen. Hätte Baum seinen Freund Wind doch nur besänftigt, er wäre schonender mit Adler umgegangen.
Sie verließ den Gipfel des Berges und machte sich auf den Rückweg. Er kam ihr wesentlich länger vor als beim ersten Mal, doch schließlich kam sie zur bekannten Weggabelung. Ein unleserlich beschriebener Stein wies in Richtung Dorf. Was musste es dort noch alles zu sehen geben! Sie entschied sich dagegen, setzte sich auf den staubigen Boden und rastete für einen Moment.
Der Himmel riss auf und brach über die Welt herein. Er hüllte alle Bewohner ein und verschluckte sie vollends, bis niemand mehr übrigblieb. Sie hatte die Kugel fallen lassen. Sie war traurig, es war eine sehr schöne Kugel gewesen. Sie stand auf und setzte ihren Weg fort, ohne den Staub von ihrem Kleid zu wischen.